Unser Redaktions-Vorwort aus dem Jahr 2025
Dieses Buch aus 1932 (im amerikanischen original "German crises") hat mich fast genauso beeindruckt wie das Buch "Perl Harbor 1941" von George Morgenstern. Beide Amerikaner sehen sehr kritisch auf das Deutschland von 1914 bis 1945. Morgenstern mit seinen jüdischen Wurzeln bekam recht früh mit, was die Nazis mit Europas Juden gemacht hatten und in 1941 bis 1945 immer noch machen.
Der Journalist Knickerbocker hatte keinen erkennbaren Grund mit "den" Deutschen besonders gnädig oder aber zimperlich umzugehen und verließ Deutschland frühzeitig zum Ende 1932. Er "skizzierte" haargenau, was er in den Jahren zuvor in München und in Berlin erlebt und gesehen und gehört hatte. Weiterhin besuchte er eine Reihe deutscher Städte mit jeweils anderen speziellen Themen, die vor allem die Amerikaner interessierten.
Und er besuchte deutsche Politiker und inerviewte sogar auch Hitler, um sich ein detailliertes Bild zu machen. Am Ende wurden es 232 Seiten mit einer übersetzten deutschen Auflage von über 21 Tausend.
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Herausgegeben im März/April 1932 im ROWOHLT Verlag Berlin
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Herrn Knickerbocker's Vorwort aus 1932
Fünfzigtausend Bolschewisten haben die russische Revolution gemacht. In Deutschland gibt es schätzungsweise 6 Millionen Wähler der kommunistischen Partei. 200.000 Faschisten haben in Italien Mussolini zur Macht verholfen. Hinter der nationalsozialistischen Partei Adolf Hitlers in Deutschland stehen möglicherweise 12 Millionen Wähler. Wie lange kann das Leben der deutschen Republik dauern?
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Die Gewichtung des Welthandels in 1931
56% des Welthandels werden von Europa getätigt. Fast 51% von Europas Außenhandel liegen in den Händen Deutschlands. Eine Lähmung oder auch nur zeitweilige Unterbindung der deutschen Beteiligung an der Wirtschaftsmaschinerie der Welt würde in allen Ländern gefühlt werden.
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Von der "New York Evening Post" nach Germany gesendet
In diesem Winter, von dem der Kanzler Brüning erklärt hat, er werde der schwerste des letzten Jahrhunderts deutscher Geschichte sein, hat mich die New York Evening Post mit der Aufgabe nach Deutschland geschickt, das Reich im Automobil zu bereisen und genau zu studieren. Hinter der Fassade der offiziellen Erklärungen und fern von den Wegen der Touristen soll der Versuch gemacht werden, „hinter die deutsche Rauchwand" zu sehen.
Das unmittelbare Interesse jedes einzelnen amerikanischen Bürgers — jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes — an einer Beantwortung der Frage nach dem Geschick der Deutschen Republik und an allem, was sich aus dieser Frage ergibt, läßt sich auf rund 35 Dollar beziffern.
Von einem höheren Standpunkt aus gesehen, haben wir wie die ganze übrige Welt vielleicht ein Interesse, das viel zu groß ist, um in Dollars gemessen werden zu können. Denn es ist unvermeidlich, daß die Geschehnisse im Deutschen Reich sowohl politische und soziale wie auch wirtschaftliche Folgen für Deutschlands Nachbarn haben. Zufällig aber ist es möglich, das, was wir in kaltem Geld zu verlieren haben, wenn Deutschland „untergeht", mit ziemlicher Genauigkeit abzumessen, und diese Summe kommt dank einem merkwürdigen Zusammentreffen nahezu genau den jährlichen Gesamtausgaben unserer (amerikanischen) Bundesregierung gleich.
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Amerika Interesse an Deutschland - eine andere Sichtweise
Etwa 4 Milliarden Dollar stehen insgesamt für Amerika in Deutschland auf dem Spiel; diese Summe ist mehr als 1%unseres Nationalvermögens, sie entspricht 5% unseres Nationaleinkommens und überschreitet bei weitem alles, das wir in irgendeinem anderen fremden Land mit Ausnahme Kanadas investiert haben.
Auf die 122 Millionen unserer Bevölkerung aufgeteilt, ergibt dieser Betrag, daß jede dreiköpfige amerikanische Familie ein Interesse von 100 Dollar in Deutschland hat.
Amerika allein ist mit 38% an der Gesamtheit direkter ausländischer Investitionen in Deutschland beteiligt und hat infolgedessen ein größeres Interesse an der Erhaltung des Privatkapitalismus im Deutschen Reich als alle anderen Länder der Welt mit Ausnahme von Deutschland selbst.
Mögliche direkte und indirekte Verluste der Amerikaner
4 Milliarden Dollar: diese Summe ist bedeutend höher als die meisten üblichen Schätzungen von Amerikas Interessen in Deutschland angeben. Wie dieser gewaltige Betrag errechnet wird, soll in einem anderen Artikel auseinandergesetzt werden.
Hier genügt es, zu sagen, daß diese Summe eher zu niedrig als zu hoch geschätzt ist, daß sie weit unter der Summe der indirekten Verluste liegt, zu denen ein deutscher „Zusammenbruch" führen würde, und daß offensichtlich kein Amerikaner gleichgültig gegen das Schicksal eines Landes sein kann, in dem die Vereinigten Staaten, sei es zum Guten, sei es zum Schlechten, so viel aufs Spiel gesetzt haben. Der Verlust dieser Beträge würde die Bilanz auch des reichsten Landes schwer belasten.
Offenbar wäre der Verlust dieser und anderer ausländischer Kapitalanlagen, die direkt und indirekt mit Deutschlands Stabilität verknüpft sind, unvermeidlich, wenn das Reich in einen lange dauernden Bürgerkrieg getrieben werden oder das System des Privatkapitalismus aufgeben und sowohl seine privaten wie seine öffentlichen Schulden nicht anerkennen sollte.
Dazu würde es ganz entschieden unter dem Kommunismus kommen; unter anderen Regierungsformen wäre es möglich; unter der Republik ist es ausgeschlossen.
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14 Jahre nach dem Ende des Weltkriegs
Heute, zu Beginn des vierzehnten Jahres der Republik (Anmerkung : nach 1918), scheint ihre Stabilität ernster bedroht denn je zuvor. Aus den Wahlstatistiken läßt sich schließen, daß bedeutend mehr als die Hälfte des deutschen Volkes gegen die bürgerliche Republik ist.
Die Stärke der Streitkräfte Hitlers ("Streitkräfte" ist ungeschickt übersetzt, besser wäre "Anhänger") der Streitkräfte des deutschen Faschismus, nähert sich den in der Demokratie entscheidenden 51%.
Gegen ihn, aber ebensosehr gegen die bürgerliche Republik, kämpfen die Streitkräfte des deutschen Kommunismus, die sich gleichfalls, wenn auch in weniger raschem Tempo, ständig vermehren.
Die beiden entschieden extremen Parteien haben mehr als die Hälfte der Bevölkerung für sich (hinter sich), wenn die Ergebnisse der örtlichen Abstimmungen sich für das Reich anwenden lassen.
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Eine Hypothese : Ein "Hitlermann" auf dem Präsidentenstuhl ?
Ein Hitlermann auf dem Präsidentenstuhl würde bedeuten, daß Hitler schließlich das gesamte Reich beherrscht.
Nach den Ergebnissen der Statistiken und nach den Gesetzen der Demokratie müßte Hitler siegen. Aber die Gesetze der Demokratie setzen voraus, daß alle Wähler, oder zumindest ihre Mehrheit, demokratisch sind und sich der Herrschaft der Mehrheit fügen werden.
Hitler hat versprochen, die Macht nur mit legalen Mitteln zu ergreifen. Er hat jedoch nicht versprochen, daß er abdanken wird, wenn aus seiner Mehrheit eine Minderheit wird.
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Eine böse Vorahnung des Autors - in 1932 !!!
Er hat im Gegenteil versprochen, die Demokratie und das parlamentarische Regierungssystem abzuschaffen, sobald eine demokratische Wahl die Instrumente der Macht in seine Hände gelegt hat.
Vor diese Aussicht gestellt, können die augenblicklichen Beherrscher des Deutschen Reiches und Preußens zur Entscheidung gezwungen werden, ob es um der Sache der Demokratie willen für die Demokraten besser ist, eine Diktatur zu errichten oder die Macht in die Hände eines faschistischen Diktators zu legen, der offen verkündet, daß er sie niemals zurückgeben wird.
In beiden Fällen ist ein Bürgerkrieg durchaus denkbar.
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Fagen über Fragen - in 1932
Ist der Bürgerkrieg aber wirklich wahrscheinlich? Wird Hitler überhaupt zur Macht kommen? Was wird der Hitlerismus für die Wirtschaft und die Politik der Welt bedeuten? Wird der Kommunismus der wahrscheinliche Nachfolger des Faschismus sein?
Das sind Fragen, welche die ganze Umwelt angehen müssen, denn von ihrer Beantwortung hängt die Antwort auf die spezielleren Fragen ab:
Kann Deutschland Reparationen zahlen? Wird es das tun? Kann Deutschland seine Privatverpflichtungen einlösen? Wird es das tun? Und für Amerika erhebt sich noch eine Frage, die von ganz besonderer Wichtigkeit für Deutschlands Hauptgläubiger ist: Was hat Deutschland mit unserem Geld angefangen?
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Die "New York Evening Post" hat einen Augenzeugen nach Deutschland geschickt, mich ........
Nicht um sich eine systematische Beantwortung dieser Fragen vorzusetzen, sondern um, so weit und so gut das möglich ist, das nötige Material zur Bildung eines vernünftigen Urteils zusammenzutragen, das diese Beantwortung ermöglicht, hat es die New York Evening Post unternommen, Deutschland von einem Augenzeugen bereisen zu lassen.
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Die Meinungsbildung - Über die Stimmung der Deutschen
Statistiken sagen niemals etwas Genaues über die Stimmung eines Volkes aus, und die Stimmung der Deutschen ist ein überaus wichtiger Faktor in diesem Problem.
In Berlin und außerhalb von Berlin, auf dem Lande, in den Fabriken, Bergwerken und Dörfern, von der Nordsee bis zum Rhein, in ganz Mittel-, Süd- und Westdeutschland sollen diese Antworten gesucht werden.
Ohne jede Voreingenommenheit darf man jetzt die Ansicht äußern, Deutschland sei industriell die stärkste Macht in Europa, finanziell die unsicherste, politisch die zerrissenste, und in sozialer Hinsicht ein Pulverfaß, in das jeden Augenblick der Funke fahren kann.
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Wie arm ist Deutschland ?
Das ist vielleicht die allerwichtigste Frage. Wieviel an seiner Armut, dem Vorwand oder der Ursache für die Einstellung der Reparationszahlungen, ist Tatsache und wieviel daran ist Mache (oder Wunschdenken)?
Für diese Untersuchung der Lage Deutschlands ließe sich kein besserer Anfang machen als ein Besuch bei den Ärmsten der Armen im roten Herzen der rötesten Stadt Deutschlands, ein Besuch in den Barrikadenstraßen, in dem deutschen Faubourg St. Antoine.
Diesem berühmten Pariser Faubourg entstieg die französische Revolution. Aus seinen Kellern strömte der Pöbel, der die Bastille stürmte, die Königsfamilie erschlug und Europa in Brand setzte.
Aus dem Wedding, dem dichtest besiedelten Arbeiterdistrikt Berlins, kamen die Schüsse, die den 1. Mai des Jahres 1929 zu einem blutigen Posten mehr auf dem Konto ihrer Abrechnung machten, und aus dem Wedding kamen im September 1930 die Stimmen, durch die Berlin zur stärksten Kommunistenstadt der Welt nach Moskau wurde.
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Berlin - die "röteste" Stadt außerhalb Rußlands
Wieviele Amerikaner, die Berlin besuchen, diese Stadt mit ihren strahlend erleuchteten Straßen, mit ihren Theatern und Vergnügungslokalen, die die Pariser Etablissements in den Schatten stellen, machen sich klar, daß eben dieses Berlin mit dem solid bürgerlichen Gesicht die röteste Stadt außerhalb Rußlands ist?
Und nicht bloß sozialistisch rot, sondern revolutionär-kommunistisch rot, mit der kommunistischen Partei als der stärksten der Stadt.
Als die Bolschewisten Rußland eroberten, hatten sie in dem ganzen Riesenreich ungefähr ein Vierzehntel der Anhänger, die die Kommunisten heute in Berlin allein zählen.
Bei den Reichstagswahlen im September 1930 gewann die kommunistische Partei in Berlin 739.235 von den insgesamt abgegebenen 2.709.257 Stimmen. Sie schlugen zum ersten Male die Sozialdemokraten, die 738.094 Stimmen bekamen.
Unparteiische rechnen damit, daß die Berliner Kommunisten heute bei einer Wahl rund 1 Million Stimmen auf sich ziehen würden, aber auf jeden Fall haben die beiden „marxistischen" Parteien mehr als die Hälfte der Stimmen der Hauptstadt von Deutschland für sich.
Von diesen Stimmen gab der Bezirk Wedding allein den Kommunisten fast 100.000 ab. Und wenn Wedding der "röteste" Teil Berlins ist, so ist die Kösliner Straße die "röteste" im Wedding. In der Kösliner Straße wurden in der Nacht zum 1. Mai 1929 die Barrikaden errichtet. Und in die Kösliner Straße ging ich, in die Lumpen eines Obdachlosen gekleidet, um die Frage: „Wie groß ist Deutschlands Armut?" zu ergründen.
Deutschland SO ODER SO ?
von H. R. Knickerbocker - 1932 ROWOHLT Berlin
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