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Tagesaktuelle Gedanken - Aufzeichnungen von 1943 bis 1945

Dieses Kriegs-Tagebuch gibt uns einen sehr nachdenklichen Eindruck von dem, das in den oberen Sphären der Politik und der Diplomatie gedacht wurde und bekannt war. In ganz vielen eupho- rischen Fernseh-Büchern, die bei uns vorliegen, wird das Fernsehen ab 1936 in den Mittelpunkt des Weltinteresses gestellt - und hier kommt es überhaupt nicht vor. Auch das Magnetophon kommt hier nicht vor. Alleine vom Radio wird öfter gesprochen. In den damaligen diplomatischen und höchsten politischen Kreisen hatten ganz andere Tagesthemen Vorrang. Und das kann man hier sehr authentisch nachlesen. Im übrigen ist es sehr ähnlich zu den wöchentlichen Berichten des Dr. Wagenführ in seinen Fernseh Informationen.

Diese Aufzeichnungen hier sind aber 1963 - also 20 Jahre danach - getextet worden und wir wissen nicht, ob einzelne Absätze nicht doch etwas aufgehübscht wurden. Auch wurde das Buch 1963 für die alte (Kriegs-) Generation geschrieben, die das alles noch erlebt hatte.

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Montag, den 12. April 1943 - Über die Geistesgestörtheit deutscher Organisatoren

Unter der Überschrift »Zwei Jahre befreite Untersteiermark« behandelt der heutige »Völkische Beobachter« »Aufbau und Rückgliederung der Untersteiermark«.

In dem Artikel wird berichtet, wie einem Lande, das ein Viertel Jahrhundert unter fremder Herrschaft gestanden hatte, wieder »deutsche Züge« gegeben werden. Dazu gehören »Krabbelschulen« und Dienststellen für die »Einführung von Lohn- und Tarifforderungen«.

Der Bericht teilt mit, daß in der Untersteiermark, deren Flächeninhalt mit 6782 qkm und deren Bevölkerung mit 551.610 Personen angegegen wird, 6625 Amtsträger, 19.270 Gliederungsführer und 11.500 Hilfsamtsträger berufen wurden. Obwohl es in der gesamten Unter Steiermark nur 177 Gemeinden gibt, wurden nicht weniger als 154 Ortgruppen, 625 Zellen und 4208 Blöcke errichtet, in denen insgesamt 37.422 beamtete Personen »Dienst« tun. Ein typisches Beispiel für den deutschen Organisationsfimmel.

Man stelle sich einmal vor, welch ein Papierkrieg durch den Schriftverkehr dieser 37.422 Amtsträger entfesselt wird, dazu noch im Kriege. Obwohl täglich über die Bürokratisierung des öffentlichen Lebens geklagt wird, besteht offenbar keine Möglichkeit, einen Organisationswahnsinnigen, wie den Herrn der Untersteiermark, zur Raison zu bringen.

In Britisch-Indien mit einer Bevölkerungszahl von annähernd 450 Millionen Einwohnern gab es 1937 nur 763 weiße englische Polizeibeamte. Allein im Berliner Polizeipräsidium sitzt die vielfache Anzahl. Kein Wunder, daß in Deutschland über Menschenmangel geklagt wird. In Wirklichkeit verfügen wir, wie in der »befreiten Untersteiermark«, über Menschen genug.

Fortsetzung - Teil 2

Ein anderes Beispiel für die Geistesgestörtheit deutscher Organisatoren wurde mir in Hannover erzählt. Durch die Stillegung überflüssiger Geschäfte ist dort auch der Süßwarenhandel betroffen worden. Diese Aktion bezweckt die Freistellung von Arbeitskräften für kriegswichtige Aufgaben.

Die Mehrzahl der Süßwarenläden in Hannover wird von alten Weiblein geführt, die an ihre Wohnung ein winziges Geschäft angeschlossen haben, in dem sie aus minimalen Umsätzen einen minimalen Verdienst ziehen. Die Inhaberinnen sind viel zu alt und gebrechlich, um eine andere Beschäftigung ausfüllen zu können.

Trotzdem werden ihre Läden geschlossen. Leidtragender ist der Staat, der nicht nur für den Unterhalt der Greisinnen, sondern auch für den Zinsendienst etwaiger Geschäftsschulden usw. aufkommen muß. Andere Süßwarengeschäfte haben sich seit Kriegsbeginn auf Lebensmittelhandel umgestellt. Ihr Umsatz besteht jetzt zu 75 Prozent aus Lebensmitteln und nur zu 25 Prozent aus Süßwaren. Da aber als Stichtag ein Datum im Frühjahr 1939 bestimmt worden ist, müssen alle Geschäfte, die damals von Süßwarenhandel lebten, schließen, mit dem Ergebnis, daß eine ganze Anzahl von Lebensmittelgeschäften zumachen.

Der Inhaber eines Geschäfts am Ministerplatz, namens Schütte, der auf Lebensmittelhandel umgesattelt hatte und zu den fähigsten Kaufleuten in dieser Branche zählte, mußte ebenfalls liquidieren und erhielt eine Stellung als Fahrstuhlführer bei der Hanomag zugewiesen.

Als er dagegen protestierte, bot man ihm die Übernahme eines Lebensmittelgeschäftes in einem anderen Stadtteil an. Er sah sich den Laden an, wurde mit dem bisherigen Inhaber, der wegen Krankheit aufgeben wollte, handelseinig und blieb der Lebensmittelbranche erhalten. Gleichzeitig vergütet ihm der Staat den Ausfall, der ihm durch die Aufgabe seines alten Geschäftes entstanden ist. Alles zu Lasten des Steuerzahlers!
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Eine böse Erfahrung - der deutsche Neid

Damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Als Schütte sein Geschäft schloß, entdeckte er einen vergessenen Posten Zuckerwaren. Da er seine Verkäuferinnen noch nicht entlassen hatte und die Ware nicht verderben lassen mochte, ließ er sie in Einviertel-Pfund-Tüten abpacken und an Passanten markenfrei abgeben.

Daraufhin zeigte ihn der Verband der Einzelhändler wegen vorschriftswidriger Geschäftsgebarung an. Mein Gewährsmann, der Süßwarenfabrikant Sprengel aus Hannover, fügte hinzu, daß auch bei ihm gelegentlich Posten von Pralinen verderben, weil die Behörden ihm verbieten, sie dem Publikum zuzuleiten. Der Beamte, der über Wohl und Wehe der Süßwarengeschäfte in Hannover entscheidet, ist ein ehemaliger Zeichenlehrer, der ungetrübt durch Sachkenntnisse auf Einhaltung der »Vorschriften« besteht.

Goebbels teilte kürzlich mit, daß eine wegen Kriegsdienstleistung des Familienvaters unterstützungsberechtige Familie von der Fürsorgestelle den Bescheid erhielt, ihre Unterstützung müsse um den Betrag der Miete für ihre den Bomben zum Opfer gefallene Wohnung gekürzt werden. Dr. Goebbels nennt dies einen Einzelfall, den er sofort habe abstellen könne. Leider sind solche Fälle die Regel.

Montag, den 19. April 1943 - offizielle Sprüche im Büro

Neben dem Eingang zu meinem Arbeitszimmer im Amt hängt seit einiger Zeit ein Spruchrahmen. Die Spruchblätter werden alle vier Wochen ausgewechselt. Das letzte verkündet: »Tüchtiges Schaffen, das hält auf die Dauer kein Gegner aus.« In den Wochen vorher las man:

»Ich wünscht', ich wäre ein Elefant,
dann würd' ich jubeln laut.
Es ist nicht um das Elfenbein,
nein, um die dicke Haut.«


oder:

»Alle Halbheit ist taub.«

oder:

»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«

Die Spruchkrankheit gehört zu den seltsamsten Erscheinungen dieses Krieges. Im Auswärtigen Amt gibt es kaum einen Korridor, der nicht mit Sprüchen dieser Art geziert wäre. Eine geheimnisvolle Organisation wechselt die Sprüche von Zeit zu Zeit aus. Im großen Treppenhaus krönt den Spruchrahmen ein Hoheitsadler.

Darunter prangt ein Bild vom Untergang des Flugzeugträgers »Are Royal« mit der Beschriftung »Des Führers Worte wurden nicht gehört, jetzt sprechen des Führers Waffen.«

Nach der Spruchkrankheit kommt die Kachelkrankheit

Eine Abart der Spruchkrankheit ist die Kachelkrankheit. Für Badezimmer gibt es schon längst keine Kacheln mehr. Dafür kann man in jedem Papierladen mit Sprüchen bemalte Kacheln kaufen.

Kachelsprüche wie »Jeder spinnt anders«, »Mensch ärgere Dich nicht«, »Jeder hat einen Vogel«, »Nicht ärgern, nur wundern«, »Humor ist, wenn man trotzdem lacht« finden reißenden Absatz.

Keine Banalität ist dumm genug, um nicht auf Kacheln verewigt zu werden. Ein Karikaturist zeichnete kürzlich ein Badezimmer, das ganz mit Spruchkacheln tapeziert ist!

Auch sonst widersteht der Kitsch hartnäckig allen kriegsbedingten Einschränkungen. So zirkuliert eine Ansichtskarte mit dem Führer und zwei Schornsteinfegern. Die Szene ist betitelt: »Eine originelle Begegnung.«

Eine andere Kitschpostkarte vereinigt die Köpfe Hitlers und Churchills. Der Führer lacht, Churchill fletscht die Zähne. Ein Kitschstück besonderer Art ist »Plischkes nationaler Wandkalender«: »Wieder Herr im Horst.« Auch für die Reproduktion von Aktfotos, die man an allen Straßenecken kaufen kann, ist genug Papier vorhanden.

Mittwoch, 21. April 1943 - Merkwürdiges im Auswärtigen Amt

In letzter Zeit mehren sich die Fälle, in denen Schreibtische im Auswärtigen Amt erbrochen werden. Vor vierzehn Tagen konnte ich morgens meinen Schreibtisch nicht öffnen. Ein Schlosser stellte fest, daß versucht worden war, an dem Schreibtisch mit einem Nachschlüssel zu manipulieren, der dabei abbrach.

Ich nahm zunächst an, daß man die in meinem Schreibtisch gespeicherten Zigaretten stehlen wollte. Ich wurde jedoch belehrt, daß autorisierte Beauftragte der Gestapo nachts im Amt Schreibtische durchsuchen.

Vor drei Tagen machte Hepp die gleiche Entdeckung. Auch er konnte seinen Schreibtisch nicht öffnen, weil der Nachschlüssel abgebrochen war. Vorgestern abend wurden Gestapo-Leute beim Durchsuchen des Zimmers von Fräulein Dr. Haussmann ertappt. Zur Rede gestellt, behaupteten sie, »Kassenschränke« auf ihre Sicherheit kontrollieren zu müssen. Weder in meinem Zimmer noch in dem von Hepp oder von Fräulein Dr. Haussmann befindet sich ein Kassenschrank!

Angeblich soll auch festgestellt werden, ob Dokumente, die wegen der Luftgefahr in die Tresore eingeschlossen werden müssen, vorschriftswidrig in Schreibtische abgelegt werden.

Ich habe an meinem Schreibtisch folgendes Schild anbringen lassen: »Schnüffler und Diebe werden gebeten, den Schreibtisch so zu öffnen, daß der Nachschlüssel nicht abbricht und das Schloß benutzbar bleibt.« Die Aufhebung des Briefgeheimnisses und das Abhören von Telephongesprächen gehören zu den Selbstverständlichkeiten dieser Zeit.

Mißtrauen an allen Ecken und Enden

Alle paar Tage kann ich im Zimmer des Abteilungsleiters den »Braunen Freund« studieren, den der Abhördienst aus überwachten Telephonaten zusammenstellt.

Meist handelt es sich um die Registrierung von Lappalien. Ich erfahre auf diese Weise von stundenlangen telephonischen Unterhaltungen, die diese oder jene bekannte Dame mit diesem oder jenem bekannten Diplomaten führt. Am meisten erheitern mich die aus meiner Wohnung wiedergegebenen Gespräche Mariettis (das müsste seine Frau sein) mit ihren Freunden.

Abends kann sie sich dann vor Staunen nicht fassen, wenn ich ihr erzähle, daß sie mit Ridomi, Valdettaro oder Lanza etwas verabredet hat, womit ich überrascht werden sollte.

Der »Braune Freund«, dessen Zusammenstellung einen riesigen Apparat benötigt, ist die geheimste aller Geheimsachen. Im Amt liegt sie nur dem Minister und dem Presse-Schmidt vor. Im übrigen stört mich die minutiöse Überwachung meines Privatlebens nicht. Die Methoden der Geheimpolizei amüsieren mich eher.

In den Botschaften kann ich fast alle Diener ausmachen, die sich als Spitzel und Agenten ein "Nadelgeld" verdienen. Sie haben keine Aussicht, mich zu erwischen, wahrscheinlich auch kein Interesse, denn ich gebe ihnen reichlich Trinkgelder.

Seite 74 - Das Schwatzbedürfnis der Deutschen

Leider helfen Warnungen, mit denen man Bekannte versorgt, nur selten. Das Schwatzbedürfnis der Deutschen, ihre Sucht, sich wichtig zu machen, vielleicht auch ihr Nichtvertrautsein mit dem Lebensklima einer um ihre Existenz kämpfenden Diktatur reißen immer wieder Menschen ins Unglück.

Es ist unglaublich, wie viele sonst gescheite Leute jede Vorsicht bei Unterhaltung mit Unbekannten, die sich später als agent provocateur entpuppen, außer acht lassen. Die Folge sind langwierige Verhöre durch die Gestapo, »Sicherheitsverwahrung« oder Schlimmeres.

Das Führer-Duce-Treffen im deutschen Hauptquartier

Das Führer-Duce-Treffen im deutschen Hauptquartier hat keine Annäherung der Standpunkte gebracht. Die Folgen einer möglichen Räumung von Tunis auf die Stimmung in Italien scheint die römischen Staatsmänner stark zu beschäftigen. Die Italiener haben wieder darauf gedrungen, daß wir uns mit den Russen arrangieren, damit die Kriegsführung im Mittelmeer aktiviert werden kann.

Die AA Publikation »Diplomatische Politische Korrespondenz«

Ich habe jetzt auch die vom Amt herausgegebene »Diplomatische Politische Korrespondenz« übernommen. Sie wurde in »Die Deutsche Diplomatische Korrespondenz« umgetauft. Wäre dies im September 1939 geschehen, so hätten wir publizistisch eine andere Durchschlagskraft gewonnen.

Seit vier Jahren fordere ich, daß der von mir verfaßte »Politische Bericht« und die von Braun von Stumm geschriebene »Diplo« vereinigt werden, um ein Instrument analog »Reuters Diplomatischer Korrespondenz« zu schaffen. Der Widerstand des Reichspressechefs, des DNB und des Gesandten Braun von Stumm, der seinen »Diplo« nicht aufgeben wollte, war jedoch zu stark.

Daß mir die Redaktion der »Diplo« übertragen worden war, erfuhr ich durch einen Anruf aus dem Promi, das sich bei mir über das Ausbleiben von Freiexemplaren beschweren wollte. Dann kam ein Anruf aus Fuschl, bei dem der Minister die »Diplo« zur Vorlage reklamierte.

Braun von Stumm ist mit der Herausgabe eines »Täglichen Politischen Berichtes« entschädigt worden. Da der »Politische Bericht« ebenfalls verfaßt werden muß, hat das Nebeneinander und die Doppelarbeit in der Publizistik der Presseabteilung noch immer kein Ende,

Donnerstag, den 29. April 1943 - der Sohn des britischen Indienministers, Mr. John Amery und Frau

Teddy Geyr kam gestern aus Paris zurück, dort hatte er sich mit dem Fall Amery befaßt. Nach dem Einmarsch in die unbesetzte französische Zone fiel den deutschen Behörden der Sohn des britischen Indienministers, Mr. John Amery junior, in die Hände. Zur allgemeinen Überraschung erklärte sich der junge Mann, der bis dahin in Nizza gelebt und keine Miene gemacht hatte, nach England zurückzukehren, bereit, mit uns zusammenzuarbeiten.

Über den Presseattache des deutschen Generalkonsulats in Vichy, Wissmann, wurden die ersten Kontakte hergestellt, die Geheimrat Hesse vom Englandkommitee später vertiefte. Amery stellte sich für Radioansprachen nach England zur Verfügung. Er übersiedelte nach Berlin, wobei er der Aufsicht der Rundfunkabteilung im Auswärtigen Amt unterstellt wurde. Amerys erste Radioansprachen erregten in England starke Aufmerksamkeit, selbst »Manchester Guardian« und »Times« nahmen Notiz davon. Dies führte zu einer Überschätzung Amerys durch die hiesigen Stellen, die den Gedanken faßten, ihn zum Chef einer »Britischen Legion« zu machen.

Die Bewunderung für Amery kühlte sich jedoch ab, nachdem sein exzentrisches Privatleben ruchbar wurde. Amery hatte von Nizza seine französische Maitresse mitbringen dürfen, ein intelligentes Frauenzimmer, dessen finanzielle Ansprüche sich als die Hauptursache seine Übertritts in deutsche Dienste herausstellte.

In Berlin, dort führte sich Amerys Freundin durch das Vortragen von Chansons im Auslandspresseklub ein, ging das seltsame Paar die Ehe ein und verursachte dem Reich erhebliche Kosten. So verbrauchte Amery bei einem Aufenthalt in Paris in vierzehn Tagen nicht weniger als 34.000,- RM.

Vor drei Wochen nahm dieses Idyll ein jähes Ende, als Mrs. Amery infolge übermäßigen Absinthgenusses in einem Zimmer des Berliner Hotel »Kaiserhof« einem Herzschlag erlag. Mrs. Amerys letzer Wunsch war, in ihrer Heimat, einem kleinen Ort in den Pyrenäen, begraben zu werden.

Die Aufsicht über das Begräbnis wurde Teddy Geyr übertragen, der einen Arbeitsurlaub im Warthegau unterbrechen mußte, um Amery und der Urne mit der Asche seiner Gemahlin das Geleit nach Frankreich zu geben. Vor allem sollte er darauf achten, daß der Witwer nicht auf dem Wege in die Pyrenäen von englischen Agenten entführt wurde. Nachdem der vom Kummer verstörte Amery sich vierzehn Tage in einem Pariser Hotel, die Urne in den Armen, alkoholischen Tröstungen verschrieb, gab Geyr seinen Auftrag an das Auwärtige Amt zurück und kehrte unverrichteter Sache heim.

Montag, den 10. Mai 1943 - Tunis wird aufgegeben

Am dritten Jahrestag der großen Westoffensive wird der Fall von Tunis bekannt.

Wie sehr hat sich das Kriegsbild gewandelt! Vor drei Jahren lösten wir uns aus der defensiven Erstarrung des Westwall-Winters und erklommen in wenigen Wochen die Höhe unserer militärischen Macht.

Mit der Eröffnung des Rußland-Feldzuges am 22. Juni 1941 begann uns das Glück zu verlassen. Der Fall von Tunis ist das letzte Glied einer Kette militärischer Niederlagen, die uns Afrika kosteten.

Eine Invasion in Südeuropa rückt in den Bereich der Möglichkeiten. Im August wäre das günstigste Wetter für eine Landung in Italien. Als lohnende Angriffsobjekte bieten sich den Alliierten Katalonien an, dort dürften die Spanier keinen allzu großen Widerstand entgegensetzen, Südfrankreich, Sizilien, Sardinien und Korsika. Daß Eroberungen großer Inseln möglich sind, hat Kreta bewiesen. Daß die Italiener sich zäher verteidigen würden als die Australier auf Kreta, ist nicht anzunehmen.

Ein drittes Ziel wäre die Balkanhalbinsel. Eine Invasion an der albanischen und dalmatinischen Küste könnte uns die Herrschaft über die Adria kosten. Sie hätte freilich die Forcierung der Straße von Otranto zur Voraussetzung. Ein Angriff auf Saloniki würde, wie im letzten Kriege, unsere Balkanfront aufrollen.

Eine gewisse Gewähr gegen solche Pläne ist die Abneigung der Russen, ihre Alliierten auf dem Balkan erscheinen zu sehen. Tunis und Nordafrika gingen durch die britische Überlegenheit zur See verloren. Nur die Brechung der britischen Seeherrschaft hätte den Krieg im Mittelmeer zu unseren Gunsten entscheiden können.

Zu viele Fehler der Deutschen

Unser erster Fehler war, nach Dünkirchen auf Paris zu marschieren, statt über den Ärmelkanal zu setzen, unser zweiter Fehler, den Rußlandkrieg anzufangen, bevor Großbritannien aus dem Mittelmeer vertrieben wurde.

Im Frühjahr und Sommer 1941, nach Abschluß der Feldzüge in Jugoslawien und Griechenland, wäre dies vielleicht möglich gewesen. Über die kleinasiatische und die iberische Landbrücke hätten wir uns in den Besitz von Gibraltar und Suez setzen und das Mittelmeer wie die Ostsee strategisch in ein Binnenmeer verwandeln können.

Vermutlich würde Großbritannien auch dann den Krieg weitergeführt haben, aber doch unter erschwerten Umständen. Überdies hätte uns der Besitz der Türkei den Stoß zu den russischen Ölquellen erleichtert und uns den Feldzug durch Südrußland mit Stalingrad erspart. Aber in Hitlers strategischem Denken hat die Bedeutung der Seeherrschaft keinen Platz.

Die bislang unabsehbaren Folgen von Tunis

Die logische Konsequenz aus dem Verlust von Tunis und Nordafrika, die Räumung Italiens von deutschen Truppen, dürfte kaum gezogen werden. Wenn wir auf den Brenner zurückgehen, statt Italien zu verteidigen, würden wir viele Divisionen sparen und uns vierzig Millionen italienische Esser vom Halse schaffen.

Gegen eine solche Frontverkürzung spräche, daß die Alliierten von Flugzeugbasen auf dem italienischen Festland, Südfrankreich, Süddeutschland, Österreich und Mitteleuropa bedrohen könnten, ferner die Aufgabe des Bündnisses mit Italien, das die Grundlage unseres politischen Systems in Europa bildet. Doch wie sollen wir Italien verteidigen, wenn die Italiener selbst nicht den Wunsch dazu haben, wofür es keine verläßlichen Anzeichen gibt.

Die Berliner Gesellschaft löst sich so langsam auf

Der Auflösungsprozeß der Berliner Gesellschaft schreitet fort. Seit einem halben Jahr wird Haus um Haus geschlossen.

Edelstams machten den Anfang. Casardis gehen nach Rom zurück. Fürstenbergs, Barros, della Portas, Rocamoras, Laroches, Meinsdorp haben Berlin verlassen. Das ganze Diplomatische Korps ist in der Auswechslung begriffen.

Casardis Abschied vereinigt noch einmal den schrumpfenden Kreis der Freunde. An der Geselligkeit des Diplomatischen Korps haben Deutsche kaum noch Anteil. Wie die Mönche von Athos leben die hiesigen Diplomaten auf einem Berg, der von der Erde durch eine Wolkenschicht isoliert wird. Selbst die Beamten des Auswärtigen Amtes verkehren kaum noch mit Ausländern, obwohl doch gerade sie berufen wären, solche Kontakte zu pflegen. Kein Wunder, daß sich so viele von ihnen ein schiefes Bild von der Mentalität der Ausländer machen.

Frühstück mit Lily Schnitzler und ihrer schönen Tochter, Lilo Scholz, deren Mann an der Gesandtschaft in Budapest ist. Eine geborene Mallinckrodt aus Antwerpen, mit Georg Schnitzler, Vorstandsmitglied der IG Farben, verheiratet, im Frankfurter Westen und im Berliner Tiergartenviertel zu Hause, Mäzenatin bedeutender Maler, literatur- und theaterbegeistert, mit einem wachen Sinn für Menschen und Dinge begabt, noch immer von großer Schönheit, gehört Lily Schnitzler zu den fesselndsten Erscheinungen der deutschen Gesellschaft.

In ihrer Wohnung in der Graf-Spee-Straße kann man die Werke vieler heute verfemter Künstler bewundern, darunter Beckmanns Triptychon. Augut Spee, aus dem Osten kommend, gibt Schilderungen, die von allem, was man sonst zu hören bekommt, abweichen. Die ukrainischen Serviermädchen in seinem Offizierskasino haben acht Kleider zum Wechseln, lösen Logarithmen-Aufgaben, spielen Mendelssohns »Lieder ohne Worte« nach dem Gedächtnis und sind Inhaberinnen von Wohnungen, in denen es von gestickten Decken und Blattpflanzen wimmelt.

Paul Metternich berichtet von der Leningrad-Front das Gegenteil. Er traf nur auf Schmutz und Primitivität, zeigte sich aber beeindruckt von der Urkraft der Russen. Ähnlich äußerte sich Burard Preußen. Er und alle Angehörigen ehemals regierender Häuser, darunter zwölf aktive Offiziere, müssen nunmehr endgültig aus der Wehrmacht ausscheiden.

Dienstag, den 25. Mai 1943

Zwei Ergebnisse stehen im Vordergrund: Die Besprechungen Churchills in Washington und die Auflösung der Dritten Internationale in Moskau.

Mittwoch, den 26. Mai 1943 - die Partei schiebt sich nach vorn

Nachrichten aus der Sowjetunion deuten darauf hin, daß die Rote Armee mit dem Fortschreiten des Krieges ständig an Einfluß gewinnt. Bei uns ist es umgekehrt.

Je länger der Krieg dauert, desto mehr tritt die Wehrmacht in den Hintergrund. Die Partei betrachtet sich in allen die Nation angehenden Fragen als eine Instanz, die der Armee nicht nur gleichberechtigt, sondern übergeordnet ist.

Die Rolle der Waffen-SS, in der viele die Zelle eines künftigen NS-Heeres erkennen wollen, trägt zur Abwertung der Armee bei. Diese Entwicklung ist dadurch begünstigt worden, daß der deutsche Berufssoldat mit einer tiefen Skepsis in den Krieg zog. Heerführer und Truppe waren überrascht von den Siegen, die sie vollbrachten.

Die in militärischen Fragen unkundige Partei war um so siegessicherer. Sie erblickte in den Siegen der ersten Jahre wenig mehr als die Fortsetzung ihrer eigenen Erfolge im Kampf um die Macht. Die Blitzkriege und Blitzsiege schienen der Partei gegen die Armee recht zu geben und hoben ihr Selbstbewußtsein.

Der Totalitätsanspruch der Partei wurde durch das Beispiel im Hautquartier, in dem der Führer den Generälen befiehlt, statt ihren Rat zu suchen, noch stimuliert. Der Parteifunktionär meint heute über den Krieg besser Bescheid zu wissen als der Soldat.

Die Schuld auf die anderen schieben - typisch Deutsch

Als in den beiden Ostwintern die militärische Lage umschlug, war die Stellung der Partei bereits so stark geworden, daß im Volk der Eindruck erzeugt werden konnte, die Armee habe versagt. Das Prestige des Heeres begann zu sinken.

Die gleiche Partei, die sich das Verdienst an den Blitzsiegen der ersten Jahre zugemessen hatte, verstand es nun, sich von den Niederlagen zu distanzieren. Die Armee sieht hilflos und in sich zerfallen zu. Während die jüngeren Offiziersjahrgänge überwiegend nationalsozialistisch eingestellt sind, wissen die älteren nicht mehr, wo sie weltanschaulich stehen.

Hohe Offiziere sind neidisch und beratungsresistent

Im Heere selbst fehlt es an Vorbildern, an denen sich die höheren Offiziere orientieren könnten. Das letzte war Fritsch, den im Stich gelassen zu haben, man sich schämt. Blomberg, der »Gummilöwe«, schlug mit seiner Heirat dem esprit de corps eine Wunde, die auch der Krieg nicht vernarben ließ. Reichenau besaß wenig Freunde. Rommel wird von der Generalität, die ihm seine Popularität nie recht gönnte, als »troupier« abgetan. Kluge, dem »klugen Hans«, traut man charakterlich nicht. Rundstedt und Manstein genießen als erstrangige militärische Fachleute ohne politisches Profil Respekt.

Ein Teil der Feldmarschälle gilt durch die Dotationen (serh gute finanzielle Ausstattung) als belastet. Sie angenommen zu haben, während der Ausgang des Krieges ungewiß bleibt, widerspricht den preußischen Traditionen. Gespräche mit höheren Offizieren enden meist unfruchtbar. Über die politische Lage zeigen sich auch die Höchstgestellten erstaunlich uninformiert. Der Generalität fehlt der Blick für das Ganze, und man darf bezweifeln, ob sie ihn überhaupt will.

Opposition begegnet man allenfalls unter adligen Militärs, die sich vom Regime als Herren provoziert fühlen. Innerhalb der Armee strahlen nur noch die Ritterkreuzträger das Prestige aus, das früher vom ganzen Heer ausging. Sie üben eine Autorität aus, die auch von der der Partei nicht überschattet wird.

Der auf Urlaub befindliche Ritterkreuzträger kann tun und lassen, was ihm beliebt. Am Fahrkartenschalter mag er sich an die Spitze der Schlange stellen, ohne daß sich ein Murren erhebt, in den Restaurants wird er als erster bedient, in den überfüllten Hotels ist für ihn immer ein Zimmer frei. Wer sich in seiner Begleitung befindet, wird nicht angetastet.

Das Ansehen des Ritterkreuzträgers geht über das Maß der gewöhnlichen Heldenverehrung hinaus, weil er in den Augen des Volkes nicht nur der Mann ist, der sich an der Front bewährt hat, sondern der einzige, dem in der Heimat kein Haar gekrümmt werden kann. Bei den Ritterkreuzträgern setzt man auch viel Zivilcourage voraus und damit eine Eigenschaft, die den Deutschen am meisten abgeht, am stärksten bewundert, am seltensten nachgeahmt wird!

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