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Tagesaktuelle Gedanken - Aufzeichnungen von 1943 bis 1945

Dieses Kriegs-Tagebuch gibt uns einen sehr nachdenklichen Eindruck von dem, das in den oberen Sphären der Politik und der Diplomatie gedacht wurde und bekannt war. In ganz vielen eupho- rischen Fernseh-Büchern, die bei uns vorliegen, wird das Fernsehen ab 1936 in den Mittelpunkt des Weltinteresses gestellt - und hier kommt es überhaupt nicht vor. Auch das Magnetophon kommt hier nicht vor. Alleine vom Radio wird öfter gesprochen. In den damaligen diplomatischen und höchsten politischen Kreisen hatten ganz andere Tagesthemen Vorrang. Und das kann man hier sehr authentisch nachlesen. Im übrigen ist es sehr ähnlich zu den wöchentlichen Berichten des Dr. Wagenführ in seinen Fernseh Informationen.

Diese Aufzeichnungen hier sind aber 1963 - also 20 Jahre danach - getextet worden und wir wissen nicht, ob einzelne Absätze nicht doch etwas aufgehübscht wurden. Auch wurde das Buch 1963 für die alte (Kriegs-) Generation geschrieben, die das alles noch erlebt hatte.

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Montag, den 12. März 1945 - der 20. Fliegerangriff auf Berlin

In der vergangenen Nacht hatten wir den zwanzigsten Moskito-Angriff in ununterbrochener Folge. Der Nollendorfplatz ist zu einer Bombengegend ersten Ranges geworden. Es vergeht keine Nacht, ohne daß nicht in der nächsten Umgebung meiner Wohnung Volltreffer niedergehen.

Vor drei Nächten wurde das Haus Derfflinger Straße 15 dem Erdboden gleichgemacht. Es sieht so aus, als wenn die Eisenkonstruktion des Bahnhofes Nollendorfplatz die Zielgeräte der Bomben anzieht. Die Chancen, daß man etwas abbekommt, haben sich sehr vermehrt.

In der Regel sind es achtzig Maschinen, die diese Angriffe mit Bomben ausführen, die schwerer und wirksamer als früher sind.

Ein Besuch auf Schloß Buckow

Vorgestern reiste ich mit Hans Flotow bis Müncheberg. Dort trennten sich unsere Wege. Er ging nach Elisenhof und ich nach Buckow, um meinen dort ausgelagerten Smoking zu retten.

Seit Elly Dohnas Weggang befindet sich das von Schinkel umgebaute Schloß in einem erbarmungswürdigen Zustand. Der Rasenplatz auf der Schloßfreiheit, den früher niemand betreten durfte, ist von Panzern zerwalzt worden.

Im linken Stallgebäude hat sich eine Divisionsschlächterei aufgetan, bei der die Bevölkerung nach Abfällen Schlange steht. Die Häute von achtzig geschlachteten Rindern trockneten im Freien und verbreiten einen fürchterlichen Gestank.

Im Park tummelten sich 120 Stück Schlachtvieh. Die Einfahrt flankieren Panzersperren, Schützengräben und Unterstände für Wehrmachtsfahrzeuge. Innen sind die meisten Räume mit eisernen Betten verstellt, die in drei Reihen übereinander geordnet sind. Sie dienen Flüchtlingen aus dem Oderbruch als Schlafstellen.

Dazwischen hat man die Bücherborde mit den prachtvollen Keramiken stehengelassen. Die schönen Bilder hängen noch an den Wänden. Ein Saal, in dem sich Flüchtlinge waschen, ist vollgestopft mit den kostbarsten französischen Möbeln. Ich sah, wie ein Greis seine Kotstiefel auf einer Louis-Seize-Bergere ausbreitete.

Die "Gäste" kommen und gehen und stehlen - und zerstören

Alle paar Tage wechselt die Einquartierung, SS, Wehrmacht, HJ kommen und gehen und stehlen. Glorias Kleider sind verschwunden, der Weinkeller aufgebrochen, der Boden als Diebesversteck für Tuchballen hergerichtet. Das Personal muß zusehen, wie Buckow vernichtet wird, noch bevor die Russen sich dort niedergelassen haben.

Für die Reise nach Buckow brauchten wir statt bisher anderthalb Stunden jetzt sieben, für den Rückweg fünf Stunden. Fast die ganze Zeit wurden wir von russischen Tieffliegern belästigt, die auf der Strecke fahrende Militärzüge angriffen.

Als die Kanonen brüllten

Da ich am gleichen Tage nicht mehr nach Berlin konnte, übernachtete ich im Ort und aß in einem der kleinen Hotels ausgezeichnet zu Abend. Die ganze Nacht über brüllten die Kanonen an der nur dreißig Kilometer entfernten Front.

Am Sonntag nahm ich in Kerzendorf von Horstmanns Abschied, die das Ende auf ihrem Besitz abwarten wollen. Außer den Pfuels und Strempel ist an Bekannten niemand mehr hier. Hans Flotow erschien noch einmal, um einige Sachen aus seiner Wohnung zu holen. Er ist geschäftig wie eine Ameise und evakuiert selbst Küchensiebe und Gläser. Tragen kann er wie ein Maulesel.

Nachts im Bunker der spanischen Botschaft

Den Abendalarm verbringen wir jetzt gewöhnlich im Bunker der spanischen Botschaft. Einige Spanier, darunter Buigas, sind zurückgekehrt.

Sie laden Strempel und mich nach dem Alarm zu einem Cognac ein. Leicht beschwingt fahren wir um Mitternacht durch die mit Zeitzündern besäten Straßen in unsere Wohnung.

Dem »Führungsstab« des Auswärtigen Amtes zugeteilt, darf ich Berlin nicht verlassen. Jedoch hat mir der RAM fünf Tage »Familienurlaub« bewilligt, den ich bis zum 20. März angetreten haben muß.

Die Amis haben den Rhein überquert

Die militärische Lage wird gekennzeichnet durch den amerikanischen Rheinübergang bei Remagen. Er kam für beide Seiten unvermutet.

Wie die Amerikaner bekanntgaben, hatten sie ursprünglich die Absicht, bei Honnef einen Brückenkopf zu bilden (was inzwischen geschehen ist). Zu ihrer größten Überraschung fiel die Rheinbrücke von Remagen heil in ihre Hände. Die deutsche Wache soll sich widerstandslos gefangen gegeben haben. Inzwischen ist der Brückenkopf vierzehn Kilometer breit geworden und hat beträchtlich an Tiefe gewonnen.

Man wartet nun gespannt darauf, ob die Amerikaner dem Rheintal südwärts oder nordwärts folgen. Sie hoffen bereits, früher in Berlin zu sein als die Russen und sprechen von einer Vereinigung mit den russischen Armeen, von denen sie noch 550 Kilometer trennen, im Herzen Deutschlands.

Und wieder gehorchen die Deutschen den neuen Herren

Amerikanische Korrespondentenberichte aus den besetzten Teilen des Rheinlandes stellen Gefügigkeit und Servilität der Bevölkerung fest, die den Amerikanern genau so pariert, wie gestern den deutschen Behörden.

Nirgends seien Sabotageakte zu verzeichnen. Die Bevölkerung freue sich, eine neue Autorität zu haben. Meine These, daß ein Partisanenkrieg sich wegen des deutschen Nationalcharakters verbietet, bestätigt sich. Aus den besetzten Ostgebieten hört man ähnliches.
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Alle warten auf den Angriff auf Berlin

Im Osten läßt der Angriff auf die Reichshauptstadt auf sich warten. Nachdem die Russen das Vorfeld von Berlin zwischen Frankfurt und Küstrin mit Panzern überrollt haben, sind sie behutsam zu Werke gegangen.

An der mittleren Oder haben sie neun Brückenköpfe gebildet. Einige der in diesem Raum angesetzt gewesenen russischen Panzerdivisionen wurden zurückgenommen und haben den Stoß durch Pommern durchgeführt, der die Einkreisung der dort befindlichen deutschen Kräfte brachte. Zwei russische Panzerarmeen stehen zwischen Guben und dem oberschlesischen Industriegebiet. Sie haben die Front weiter nach Westen gedrückt, so daß sie in Anlehnung an die böhmischen Gebirgszüge operieren können.

Mittwoch, den 14. März 1945 - das Promi wurde getroffen

Am 13. März um neun Uhr abends wurde das Promi von einer Mine getroffen, die den im Palais des Prinzen Ferdinand von Preußen untergebrachten Teil des Ministeriums zerstörte. Das Palais war eines der schönsten von Berlin.

Es wurde im 18. Jahrhundert erbaut und von Schinkel im klassizistischen Stil umgestaltet. Goebbels war stolz darauf, daß sein Haus von Luftangriffen so gut wie verschont blieb. Er erblickte darin ein günstiges Omen. Ums Leben gekommen ist niemand.

Aber die Wilhelmstraße wurde - wohl zum ersten Mal im Kriege - gesperrt, um der Feuerwehr und den Aufräumungskommandos die Arbeit zu erleichtern. Der dem Palais benachbarte Neubau des Promi kann weiter benutzt werden. Mittags erschien Frau Goebbels mit drei ihrer Kinder und einem Luftwaffenhelfer in der Wilhelmstraße, um die Trümmerstätte zu besichtigen. Mit Nerzmantel und grünem Sammethut war sie wie für eine Cocktailparty zurechtgemacht.

Freitag, den 16. März 1945 - merkwürdige Friedensangebote

Seit gestern ist die Rede von deutschen Friedensangeboten. Rundstedt, der durch Kesselring abgelöst wurde, soll Eisenhower die Waffenstreckung angeboten haben.

Aus Stockholm wird von einer Aktion Hesses berichtet. Zu Rundstedts angeblichem Angebot liegt eine Äußerung des State Department vor, die die Möglichkeit solcher Versuche zugibt. Daß Hesse Kontakt gesucht hat, wird durch die britische Gesandtschaft in Stockholm bestätigt.

Im Amt interessiert vor allem der Schritt von Hesse, der erhebliche Aufregung verursacht hat. Daß Hesse im Auftrag handelte, darf man annehmen. Er fuhr vor etwa drei Wochen nach Stockholm, kehrte noch vor Bekanntwerden seiner Reise zurück und berichtete, seine Mission sei so von Erfolg gekrönt gewesen, daß er es verdiene, mit einem Rosenstrauß empfangen zu werden.

Madame Kollontay, die russische Botschafterin in Stockholm, habe ihn noch vor ihrer Abreise nach Moskau zu sprechen gewünscht, jedoch sei die Begegnung nicht zustande gekommen. Die Stockhomer Presse hat der Aktion eine gewisse Publizität gegeben.

Klosterzella - Dienstag, 20. März - Die Regierung verläßt Berlin

Die Regierung geht nun doch aus Berlin fort. Von den großen Ämtern werden sechs Zehntel des Personals entlassen. Die Männer müssen zum Volkssturm, den Frauen wird anheimgestellt, sich zu »verkrümeln«.

Drei Zehntel, darunter ich, bilden den sogenannten Führungsstab und bleiben in Berlin. Heribert, der zur zweiten Einteilung gehört, bekam den Auftrag, bei Mühlhausen in Thüringen Quartier für Schmidt und den APC zu machen.

Einige Abteilungen werden nach Bad Berka verlegt, die Diplomaten sollen nach Wildungen und das OKW nach Meiningen.
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Ein letztes Mal die Familie besuchen

Ich beschließe, die Gelegenheit zu benutzen und mit Strempels Auto über Thüringen nach Westfalen zu fahren, um im Rahmen des vom RAM genehmigten Urlaubes meine Familie ein letztes Mal zu sehen. Nachdem sich unser Aufbruch um einen Tag verzögerte, waren wir gestern abend startbereit.

Wir haben eben fertig gepackt - die beiden Topolinis sind zum Bersten voll - als es Moskito-Alarm gibt. Wir fahren mit den hochbeladenen Wagen zum Bunker der spanischen Botschaft, warten dort den Angriff ab, kehren noch einmal in Strempels Wohnung zurück, essen, laden Silber auf und setzen uns gegen 23 Uhr in Marsch.

Heribert nimmt mit Leila Mecklenburg im geschlossenen Topolino Platz. Ich setze mich im offenen Fiat, genannt das »Osterei«, an die Spitze. Am Eingang der Avus werden wir wegen Blindgängergefahr umgeleitet. Mein Regenschirm fällt aus dem Wagen und wird wunderbarerweise von Heribert und Leila aufgelesen.

Um ein Uhr früh gelangen wir in Zehlendorf auf die Potsdamer Chaussee, als ich einen »Platten« bekomme. Im gleichen Augenblick heulen die Sirenen.
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Im Mondlicht den Reifen wechseln

Während des Angriffes wechseln wir im Mondlicht den Reifen. Wieder in Fahrt, stellt sich heraus, daß bei meinem Fiat nur noch der dritte und vierte Gang funktionieren und die übrigen klemmen.

Auf der Autobahn bei Treuenbrietzen müssen wir zum dritten Mal wegen eines Luftangriffes anhalten. Die Flugzeuge kommen genau über die Straße. Beim ersten Frühlicht an der Elbe ballen sich am Horizont riesige Feuerwolken.

Wir passieren scharfe Kontrollen und verlassen bei Halle die Autobahn, deren letzte zwanzig Kilometer durch die Wracks zerschossener Wagen und Lastzüge gesäumt werden.

Bei Eisleben kommen wir in hügeliges Gelände, das ohne die ausgefallenen kleinen Gänge kaum zu nehmen ist. Ein strahlender Morgen bricht an. Wir frühstücken in einem Gasthaus aus mitgebrachten Vorräten, wobei Leila - wie sie anderntags gesteht - mir heimlich zwei Pervitintabletten in den Nescafe mischt, um meine ermüdeten Lebensgeister zu neuen Fahrleistungen anzuspornen.

Die nächtliche Fahrt bei Eiseskälte

Die nächtliche Fahrt im offenen Wagen bei mehreren Kältegraden hat mich so durchgefroren, daß ich mit Heribert den Wagen tausche. Das hat den Vorteil, daß Leila auf dem Heck des Sportzweisitzers postiert werden und nach Tieffliegern Ausschau halten kann.

Mit ihrem bunten Kopftuch wirkt sie in dem hellblauen chromblitzenden Fiat inmitten der kriegerischen Agonie so friedensmäßig, daß die Bauern uns verwundert nachblicken. Wir haben gerade Wallhausen, ein frisch zerstörtes Dorf, durchfahren, als die ersten Flieger erscheinen. Wir biegen in einen Waldweg und picknicken, bis die Gefahr vorüber ist, eine Unterbrechung, die sich im Laufe der nächsten Stunden ein halbes Dutzend Mal wiederholen soll.

Am Spätnachmittag kommt Mühlhausen in Sicht, in dessen Gehölz wir auf eine Reihe wohlbekannter Gestalten aus dem Amt stoßen, hagere Bürogehilfen und angegraute Sekretärinnen, die mit dem schönen Tag und dem ländlichen Idyll nicht viel anzufangen wissen und das ihnen anbefohlene Absetzen aus der bombenzerwühlten, aber ihnen vertrauten Berliner Umgebung verwünschen.

Klosterzella - Freitag, den 23. März - Zwischenstation

Als wir in den Hof des Schlosses Klosterzella, eines im tiefen Wald gelegenen früheren Klosters, einfahren, sehen wir den Hausherrn, Helmut Fries, mit dem Ehepaar Hamacher und Frau von Goldammer auf einer Terrasse heim Tee.

Wenige Minuten nach uns kreuzt ein Kübelwagen mit Offizieren auf, um das Schloßgut für die Installation von V-Waffen zu beschlagnahmen. Heribert gelingt es, das unerwünschte Kommando zum Abzug und zu dem Angebot zu bewegen, den kaputten Topolino in einer fliegenden Heereswerkstatt reparieren zu lassen. Damit haben wir uns Gastrecht gesichert.

Hamachers sind einige Tage vorher nach dreiwöchigem Treck in einem offenen Kutschwagen aus ihrem am Steinauer Brückenkopf gelegenen Schloß Lampersdorf in Schlesien eingetroffen.

Außer diesen Freunden hat Helmut Zwangseinquartierung unterbringen müssen, darunter sechzig Beamte des Generalgouvernements aus Krakau, die sich mit aus Polen mitgenommenen Möbeln und Teppichen in Klosterzella installiert haben, wo sie sich seit einigen Tagen mit dem Verbrennen von Akten befassen.

Für den Transport der Dokumente, die auf eine Waldlichtung zu großen Scheiterhaufen geschichtet werden, steht ihnen ein kleiner Panjewagen zur Verfügung, der sonst zu Schieberfahrten aufs Land benutzt wird.

Sonntag, den 25. März 1945 - Auf dem Weg nach Reelkirchen

Die Reise nach Klosterzella war nicht gerade einfach. Doch das eigentliche Abenteuer steht erst bevor. Nach einem Tag des Verschnaufens mache ich mich am Samstagnachmittag in Richtung Kassel auf den Weg.

Die Kleinbahn von Lengenfeld nach Leinefelde, dort muß ich umsteigen, feuert Braunkohle, deren Funkenregen die Böschung des Bahndammes in Brand zu setzen droht.

Um ein Uhr früh in Kassel ist in der völlig zerstörten Stadt an Unterkunft nicht zu denken. Für Wehrmachtsangehörige gibt es am Bahnhof eine überfüllte Holzbaracke. Da die Weiterfahrt nach Westfalen erst um 4.18 Uhr angetreten werden kann und die Temperatur Kampieren auf dem Bahnsteig verbietet, suche ich einen Luftschutzbunker auf, dessen Zementboden Hunderten als Nachtlager dient.

Als ich einen Augenblick meinen Rucksack absetze, stiehlt man mir meine Butterration. Der Anblick der vom Mondlicht übergossenen Ruinenstadt hätte nicht schauriger sein können.

Das Verhängnis beginnt

In der Frühe beginnt das Verhängnis, das uns ereilen soll, mit einer Verspätung des Zuges, der nicht, wie angegeben, vor Morgengrauen, sondern erst um sieben Uhr abgelassen wird.

Ein herrlicher Sonnenaufgang verheißt einen idealen Tag für Luftangriffe. Um 8.15 Uhr gibt es in Sundern den ersten Alarm. Hinter einer Waldspitze tauchen zwei Jagdbomber auf und nötigen uns zur Flucht ins Bahnhofsgebäude. Nachdem die Gefahr abgewendet scheint, setzt sich der Zug im Schneckentempo wieder in Marsch.

Alle Augenblicke wird auf offener Strecke angehalten und der Himmel vom Lokführer und den mit Ferngläsern bewaffneten Kondukteuren nach Flugzeugen abgesucht.

Plötzlich werden in großer Höhe vier Jabos sichtbar, die, ohne ihren Kurs zu ändern, sich wieder entfernen. Schon wähnen wir uns in Sicherheit, als die Jabos drehen und im Sturzflug aus Bordkanonen und MGs feuernd auf den Zug niederstoßen. Erd-und Staubfontänen spritzen hoch.

Ich postiere mich leewärts zum Geschoßhagel neben einer jungen Schaffnerin an der offenen Wagentür. Plötzlich sackt das Mädchen getroffen zusammen und stürzt auf den Bahnkörper. Um nach ihr zu sehen, lasse ich mich aus dem fahrenden Zug gleiten, bleibe mit dem Trenchcoat hängen, komme wieder los, falle nochmals und robbe mich über Nachbargleis und Bahntelegraph in einen Abzugsgraben am Waldrand. Inzwischen hat das Feuer den Zug zum Stehen gebracht.

Aus dem durchlöcherten Kessel der Lok entweicht in dichten Schwaden Dampf. Alles flüchtet in den Wald, um Deckung zu suchen, bis die Flieger außer Sicht sind und wir uns um die Opfer des Angriffs kümmern können.

Die junge Schaffnerin ist nicht mehr zu retten, desgleichen nicht ein tödlich getroffener Soldat. Im übrigen sind wir mit drei Schwerverletzten und einem Dutzend Blessierten glimpflich davongekommen.

Während ein zufällig mitreisender Sanitätsfeldwebel die erste Hilfe leistet, warten wir mehrere Stunden, bis Arzt und Krankenträger auf einer Draisine herangeschafft werden. Noch während ich helfe Verbände anzulegen, bemerkt jemand, daß ich stark blute. Es stellt sich heraus, daß ich zwei Streifschüsse erhalten habe, einen durchs Ohrläppchen und einen anderen unter dem Schulterblatt.

Die Flieger tauchen noch mehrmals auf wie Habichte, die nach Beute spähen, lassen uns aber in Ruhe.

Eine frische Lokomotive kommt

Gegen 15 Uhr - der Angriff war 8.52 Uhr morgens erfolgt - trifft eine frische Lokomotive ein, um den Zug nach Altenbeken zu schleppen. Mit ihr aber sind auch die Jabos wieder da.

Gegen 16 Uhr sind wir endlich in Altenbeken. Dort gibt es abermals Alarm und Räumung der Bahnsteige. Eine Stunde später neue Luftgefahr. Anflug von Kampfverbänden. Wir stürzen in einen Luftschutzzug, der in den Altenbekener Tunnel gefahren wird, in dem uns der Qualm der Lok fast ersticken läßt. Ich laufe an den Tunnelausgang, wo der Rauch die Abendsonne in phantastischen Reflexen bricht. Eben wagt sich der Zug wieder ins Freie, als Tiefflieger die Wagenschlange erneut in den Tunnel zurücktreiben.

Wir sind erlöst, als die Dämmerung kommt und wir die Reise nach Hörn fortsetzen können, wo ich nach 24 Stunden Fahrt von Thüringen um 19.30 Uhr ankomme. Wegen eines Luftangriffs auf Detmold ist die Straßenbahn nach Meinberg ausgefallen, so daß ich die restlichen sieben Kilometer nach Reelkirchen tippeln muß.

Ringsherum erhellt Geschützfeuer den Horizont. Hoch oben brummen für Berlin bestimmte Bomberverbände über das nächtliche Land. Kriegsgetümmel von früh bis spät.

Freitag, den 30. März 1945 - der Volkssturm wird mobilisiert

Das schöne Wetter hält an. Gestern abend um zehn Uhr wurde der hiesige Volkssturm mobilisiert. Das Kino im Dorf unterbrach seine Vorstellung. Amerikanische Panzerspitzen in Paderborn. Bis in die frühen Morgenstunden starker Kraftwagenverkehr in Richtung Osten.

Samstag, den 31. März 1945 - alles bricht zusammen

Alle Fahrräder sind beschlagnahmt worden. Seit 24 Stunden werden die Amerikaner erwartet. Aber es kommen nur einige Kolonnen und Flüchtlinge durch, alle in wilder Fahrt nach Osten.

Waffen werden nicht zurückgeführt. Einmal rollen sechs Geschütze vorüber, sonst nur Etappenfahrzeuge. Militärfahrer aus Marburg berichten, daß der Volkssturm die frisch errichteten Panzersperren wieder einreißt. Schmidt telegraphiert nach mir. Ich kann ihm nicht antworten. Nicht einmal der Amtmann in Blomberg darf ein Diensttelegramm durch geben. Alle Leitungen sind für das Militär beschlagnahmt.

Die Frage, ob wir Kampfzone werden, beschäftigt uns Tag und Nacht. Wir treffen alle Vorbereitungen. Bilder und Porzellan wandern in den Keller. Erfahrungsgemäß ist alles, was man tut, falsch. In Belle hat eine Kommission den Bauern die letzten Pferde aus dem Stall gezogen. Am Butterberg werden Panzersperren aufgebaut.

Mittwoch, den 4. April 1945 - unerträgliche Spannung

Die letzten Tage waren voll unerträglicher Spannung. Am Ostertage um 14 Uhr verstärkt sich der Kanonendonner, Detmold soll zur Festung erklärt worden sein, Hörn ebenfalls. Montag nachmittag trifft Peter Metternich, der sechzehnjährige Sohn, aus Vinsebeck ein. Sein Jahrgang muß auf Befehl des Kreisleiters über die Weser gehen und sich in einem Wehrertüchtigungslager melden. Da alles sehr ungewiß ist, machte er bei uns Station und radelt heute früh zurück.

An Durchkommen ist nicht mehr zu denken. Montag gegen 23 Uhr gibt es eine starke Explosion. Ich trete vor die Tür und finde den Himmel über dem Hause durch Raketen erleuchtet. Am anderen Morgen stellt sich heraus, daß der Tiefflieger, der uns allabendlich besucht, eine Bombe aufs Schloß setzen wollte.

Er hat den Spitznamen »Kreisleiter«, weil er täglich erscheint. In Vinsebeck nennen sie ihn »Jonny, den Kunstflieger«. Bis auf ein paar zerbrochene Scheiben blieb das Haus ganz. Seit Tagen tun wir nichts als packen und Koffer und Möbel in bombensichere Verstecke bringen.

Der Gefahren tun sich viele auf. Die unmittelbarste ist, daß wir Kampfgebiet werden. Die vor dem Hause vorbeiführende Reichsstraße 1 ist ein Magnet für den motorisierten Krieg. Wenn das Schloß mit seinem Wassergraben, den alten Umfassungsmauern und die angrenzenden Dörfer Reelkirchen und Herrentrup verteidigt werden, sind wir verloren. Die Amerikaner schießen mit Phosphorgranaten, gegen die es kein Löschmittel gibt. Sicherheitshalber haben wir auch den Boden entrümpelt.

Die zweite Möglichkeit ist, daß das Haus von fremden Truppen belegt wird. Nach Eisenhowers Richtlinien dürfen seine Soldaten nicht mit Deutschen unter einem Dach wohnen. Dann sitzen wir auf der Straße. Die dritte Gefahr bilden die entlassenen Kriegsgefangenen und befreiten Fremdarbeiter.

Seite 314 - Unsere Tochter muß hier raus

Gestern nacht evakuierte ich Gini mit dem Rad nach Vinsebeck. Bei Sturm und strömendem Regen taste ich mich durch die Dunkelheit zurück. Der Himmel zuckt vom Wetterleuchten der Front. In Billerbeck stoße ich auf eine Ansammlung deutscher Tigerpanzer und Schützenpanzerwagen.

Der Zusammenbruch ist grauenhaft

An Schlaf ist nicht zu denken. Die Nacht erfüllen quälende Gedanken. Die Not des Vaterlandes ist so unermeßlich, der Zusammenbruch so grauenhaft, daß es keinerlei Genugtuung darüber geben kann, dies alles seit Jahren vorausgesehen zu haben. Wie bitter sind die Menschen enttäuscht worden, wieviel mehr müssen sie nun büßen. Die Gläubigkeit der Jugend ist noch immer nicht erloschen.

Ich bin immer wieder erstaunt zu erleben, wie wenig die Katastrophe den jungen Leuten anzuhaben vermag, wie bereit sie wären, wieder in die Schlacht zu gehen, wenn sich eine Führung zeigte, der sie vertrauen könnten.

Dabei ist der Kampf aussichtslos geworden. Die Fortschritte der feindlichen Armeen in den letzten acht Tagen sind unvorstellbar. Die Russen kämpfen in Preßburg und in den Vorstädten von Wien, die Amerikaner in Thüringen, die Engländer vor Bremen.

Aus Berlin hört man nichts mehr als in immer neuer Auflage die abgebrauchte Parole, daß die Stunde der höchsten Bewährung und was weiß ich angebrochen ist. Morgen vielleicht schon werden wir - zum wievielten Male in diesem Kriege - wieder ohne Obdach sein. Länger als eine Viertelstunde vermag niemand voraussehen in einer Welt, in der Zerstörung schneller um sich greift, als das Leben keimen kann.

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