Sie sind hier : Startseite →  Historie und Geschichte→  Über die "Wahrheit"→  1932 "Deutschland So oder So"→  1932 "Deutschland So oder So" 02

Das Buch "German crisis" - "Deutschland so oder so" aus 1932

Dieses Buch aus dem Frühjahr 1932 !!! enthält ganz viele Gedanken und Wahrheiten aus der Zeit vor der Machtübernahme Adolf Hitlers im März 1933. Der amerikanische Autor bereiste bereits während seines Studiums viele Orte in Deutschland und Europa und beschrieb sehr viele teils unbekannte Zustände der damaligen Gesellschaft. Und er belegt seine Schlussfolgerungen mit fundierten Daten. - Solllten Sie hier direkt eingelandet sein, beginnen Sie besser auf dieser einführenden Seite. Ganz viele zusammengesuchte Erklärungen und Ergänzungen haben wir auf dieser Erklärungs-Seite eingebracht, Informationen, die das Buch selbst nicht bietet, die aber zum Verstehen der einzelnen Kapitel wichtig sind.

.

Zweites Kapitel - FALKENSTEIN

.

FALKENSTEIN (im Vogtland)

Gebete steigen aus dem Hinterzimmer der Textilfabrik auf. Es ist Mittag, die Arbeiter beten um Hilfe.

Von den Betsälen an zehn, zwölf verschiedenen Enden Falkensteins steigen Gebete auf. Es ist Abend, die Arbeitslosen des „roten" Falkenstein liegen auf den Knien. Das „rote" Falkenstein hat Marx verlassen und sich Gott zugewandt.

Diese Gemeinde von 15.ooo Seelen ist jetzt, in dem „härtesten Winter seit hundert Jahren", wahrscheinlich nicht der einzige überzeugende Beweis für das allgemeine Elend in Deutschland.

Auf jeden Fall aber hatte mir der Leiter des Berlin-Neuköllner Arbeitsamtes gesagt, daß Falkenstein, soviel er wisse, von allen Städten in Deutschland den höchsten Prozentsatz an Arbeitslosigkeit und Elend aufweise.

Hier an Ort und Stelle hat man wirklich den Eindruck, daß Deutschland in seiner ganzen unruhigen Nachkriegsgeschichte keinen ergreifenderen Beweis für die allgemeine Verwirrung liefern kann als diese „Flucht in die Religion" in dem ehemals revolutionären Falkenstein.

Das Elend und die Verwirrung sind hier besonders kraß und vielleicht nicht typisch, aber bei dem schwierigen Unternehmen, die wahre Verfassung und den wirklichen Geisteszustand eines Volkes von 60 Millionen Menschen zu erforschen, können die Extreme einem dazu verhelfen, sich ein Bild vom Ganzen zu machen.

Über die „Flucht in die Religion" im „sächsischen Sibirien"

Bankierausschüsse, welche die „Flucht von der Mark" untersuchen, sind noch nicht nach Falkenstein gekommen, aber die „Flucht in die Religion" ist vielleicht als Wirtschaftsindikator nicht weniger beachtenswert.

Alle Deutschen und viele Ausländer kennen das bergige Wintersportland, das „Sächsische Schweiz" heißt. Nur wenige Deutsche, die nicht dort wohnen, - und anscheinend kein Ausländer weiß etwas vom „sächsischen Sibirien", der Gegend der Textil- und Spitzenfabriken, der Armut und der Gebete. Der Name ist keine phantasiereiche Erfindung.

Dieses traurige Gebiet von ungefähr 1.300qkm umfaßt etliche Gemeinden von der Art Falkensteins und hat eine Gesamtbevölkerung von 1oo.ooo Menschen, aber Falkenstein kann besondere Beachtung beanspruchen.
.

Der kommunistische Aufstand 1920

Hier rief im Jahre 1920 die Bevölkerung, in der einen Hand die rote Flagge, in der anderen die Brandfackel, eine kommunistische Regierung aus und äscherte die Villen der reichen Bürger ein.

In Falkenstein organisierte Max Hoelz, der bekannte rote Insurgent, den kommunistischen Konterputsch, der das Ziel hatte, die Umsturzbestrebungen des reaktionären Wolfgang Kapp zu vereiteln.

Vier Wochen lang herrschten die Roten in Sachsen, bis bayerische Reichswehr das Land überschwemmte. Hoelz wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt; sein Fall wurde eine cause celebre (Anmerkung : Ein merkwürdiger Rechtsfall). Nach seiner Amnestierung ging er nach Rußland. (Anmerkung : und wurde dort vermutlich vom Geheimdienst Stalins (der GPU = Geheimpolizei der Sowjetunion) ermordet.)
.

Von 15.ooo Einwohnern sind 7.500 arbeitslos

Im Jahre 1932 hat die Bevölkerung hier in der einen Hand die Bibel und in der anderen den Arbeitslosenausweis. Die meisten der wiederaufgebauten Villen stehen zum Verkauf. Einige von ihren Besitzern leben jetzt von öffentlichen Almosen. Die Hälfte der Spitzen- und Textilf abriken ist geschlossen. Die andere Hälfte arbeitet nur an drei Tagen in der Woche.

Von den 15.ooo Einwohnern sind 7.500 arbeitslos oder von Arbeitslosen abhängig und leben auf Gemeindekosten. Von der anderen Hälfte der Bevölkerung sind 2.5oo noch beschäftigt und leben mit ihren Familien von einem Wocheneinkommen, das im Durchschnitt 2 bis 4 Mark über der Unterstützung liegt.

Max Hoelz ist nicht vergessen

Doch seine früheren Genossen schicken jetzt ihre Kinder in die Sonntagsschule. „Die Religion", hat Lenin erklärt, „ist Opium für das Volk", aber in Falkenstein ist es mit den „Arbeiterräten" vorbei. Heute hat es Betsäle.

Wir kamen an einem Samstagabend bei Schneewetter an. Das Hotel war geöffnet, aber wir waren die einzigen Gäste.
.

Ein Hotel, die einzigen Gäste und kein Zimmer geheizt

In dem ganzen Haus war nicht ein Schlafzimmer geheizt. In den kalten Straßen draußen waren einige schwach erleuchtete Läden zu sehen, die noch nicht geschlossen waren, aber sie hatten keine Kunden.

Auch die Bierlokale waren offen; überall waren fünf bis sechs Leute, die den ganzen Abend über bei dem kleinsten Glas Bier saßen, das es gab.
.

Die Betsäle waren offen, Hunderte beteten.

Im trüben Licht des Sonntagmorgens bewegten sich Reihen grauer Gestalten durch die Straßen. Sie marschierten zu dem „Bethaus der Betlehemgemeinde", zur „Evangelischen Bibelgemeinschaft", zur „Unverfälschten Augsburger Gemeinde", zu den „Neuen Aposteln", den „Adventisten", zur „Landeskirchengemeinschaft", zu den „Bibelforschern", den „Evangelischen Bibelgläubigen", zu der regulären lutherischen Kirche und zu den Methodisten.

Manche von diesen Kirchen existierten schon, ehe die Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit den Falkensteinern das Jenseits um so viel verlockender erscheinen ließ als das Diesseits.

Die meisten jedoch entstanden in den letzten schweren Jahren. Wir schlossen uns den Methodisten an, die auf dem Weg zur „Zionskirche" waren.
.

Es war kalt.

Schnee und Regen schlug den Brüdern der Gemeinde ins Gesicht. Es war neun Uhr morgens, der Tag hätte sich trefflich zum Schlafen geeignet. Aber Falkenstein ist, wie in seiner Revolution, auch in seiner Religion radikal. Die Frommen stehen früh auf. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt.

Fünfhundert lauschten den Worten des Predigers: „Was ist mit einer Welt, in der ihr euch nicht kleiden könnt, obwohl Millionen Ballen Baumwolle und hunderttausende Tonnen Wolle vernichtet werden?" Die Gemeinde faßte nach ihren eigenen fadenscheinigen Jacken.

„Was ist mit einer Welt, in der ihr hungert, während Millionen Tonnen Getreide vernichtet werden?" Die Gemeinde schluckte. „Es ist an dem", beantwortete er seine Fragen selbst, „die Welt hat Gott vergessen."

Die Gemeinde nickte. „Wie lange wird das währen? Wir wissen es nicht", rief er. Die Gemeinde stöhnte leise auf. „Wenn schon im Reichstag gesagt wird, daß wir unmittelbar vor dem völligen Zusammenbruch stehen, dann muß das etwas bedeuten." Die Gemeinde schauderte.

„Aber", schloß der Prediger, „das gilt nicht nur für Deutschland. In der ganzen Welt ist es so, und Gott straft uns alle."

„Die Franzosen nicht", murrte ein Mann mit finsterem Gesicht neben mir.
.

Die Sonntagsschule und fünfhundert Kinder

Um elf Uhr begann die Sonntagsschule, und die Kirche füllte sich mit fünfhundert Kindern. Sie waren nicht in Lumpen gekleidet, sie sahen gut aus. Von außen merkt man Falkenstein sein Elend überhaupt nicht an. Die Straßen sind sauber.

Die Arbeitslosen achten auf nettes Aussehen, wenn sie aus dem Haus gehen. Kein Volk der Welt legt mehr Gewicht auf „Fassade" als die Deutschen. Doch wir folgten einer Gruppe sauber gekleideter Kinder in ihre Wohnung.

Sie traten in ein Haus, das der lutherischen Kirche gegenüber lag. Die Front des Gebäudes hatte nichts Ungewöhnliches, deutete mit nichts auf Armut hin. Wir gingen den Kindern durch eiskalte Flure nach, die feucht waren und nach nasser schmutziger Wäsche rochen.

Mit unserem Führer vom Falkensteiner Arbeitsamt, der die Familie kannte, traten wir ein.

Ein Bauarbeiter - bereits 2 Jahre arbeitslos

Das Haupt des Haushaltes, ein Bauarbeiter, saß in der Küche, dem einzigen geheizten der drei Räume, und ließ die Augen nicht von dem Topf auf dem Feuer. Das war, wie seine Frau mit einiger Bitterkeit erklärte, nun schon seit zwei Jahren - so lange hatte er keine Arbeit - seine einzige Beschäftigung.

Es gibt in Deutschland 5 Millionen Arbeitslose, aber ihre Frauen sind nicht arbeitslos und haben auch keinen Acht-Stunden-Tag. Am schwersten arbeiten hier die Frauen der Arbeitslosen; Tag für Tag müssen sie sechzehn Stunden lang, um aus der Unterstützung herauszuholen, was herauszuholen ist, sparen, zusammenkratzen, stopfen und waschen.

Die Sitte ist hart wie Eisen; in Deutschland verlangt sie, daß der Mann keine Hausarbeit tut. Wenn er beschäftigungslos ist, brütet er vor sich hin. Die Frau rackert sich ab.
.

Der Topf - die Mahlzeit bestand aus Teigstücken

Der Topf enthielt Essen für den Mann, die Frau und die fünf Kinder. Die Mahlzeit bestand aus Teigstücken, mit denen so etwas ähnliches wie eine Teigsuppe gekocht wurde. Das war alles für das sonntägliche Mittagessen. Das sechste Kind, das vier Monate alt war, lag in der Wiege. Die Mutter, eine sechsunddreißig jährige, verbrauchte hagere Frau, ging schwanger.

Die Kinder legten ihre guten Ausgehkleider ab; die Mutter hob sie bis zum nächsten Sonntag auf. Was sie zuhause trugen, war zerlumpt. Sie setzten sich mit großem Appetit nieder, um die Teigsuppe zu essen, und als ich ihre runden roten Backen sah, mußte ich an Rußland (Anmerkung : Knickerbocker war mehrfach in Russland.) denken.

Dort sind Brot und Kartoffeln gleichfalls für viele die einzige Nahrung, aber auch dort sieht man den Kindern nichts von Unterernährung an. Die medizinische Statistik bekundet vielleicht etwas ganz anderes, aber das Aussehen einer Bevölkerung, die von Brot und Kartoffeln lebt, ist für den Laien nur schwer von dem einer Bevölkerung zu unterscheiden, die von mehr als genug Fleisch, Eiern und Milch lebt.

Und jetzt zu einer der interessantesten Fragen

In dieser ungewöhnlichen Zeit, in der etliche zehn Millionen Arbeitslose in den großen Zentren der abendländischen Zivilisation weniger Nahrung haben als früher, ist es eine der interessantesten Fragen, bis zu welchen Grenzen die Ernährung verringert werden kann, ohne daß ernsthafter Schaden angerichtet wird.

Obwohl Zufallsbeispiele kein wissenschaftliches Kriterium liefern können, ist es bemerkenswert, daß der Juniorenmeister der Ringer von Falkenstein, ein kräftiger junger Mensch von 19 Jahren, der seit zwei Jahren arbeitslos ist, in diesen beiden Jahren fast ausschließlich von Brot und Kartoffeln gelebt hat und immer noch alle anderen jungen Leute in der Stadt bezwingen kann; und daß der Kapitän der Falkensteiner Fußballmannschaft, ein Meister in seinem anstrengenden Spiel, der 22 Jahre alt ist, seit drei Jahren keine Arbeit hat und seitdem gleichfalls fast nur von Brot und Kartoffeln lebt. Am Sonntagnachmittag zeichnete er sich in einem Spiel gegen Auerbach aus.
.

Die Vorzüge einer knappen und einfachen Diät ???

Die Vorzüge einer knappen und einfachen Diät erwiesen sich bei den Amsterdamer olympischen Spielen, wo die Finnen, ein Zwei-Millionen-Volk, sich im Kampf gegen Nationen, die eine zwanzigfache Bevölkerungszahl haben, den dritten Platz eroberten.

Die Finnen gewannen nahezu jedes Rennen, das sie antraten. Wir verloren alle außer einem, obwohl unsere Läufer Rekordleute waren.

Amerikanische Trainer stellten das finnische Menü, „mageres Rindfleisch mit Kartoffeln", dem der „S. S. Roosevelt" (Anmerkung : amerikanisches Dampfschiff, 1905 für Robert Pearys Polarexpedition gebaut) gegenüber, das so lang war, daß es in einer Zeitungsspalte nicht Platz fand.

Die chinesischen Kulis erreichen ihre Wunderleistungen im Dauerlauf mit einer Reisdiät, die einen Europäer davon überzeugen würde, er sei zum Verhungern verurteilt.
.

Die 15 Millionen Arbeitslosen Deutschlands hungern

Die Arbeitslosen Deutschlands, die mit ihren Familien 15 Millionen zählen, haben so wenig Geld für ihre Ernährung, daß sie, im Durchschnitt, hungern müssen.

Subjektiv tun das viele sicherlich. Objektiv muß mindestens ein Teil unterernährt sein. Einem einzelnen Beobachter ist es unmöglich, mehr als einen kleinen Bruchteil dieser 15 Millionen zu sehen.

Aber das verhältnismäßig gesunde Aussehen, der bisweilen erstaunlich gute Gesundheitszustand mancher von ihnen, wie der Falkensteiner Sportleute, stützt die Annahme, daß die meisten Menschen in wohlhabenden Ländern in normalen Zeiten zu ihrem Vergnügen essen, und nicht, um körperliche Bedürfnisse zu befriedigen, denen man mit viel einfacheren und frugaleren Mitteln gerecht werden könnte.

... seit einer Woche das erste Fleisch ....

Bei einem Frühstück in unserem Hotel machte der Falkensteiner Fußballkapitän Sander, ein hübscher, gut gewachsener Junge, zwischen zwei Bissen Schinken halt und erklärte: „Ich würde gern noch mehr essen, aber ich brauche es wohl eigentlich nicht."

Der Schinken, so sagte er, sei seit einer Woche das erste Fleisch, das er esse. „Aber er ist der beste Stürmer im Vogtland", rief einer seiner Mitspieler aus.

Sander schilderte das Budget seiner Eltern: Vater arbeitslos, 11 Mark Unterstützung; Bruder arbeitslos, 4 Mark 5o Unterstützung; Schwester, in einer Fabrik beschäftigt, 8 Mark Lohn; er selbst arbeitslos, 4 Mark 5o Unterstützung - zusammen wöchentlich 28 Mark für eine aus fünf Erwachsenen bestehende Familie.

Ihre Ausgaben für die Ernährung beliefen sich für die ganze Familie, wie er versicherte, auf nicht ganz 17 Mark, für jeden einzelnen nicht ganz 3 Mark 4o. Praktisch ernährten sie sich ausschließlich von Brot und Kartoffeln. Dabei war es noch ein Glück, daß sie die Schwester hatten, die beschäftigt war.
.

Eine Familie mit acht Personen

Die Familie, die wir nach der Sonntagsschule aufsuchten, empfängt für acht Personen eine Unterstützung von 23 Mark in der Woche. 3 Mark, erzählte die Mutter, verschlinge die, übrigens besonders verbilligte Miete, weitere 3 Mark seien für die Beheizung nötig, 4 Mark für Bekleidung und andere Notwendigkeiten, zur Ernährung von acht Personen blieben also wöchentlich 13 Mark übrig.

Zu den Nahrungsmitteln, die für diese Geldsumme zu erwerben sind, kommen an jedem der sechs Wochentage drei Portionen Suppe, die gratis von der Volksküche zur Verfügung gestellt werden, einem aus privaten Mitteln unterhaltenen Wohlfahrtsunternehmen, das täglich 4oo Portionen Suppe verteilt, teils umsonst, teils zu 10, und teils zu 3o Pfennigen den Teller, je nach den Verhältnissen der Empfänger.

Vielleicht essen wir wirklich im allgemeinen zu viel; es läßt sich tatsächlich nicht leugnen, daß die Kinder keineswegs unterernährt aussahen - das kann jedoch nichts daran ändern, daß sie, als sie ihre Teigsuppe aufgegessen hatten, mehr verlangten. Es war nichts mehr da.
.

Auf der anderen Seite des Flurs

Auf der anderen Seite des Flurs wohnte die Familie eines anderen Arbeitslosen, die mein Bild von der Lage der Stellungslosen um noch einige traurige Züge vermehrte. Eines der sechs Kinder war tuberkulös, mußte aber nichtsdestoweniger zusammen mit den anderen sieben Familienmitgliedern in dem einzigen Schlafraum schlafen.

Das Interessanteste war jedoch, daß die Mutter im selbstverständlichsten Ton der Welt davon sprach, daß diese sechs alles seien, was von neunzehn Kindern übriggeblieben wäre. Dreizehn waren im frühesten Alter gestorben.

Aus der hundert Meter entfernten lutherischen „Heiligen Kreuzkirche" war Musik zu hören. Wir sahen hinein. Nicht weniger als tausend Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren waren dort versammelt.

Die Kirche im Aufwind

„Wir haben ein außerordentliches Wiederaufleben des allgemeinen Interesses für die Kirche zu verzeichnen", erzählte mir der Pastor. „Das Elend dieser Gemeinde läßt sich gar nicht schildern, es ist ärger, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Gleichzeitig muß ich konstatieren, daß ich noch niemals eine derartige Teilnahme an unseren Gottesdiensten erlebt habe, und die Zusammenhänge sind mir auch durchaus nicht unklar. Vor einer Woche hatten wir eine Sonderandacht, und für die zweitausendzweihundert Menschen, die kamen, mußten wir den größten Saal der Stadt mieten. In unserer Sonntagsschule haben wir eine reguläre Mindestteilnahme von tausend Kindern."

Die Religionsverhältnisse in der Stadt Falkenstein

Als Pastor der offiziellen lutherischen Kirche war er genau
über die Religionsverhältnisse in der Stadt orientiert. Von den 15.ooo Einwohnern sind seiner Aussage nach 13.ooo Anhänger der lutherischen Kirche. Es bleiben also 2.000 übrig, und wenn die Schätzung des Pastors, daß die anderen Sekten und Bekenntnisse 1.5oo Seelen zählen, richtig ist, kann es nicht viele Kommunisten, erklärte Kirchenfeinde, geben.

Bedenkt man, daß in Deutschland nur diejenigen, die formell ihren Austritt aus der Kirche erklären, nicht zur Zahlung von Kirchensteuern gezwungen sind, so kann man die Bedeutung dieser Zahlen ermessen: in Falkenstein, wo bei der letzten Wahl nahezu 4.ooo kommunistische Stimmen verzeichnet wurden, haben nur sehr wenige Kommunisten formell ihren Austritt aus der Kirche erklärt, obwohl der Nichtaustritt für sie heißt, daß sie Kirchensteuern zahlen müßten, wenn sie Beschäftigung hätten und ein gewisses Minimaleinkommen bezögen.

In Rußland werden Kommunisten, die auch nur das geringste mit der Kirche zu tun haben, aus der Partei ausgeschlossen. Kommunisten, die ihre Namen in den Kirchenregistern stehen lassen und ihre Kinder in die Sonntagsschule schicken, sind in den Augen Moskaus nicht die Leute, mit denen eine Revolution zu machen ist.

Die Falkensteiner „Freidenkergesellschaft"

Ein Mitglied der Falkensteiner „Freidenkergesellschaft", einer Organisation entschlossener, bewußter „Gottloser", erzählte mir in bedauerndem Ton, daß die Gesellschaft im Jahre 1928 noch zweihundertfünfzig Mitglieder gezählt habe, daß von diesen Getreuen aber in den letzten vier Jahren der Wirtschaftsnot fünfzig den Lockungen der Religion nachgegeben hätten.

Dieser ernste Skeptiker räumte ein, daß eine verzweifelte wirtschaftliche Notlage bisweilen auch andere Folgen als eine Revolution haben könne. Er nannte mir die Unterstützungen und Löhne, die in Falkenstein gezahlt werden.
.

Details über die Unterstützungen und Löhne

In der ersten Klasse der Arbeitslosenversicherung gibt es 800 Unterstützungsempfänger. Jede Familie, Mann, Frau und Kind, erhält durchschnittlich 14,5o Mark in der Woche.

In der zweiten und dritten Klasse gibt es 2.200 Unterstützungsempfänger; jede Familie, wiederum Mann, Frau und Kind, erhält durchschnittlich 11,5o Mark in der Woche.

600 Arbeitslosen ist durch die letzten Regierungsverordnungen mit der Begründung, daß ihre nächsten Verwandten Geld genug verdienen, um für sie zu sorgen, die Unterstützung
entzogen worden. Ungefähr 4oo Kurzarbeiter erhalten Unterstützungsbeihilfe. Die restlichen 2.5oo Arbeiter, die in den Spitzen- und Textilfabriken beschäftigt sind, haben Akkordlohn und verdienen durchschnittlich 25 Mark in der Woche.

Falkenstein, das sich nie eines besonderen Wohlstandes erfreute, hatte noch im Jahre 1925 nicht mehr als 324 Arbeitslose. Die jetzige Ziffer, die zehnmal so groß ist, wurde erst im Herbst 1930 erreicht. Alle diese Zahlen stammen von einem Beamten des Arbeitsamtes.

Kalkulation der Arbeitslosenunterstützungssteuer der Gemeinde

Was für eine schwere Bürde ein so hoher Grad von Arbeitslosigkeit der Gemeinde auferlegt, läßt sich daran ermessen, daß bei einer Minimalunterstützung von 11 Mark auf den Kopf die Gesamtausgaben der öffentlichen Hand zur Erhaltung der Arbeitslosen in diesem kleinen Städtchen mit 15.000 Einwohnern mindestens 37.800 Mark in der Woche - d. h. 1.965.600 Mark im Jahr betragen.

Wenn diese Last ausschließlich von den Arbeitern in der Gemeinde, die noch beschäftigt sind, zu tragen wäre, so würde das jährlich für jeden einzelnen von diesen eine Arbeitslosenunterstützungssteuer von etwa 785 Mark ergeben - eine Summe, die beim augenblicklichen Lohnstand einem Einkommen von dreißig Wochen entspräche.

Wo aber kommt nun das Geld her?

Zum größten Teil stammt es aus zwei Quellen: dem Geld, das dadurch eingespart wird, daß in Falkenstein Löhne gezahlt werden, die kaum größer sind als die Unterstützung, und den Steuern, welche die glücklicher situierte Oberschicht der Steuerzahler "im ganzen Reich" !! leistet.

Die Stimmenzahl der Kommunisten in Falkenstein weist darauf hin, daß die beschäftigten Arbeiter gegen die ihnen auferlegte Last protestieren. Die Stimmenzahl der Nationalsozialisten im ganzen Reich drückt den Protest der Steuerzahler gegen die ihnen auferlegten Lasten aus. Doch Falkenstein zwingt zur Frage, was aus den Arbeitslosen werden soll, wenn diese Steuern nicht gezahlt werden.

Die Familien und Freunde der Stellungslosen haben ganz gewiß keine sichtbaren Reserven. Da wir bei uns in Amerika sehr große Reserven haben, fällt es uns schwer, klar zu erkennen, daß es in Deutschland viele Gemeinden von der Art Falkensteins gibt, in denen bei den Arbeitern keinerlei Reserven existieren, die Löhne der noch Beschäftigten so niedrig sind und ihre Anzahl überdies so klein ist, daß es für sie eine physische Unmöglichkeit bedeutet, ihre beschäftigungslosen Kollegen direkt zu unterstützen.
.

Keinerlei gesetzlichen Zwang zur Sonntagsheiligung

Aber auch Falkenstein lebt nicht nur von Teigsuppe und Trübseligkeit. Im „Anzeiger und Tageblatt" standen vier groß aufgemachte Inserate von Lokalen, in denen am Sonntagnachmittag getanzt wird.

Trotz der Frömmigkeit, die in der Stadt herrscht, gibt es keinerlei gesetzlichen Zwang zur Sonntagsheiligung. Er wäre auch überflüssig. In dem großen, mit Papiergirlanden geschmückten Bierlokal drehten sich sechs Paare feierlich zur Begräbnismusik der aus vier Mann bestehenden Kapelle.

Die vier Musikanten waren niedergedrückt, weil nicht mehr als sechs Paare tanzten; die Tanzenden waren schon von sich aus niedergedrückt. Sie gingen zu ihren Tischen zurück und starrten düster in die Biergläser.

Sechs Paare tanzten am Sonntagnachmittag im Wirtshaus, aber zu der Abendandacht in der Zionskirche begaben sich 800 Männer und Frauen. Mehr Menschen, als da waren, hätte die Kirche nicht fassen können. Von acht bis zehn Uhr erzählte die dort versammelte Gemeinde, einer nach dem anderen, wie der Glaube ihnen über ein, zwei, drei Jahre der Arbeitslosigkeit hinweggeholfen hätte.

Trotzdem sind diese Gläubigen noch immer stellungslos. Das einst rote, jetzt fromme Falkenstein ist vielleicht nicht mehr als eine Episode, aber an ihm war mehr noch als an allen anderen Phänomenen im Reich zu erkennen, welche Bedeutung der Arbeitslosigkeit als dem wichtigsten Problem Deutschlands zukommt.
.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen, dieses Buch wurde von einem studierten Journalisten Anfang 1932 geschrieben.

Auch wenn viele Voraussagen und Prophezeihungen des Amerikaners Knickerbocker erstaunlich dicht an den späteren Ereignissen schrammen, das Buch ist ca. 1 Jahr vor dem März 1933 geschrieben worden, als Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde.

- Werbung Dezent -
Zur Startseite - © 2006 / 2025 - Deutsches Fernsehmuseum Filzbaden - Copyright by Dipl.-Ing. Gert Redlich - DSGVO - Privatsphäre - Redaktions-Telefon - zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - Tag und Nacht, und kostenlos natürlich.