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Tagesaktuelle Gedanken - Aufzeichnungen von 1943 bis 1945

Dieses Kriegs-Tagebuch gibt uns einen sehr nachdenklichen Eindruck von dem, das in den oberen Sphären der Politik und der Diplomatie gedacht wurde und bekannt war. In ganz vielen eupho- rischen Fernseh-Büchern, die bei uns vorliegen, wird das Fernsehen ab 1936 in den Mittelpunkt des Weltinteresses gestellt - und hier kommt es überhaupt nicht vor. Auch das Magnetophon kommt hier nicht vor. Alleine vom Radio wird öfter gesprochen. In den damaligen diplomatischen und höchsten politischen Kreisen hatten ganz andere Tagesthemen Vorrang. Und das kann man hier sehr authentisch nachlesen. Im übrigen ist es sehr ähnlich zu den wöchentlichen Berichten des Dr. Wagenführ in seinen Fernseh Informationen.

Diese Aufzeichnungen hier sind aber 1963 - also 20 Jahre danach - getextet worden und wir wissen nicht, ob einzelne Absätze nicht doch etwas aufgehübscht wurden. Auch wurde das Buch 1963 für die alte (Kriegs-) Generation geschrieben, die das alles noch erlebt hatte.

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Raus aus Berlin zur Familie - Weihnachten 1944 in Reelkirchen

Die Züge nach dem Westen fahren nur noch im Schutz der Nacht. Man kann Berlin um 20.30 Uhr oder um 22.30 Uhr verlassen und ist am anderen Morgen im Industriegebiet, in dem Anschlußzüge vor den Frühangriffen verkehren.

Auf dem Rückweg nahm uns Dr. Tram von der Firma Dr. Otto in seinem DKW mit. Längs der Autobahn sind Fliegerdeckungslöcher ausgehoben. Für den Schutz der paar Autofahrer ist glänzend gesorgt, während es in den Großstädten an Bunkern für die Bevölkerung mangelt.

Der nationalsozialistische »Volksstaat« gibt immer wieder Rätsel dieser Art auf. Die Bevorzugung, die er wenigen gewährt, ist viel umfassender als die Privilegien, die irgendein anderes Regime seiner herrschenden Schicht einräumt.

Januar 1945 - Das neue letzte Jahr beginnt

In Berlin hat das neue Jahr bombenreich begonnen, das alte mit einem Angriff zu Silvester geschlossen.

»The English Digest« veröffentlicht aus den »Evening News« folgendes Zitat:

»In einem Restaurant in einer Stadt in Südengland ist ein Anschlag zu lesen: >Bitte sprechen Sie nicht über Ihre Bombe.<

In einem Regierungsgebäude, ebenfalls in Südengland, sah ich folgenden Anschlag: >Über Bomben und Bombenschäden kann hier nur bei Strafe von einem Schilling gesprochen werden.< Man sagte mir, daß sehr viele Leute mit Freuden den Schilling bezahlen, >um sich bloß einmal ihre Bomben vom Herzen herunterreden zu können<.«

Dienstag, den 16. Januar 1945 - Rückblick auf den 12.1.1945

Am 12. Januar ist die russische Winteroffensive in Gang gekommen. Sowjetische Panzerspitzen stehen seit heute früh nur noch 45 Kilometer vor dem oberschlesischen Industrierevier. Ohne die oberschlesische Kohle kann unsere in Mittel- und Ostdeutschland gelegene Kriegsindustrie kaum existieren.

Warum wrurden Kräfte in die Ardennen-Offensive gesteckt, wenn sie an der wichtigsten Stelle, der Ostfront, fehlen? Soll in Schlesien die gleiche Lage entstehen, wie im Rheinland?

Nachdem wir im Osten und im Westen kaum noch Bewegungsfreiheit haben, gehen wir einem aussichtslosen Stellungs-, Schützengraben- und Häuserkampf entgegen. In einer Londoner Auslassung heißt es heute, daß Moskau jetzt zweimal so weit von der Front entfernt ist wie Berlin, und daß London näher an der russischen Ostfront liegt als Stalingrad.

Vier Luft-Alarme allein am Wochenende

Die feindliche Luftaktivität über Berlin hat wieder erheblich zugenommen. Über das Wochenende allein gab es vier Alarme. Einen Angriff überstanden wir bei Dicki Wrede, die in ihrer Katakombe in der Rauchstraße Nacht für Nacht Fronturlaubern Unterkunft gewährt und an diesem Abend mit einer Flaschenparty ihre Behausung einweihen wollte.

Zu Gast fast alles schwerverletzte Offiziere

Zwanzig Gäste, fast alles schwerverletzte Offiziere mit Holzbeinen und Krücken, darunter Knyphausen, Hanstein, Brandis und Rumohr, die meisten Träger des Deutschen Kreuzes in Gold oder des Ritterkreuzes, fanden sich mit Batterien von Flaschen ein.

Als der Alarm kam, zeigte keiner die geringste Nervosität. Die Flak am Zoo schoß wie besessen. Dann krachten Bomben, und es begann die lauteste Kanonade und das schwerste Bombardement, das ich je im Tiergartenviertel erlebt habe.

Je stärker die Detonationen dröhnten, desto übermütiger wurde die Stimmung. Die Musik verstummte nicht einen Augenblick. Als ein junges Mädchen in einem Anfall von Panik auf die Straße stürzen wollte, brachte sie das allgemeine Gelächter schnell dazu, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen und weiter mitzumachen.

Wie töricht war es doch, den Großstädten ihre Nachtlokale zu schließen. Ich möchte wissen, ob irgendeine der vom Regime verordneten Zwangsgemeinschaften bei einem schweren Luftangriff eine Haltung zeigen würde, wie diese jungen Leute, deren Lebenslust durch ihre furchtbaren Verstümmelungen nicht gebrochen werden konnte und die Todesgefahr mit Ausgelassenheit beantworten.

Montag, den 22, Januar 1945 - Die Russen kommen immer näher

Die Frontlage im Osten ist so katastrophal, daß man sich kaum noch vorstellen kann, wie sie gemeistert werden soll. Es zeichnen sich drei russische Hauptstöße durch Süd-Ostpreußen auf Danzig, von Warschau auf Posen und auf Breslau ab.

In Schlesien haben die Russen heute vormittag Groß-Strehlitz erreicht, das den Castells gehört.

Alle Studnitzschen Güter in Oberschlesien befinden sich in Feindeshand, Schönwald ist sogar im russischen Heeresbericht erwähnt worden. Noch vor zehn Tagen hat niemand an eine solche Möglichkeit gedacht. Die hiesige Stimmung schwankt zwischen Wunderglauben, Resignation und Panik.

Die Russen "verlautbaren" einen genauen Plan

In den russischen Verlautbarungen wird davon gesprochen, daß die auf Posen marschierende Heeressäule nach Berlin durchstoßen soll.

Schon werden Kilometerzahlen genannt, die Berlin von den russischen Angriffsspitzen trennen. In allernächster Zeit werden wir vor die Frage gestellt werden, was aus Berlin und den hier befindlichen Obersten Reichsbehörden werden soll.

Vorläufig ist es unmöglich, das Problem der Evakuierung zur Sprache zu bringen, ohne als Defätist (Feigling, Resignierter) verdammt zu werden. Schon im August 1943 in Bern bat mich Urach, diese Frage anzuschneiden, weil die technischen Voraussetzungen für Nachrichtenverbindungen zwischen einem deutschen Reduit und dem Ausland nicht über Nacht geschaffen werden können.

Schmidt hielt es jedoch für unmöglich, diese Anregung weiterzugeben. Das Auswärtige Amt fährt fort, Ausweichquartiere in der Nähe von Buckow zu errichten. Das Ausweichen dorthin war als Vorbeugung gegen eine Verschärfung des Luftkrieges gedacht. Mit einem Näherrücken der Ostfront rechnete niemand.

Zwar lassen sich Ministerstäbe verhältnismäßig schnell in die Berchtesgadener und Salzburger Gegend verlegen. Für den umfangreichen Apparat der Reichs-Verwaltung liegen diese Dinge schwieriger.

Wenn die Russen in Frankfurt (Oder) angelangt sind, wird es zu spät sein. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, daß dann der Krieg ohnehin zu Ende ist. Aber gerade davon will die nationalsozialistische Staatsführung, die an Kampf bis »zum Letzten« denkt, nichts wissen.

Dienstag, den 23. Januar 1945 - Im Pressclub zu Gast

Heute hatten wir im APC den dänischen Gesandten Mohr und einen seiner Mitarbeiter zu Gast. Ein freundlicher alter Herr, der schnell warm wurde, die Gelegenheit benutzte, sich vieles vom Herzen zu reden und keinen Hehl aus seiner Bitterkeit über die mißliche Gestaltung des deutschdänischen Verhältnisses machte.

An der Verschlechterung der Beziehungen trägt nach Mohr die dänische Nazipartei Qausens die Hauptschuld. Mohr beklagte sich dann über das Neben- und Gegeneinander der vielen deutschen Dienststellen in Dänemark.

Mangelnde Autorität bei den Deutschen

Eine Autorität, wie sie die Engländer überall in ihren beherrschten Gebieten zu erreichen pflegten, sei nicht vorhanden. Die SS und andere Stellen fühlten sich nicht durch Abreden gebunden, die Best oder der Militärbefehlshaber mit den Dänen getroffen hätten.

Küstenbefestigungen an der völlig falschen Stelle

Der Mangel an Koordination unter den deutschen Stellen sei so groß, daß der deutsche Militärbefehlshaber Küstenbefestigungen angelegt habe, ohne Marinefachleute zu konsultieren.

Ganz Dänemark lache darüber, daß an Stellen, an denen Sandbänke und hohe Brandung eine Landung unmöglich machen, Forts errichtet wurden. Anderenorts, wo die Invasionsgefahr viel größer sei, habe man von Befestigungen Abstand genommen, um landwirtschaftlich wertvolle Gebiete zu schonen.

Statt dessen sei quer durch Nordschleswig eine Befestigungslinie errichtet worden, die nur sinnvoll wäre, wenn man Dänemark gegen Deutschland verteidigen wolle.

Das Frühstück, das um zwei Uhr begonnen hatte, war um vier Uhr noch nicht beendet, da Mohr keine Miene machte, mit seinen Querelen aufzuhören. Offensichtlich hat er sonst keine Gelegenheit, sich Gehör für den dänischen Standpunkt zu verschaffen. Daß Best in Dänemark resigniert, ist eine Tragödie. Ein aufrechter, vom besten Willen beseelter Mann, gehört er - ähnlich wie Abetz - zu den wenigen Nationalsozialisten, die aus Erfahrungen gelernt haben.

Seite 275 - Donnerstag, den 25. Januar 1945 - kurz vor dem Zusammenbruch

Die ununterbrochene Offensive des Feindes seit 14 Tagen

Die Lage im Osten hat sich so verschlimmert, daß man von einem Zusammenbruch unserer Front sprechen muß. Ostpreußen ist vom Reich abgeschnitten. Bei Elbing haben die Russen das Meer erreicht.

Russische Panzerspitzen marschieren auf Frankfurt (Oder). Breslau ist eingeschlossen, der Angriff auf das schlesische Industriegebiet im Gange. Zwischen Breslau und Oppeln haben die Russen eine Reihe von Brückenköpfen auf dem Westufer der Oder errichtet. Unsere in Ostpreußen und Kurland umzingelten Panzerarmeen sind ohne Brennstoff.

Die Offensive des Feindes dauert nun vierzehn Tage, ohne an Schwungkraft nachzulassen.

Drei Millionen Flüchtlinge aus den Ostprovinzen werden erwartet

Man schätzt, daß drei Millionen Flüchtlinge aus den Ostprovinzen aufgebrochen sind und die Landstraßen und Eisenbahnen verstopfen.

Die Flüchtlingsströme behindern die militärischen Operationen, gefährden die Etappe, aus der Gegenstöße geführt werden könnten und entvölkern den Osten von deutschen Menschen.

Inmitten dieser entsetzlichen Tragödie fehlt es nicht an kindischen Akten. So wurde deutschen Truppen befohlen, das Tannenbergdenkmal zu zerstören, damit die Russen es nicht sprengen!

Wer weiß, ob sie es getan hätten! In jedem Fall können die Russen nun behaupten, daß die Deutschen mit der Selbstzerstörung des Tannenbergdenkmals allen Hoffnungen entsagen, jemals nach Ostpreußen zurückzukehren.

Der Güterwagen, in dem Hindenburgs Leiche nach Westen reist, würde sechzig Flüchtlingen Platz geboten haben. Hätte man sie gerettet, so würde man der deutschen Zukunft einen besseren Dienst erwiesen haben, als die Leiche des Feldmarschalls auf eine Wandertournee zu schicken.

Die Ereignisse im Osten rauben vielen Menschen die Fassung. Vor Jahr und Tag notierte ich, daß die Leute auf die Stabilität der Ostfront so vertrauen, wie auf die frischen Brötchen zum ersten Frühstück.

An die Möglichkeit eines russischen Durchbruchs an die Oder oder vor die Mauern Berlins dachte niemand. Jetzt erkennen auch Zeitgenossen, die über den Krieg nicht viel nachgedacht haben, daß die Agonie begonnen hat.

Gestern abend im »Adlon« - ein Mittwoch

Gestern abend war das »Adlon« voll von Trägern des Goldenen Parteiabzeichens und höchster Tapferkeitsauszeichnungen. Im Speisesaal, der schon so viele merkwürdige Situationen erlebt hat, herrschte Weltuntergangsstimmung. Der Berliner Volkssturm ist noch nicht aufgeboten worden, obschon viele aus den Betrieben zu Übungen geholt wurden.

Durchhalteparolen in der Presse, die keiner mehr glaubt

Die Presse macht weiter in Überschriften wie »Unsere ungebrochene Entschlossenheit«, »Abwehrerfolge an den Flanken«, »Wir werden die Wendung erzwingen«, »So kämpft der oberschlesische Volkssturm«, »Harte Kämpfe in der Tiefe des Schlachtfeldes«.

Es geht ganz offensichtlich auf das Ende zu und der Winter kommt

Hin und wieder gibt es eine Stunde lang keinen Strom. In Häusern mit Kohlenherden wird das Gas abgestellt. Das Brennen von Heizsonnen ist verboten. Der Briefverkehr ist zu Ende. Viele Häuser bleiben ungeheizt.

Wie lange wird es noch Licht geben? Die U-Bahnen, S-Bahnen und Straßenbahnen schränken ihren Dienst ein. Auf den Berliner Bahnhöfen spielen sich Szenen ab, wie man sie seit den Tagen der großen Luftangriffe im Spätherbst und Winter 1943/44 nicht mehr erlebt hat.

Als ich gestern um Mitternacht Marietti auf den Schlesischen Bahnhof an einen Zug nach Hannover brachte, wurden wir Zeuge, wie die Reisenden sich kopfüber in die Abteile stürzten und jeden niedertrampelten, der ihnen im Wege war.

Außer den Flüchtlingen bevölkerten Tausende von Urlaubern die Bahnhöfe. Was sie angesichts der verzweifelten Lage an der Front im Hinterland tun, weiß niemand. Der ungeheizte Zug setzte sich aus einem Konglomerat von Wagentypen zusammen. Von den zehn Eingängen des Schlesischen Bahnhofs waren acht geschlossen, was den Andrang verschlimmerte. Der Winter hat mit Neuschnee und niedrigen Temperaturen wieder eingesetzt.

Freitag, den 26, Januar 1945 - eisige Kälte und Schneegestöber

Gestern abend, als ich mit Leo Fürstenberg bei einem Schnaps saß, meldete sich Uscha Geyr auf der Flucht aus dem Warthegau. Mit zwei schweren Koffern und zwei kleinen Kindern, obdachlos, hungrig und frierend, war sie auf dem Bahnhof Zoo gestrandet. Bei eisiger Kälte und starkem Schneegestöber machten wir uns auf den Weg, um die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen.

Da die Straßenbahn nicht verkehrte und kein Vehikel aufzutreiben war, mußten wir mit den kleinen Kindern vom Bahnhof Zoo nach der Kielganstraße laufen. Die schweren Koffer zogen wir an einem Seil, das aus meinem Taschentuch, Leos Bauchriemen und einem Seil geknüpft worden war, durch den Schnee hinter uns her.

Uscha war mit einem NSV-Transport (NS-Volkswohlfahrt) gekommen. Sie hatte Luisenau im Warthegau vor acht Tagen in einem der letzten Züge verlassen, in einem Forsthaus bei Sagan Station gemacht und mit dem Näherrücken der Front die zweite Etappe der Flucht bis Berlin angetreten.

Sie will morgen ins Rheinland weiter. Teddy Geyr, ihr Mann, war nicht zu bewegen, seine Familie zu begleiten. Obwohl ihn, den im Westen angesessenen Rheinländer nichts an die westpreußischen Besitzungen seiner Frau bindet und sein diplomatischer Rang es ihm leicht machen würde, sich abzusetzen, glaubt er, auf den von den Russen nun unmittelbar bedrohten Gütern aushalten zu müssen.

Montag, den 29. Januar 1945 - auf den Landstraßen

Wochenende bei Pfuels in Jahnsfelde, wahrscheinlich zum letzten Mal. Pfuels Schwiegervater, Leo Geyr, Nachfolger Guderians als Generalinspekteur der Panzertruppen, fuhr uns hinaus. Auf der vereisten, schneeverwehten Straße und gegen den scharfen Ostwind kamen wir nur mühsam voran.

Ströme vorbeiziehender Flüchtlinge und Truppen auf dem Rückzug boten einen trostlosen Anblick. Abgetriebene Pferde und größtenteils offene Wagen, auf denen sich die Menschen unter Wolldecken und Strohbündeln vor der klirrenden Kälte zusammenkauerten.

An der Straßenkreuzung in Müncheberg kamen wir ins Schleudern und stießen mit einem LKW der Luftwaffe zusammen, was Geyrs Wagen erhebliche Dellen und seiner Tochter eine blutige Nase eintrug.

In Jahnsfelde kampierte ein Treck von fünfzig Leuten auf Strohschütten im Speisesaal des Schlosses. Am Sonntag erschienen Quartiermeister eines Armeestabes, um den Besitz zu beschlagnahmen.

Gleichzeitig wollte das Auswärtige Amt den aus Krummhübel geflüchteten Staatssekretär Keppler dort unterbringen. Großes Durcheinander. Der Sonntag verging mit Kofferpacken.

Schrecklich, ein großes Haus auflösen zu müssen, in dem die Familie ein halbes Jahrtausend gewohnt hat und von dem man nicht weiß, ob man es jemals wiedersieht.

Meldungen vom 29. Januar 1945

Sonntag abend wurden Panzerspitzen des Feindes bei Schwiebus und Meseritz gesichtet. Heute mittag tauchten 300 russische Panzer bei Landsberg auf. Die Kälte nimmt immer noch zu, ebenso der schneidende Wind. Wer kann, verläßt die Stadt.

Donnerstag, den 1. Februar 1944 - Berliner Stadtpolizei mit Karabinern

Seit heute früh tut die Berliner Stadtpolizei mit Stahlhelm und Karabinern Dienst. Nachts wurde der Volkssturm alarmiert. Auf der Referentenbesprechung im Amt fehlten viele. Strempel mußte auf dem Bahnhof Charlottenburg Wache beziehen, da feindliche Fallschirmjäger niedergegangen sein sollten. Als Jäger wurde er bei den Scharfschützen eingeteilt. Er verbrachte die Nacht rauchend und schlafend in der Kabine eines zusammengebrochenen Lastkraftwagens.

Behördlich organisierte Drückebergerei

Wie alles, so ist auch die Drückebergerei behördlich organisiert worden. Den Angehörigen der Obersten Reichsbehörden und anderer »kriegswichtiger« Stellen, die das zweite Aufgebot bilden, ist eine weiße »Z-Karte« ausgestellt worden. Falls sie zum ersten Aufgebot eingezogen wurden, müssen sie wieder entlassen werden.

Die eigentlichen Privilegierten sind die Inhaber von roten Z-Karten, die zum dritten Aufgebot gehören. Rote Z-Karten wurden an Reichspropagandaredner sowie an mittlere und hohe Funktionäre der Partei ausgegeben.

Krüppel und Kranke werden im vierten Aufgebot erfaßt. Der Führer hat am 30. Januar erklärt, er erwarte, daß jeder Kranke seine Pflicht erfüllt.

Was wird Goebbels tun? Als Gauleiter müßte er die Verteidigung der Stadt Berlin leiten, als Reichspropagandaminister die Stadt verlassen, wenn sich die Reichsregierung an einen anderen Ort begibt.

Die Russen haben die Oder überschritten

Die Russen haben im Lauf der Nacht zwischen Wriezen und Küstrin die Oder überschritten. Die Bedrohung Berlins wächst stündlich. Die Bevölkerung verhält sich ruhig.

Daß »General "Tau"« uns retten wird, ist wenig wahrscheinlich, weil die Böden der Mark Brandenburg zu leicht sind, um sich bei Tauwetter in einen Panzer behindernden Morast zu verwandeln. Außerdem trifft der Gegner auf ein ausgezeichnetes Straßennetz.
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Wenn man mit der U-Bahn an die Ostfront fahren kann

Selbst jetzt verläßt die Berliner ihr Humor nicht. Kritisch wird die Lage erst, so hört man sie sagen, wenn man mit der U-Bahn an die Ostfront fahren kann!

Ein anderes geflügeltes Berliner Wort lautet: »Eh det ick mir hängen lasse, jloob ick liba an 'n Endsieg.«

Die letzte Führerrede löste Bemerkungen aus, wie: »Jetzt hat Adolf auch uns noch den Krieg erklärt.« Über die Barrikaden sagt man, sie würden Berlin retten, denn die Russen würden sich darüber totlachen.

Die Aufstellung des Volkssturms droht am Waffenmangel zu scheitern. Bei einem Appell von 1000 Volkssturmsoldaten waren achtzehn Gewehre verfügbar. Im Osten der Stadt werden aus Trümmern die ersten Straßensperren errichtet. Der Flüchtlingsstrom nach Berlin hält noch immer an.

Seite 280 - 89 Personen auf 20 Autos verteilen

Abends bei den Kroaten. Der Geschäftsträger, Alfred Rukavina, hat für den Abtransport von 89 Gesandtschaftsmitgliedern zu sorgen, für die nur zwanzig Autos zur Verfügung stehen. Das Auswärtige Amt erteilt den Diplomaten keinerlei Direktiven, wohin sie sich begeben sollen.

Während Rukavina sich bekümmert zeigt, nimmt Geza Pejascevich alles von der heiteren Seite. Nachdem er sich erst von seinen Besitzungen in Jugoslawien, dann aus Budapest absetzen mußte und ihm die Russen jedesmal »schon halb in den Hintern bissen«, hat er Übung im Fliehen!

Totales Chaos in den Ostgebieten

Ein Professor der Gleiwitzer Technischen Hochschule hat der Roten Armee berichtet: »Wir haben alle den Kopf verloren. An einem Tag gab der Gauleiter Schlesiens eine Verordnung heraus, in der er im Namen Hitlers betonte, daß der Bezirk nicht gefährdet sei und jeder bleiben müsse; für Gerüchtemacher wurde Todesstrafe angedroht. Am nächsten Tag gab der gleiche Gauleiter eine neue Verordnung heraus, in der befohlen wurde, Vorbereitungen für eine sofortige Räumung zu treffen mit dem Zusatz, daß alle, die zurückzubleiben versuchen, gehängt würden.«

Begehrtester Besitz ist ein Auto mit Benzin geworden. Unheimliche Mengen von Kaffee, Spirituosen und Zigaretten erscheinen auf dem schwarzen Markt, um gegen PKWs und Treibstoff getauscht zu werden.

Die Zeitungen kommen in Ausgaben von nur einem Blatt mit zusammengeschrumpften Titeln und Überschriften heraus.

Montag, den 5. Februar 1945 - die Apokalypse ihren Einzug gehalten

Mit dem Tagesangriff vom letzten Samstag, der sich gegen die Innenstadt, das Regierungsviertel und die Bahnhöfe richtet, hat die Apokalypse ihren Einzug in Berlin gehalten.

Der Alarm begann um 10.45 Uhr und endete 12.30 Uhr. Im »Adlon«-Bunker stand von oben eingeflossenes Tauwasser einen Fuß hoch. Zu den Kabinen im Schutzraum waren Laufstege geschlagen.

Viele Leute wateten zwei Stunden lang unter der Erde im eisigen Wasser. Unter den schweren Einschlägen zitterte und schwankte der Adlon Bunker wie ein gewöhnlicher Hauskeller. Schließlich erlosch die Beleuchtung, und man wähnte sich lebendig begraben.

Im Amt wurden ein Flügel des Ministerbüros und das Haus Nummer 73 getroffen. Zwischen den Trümmern sah man den Reichsaußenminister und den japanischen Botschafter, umringt von einer Volksmenge, auf- und abwandern, während Uniformierte die Hand zum Hitlergruß erhoben.

Ribbentrop hatte Uniform angelegt, Oshima Lederjacke und Hans-Huckebein-Mütze. Beide stützten sich auf Knotenstöcke. Über der Stadt blähten sich riesige Rauchwolken. Das Schloß, das Hotel »Esplanade«, das Hotel »Fürstenhof«, das Zeitungsviertel brannnten.

Das Deutsche Nachrichtenbüro und die Transocean Agentur sind lahmgelegt, die Antiquitätenhandlung der AWAG (Wertheim) im Ausweichquartier der Lennestraße zerstört.

Blindgänger und große Pfützen, aus zerborstenen Wasserrohren gespeist, machten die Straßen unpassierbar. Ich half Strempels, ein paar Sachen aus der Ruine des »Esplanade« zu bergen.

Das Hotel hat sieben Treffer erhalten, die die beiden oberen Stockwerke wegbliesen und ein gegenüberliegendes eben eingeweihtes Kino verschwinden ließen.

  • Anmerkung : Wie die Mutter des Autors Gert Redlich - sie war Vertiebssekretärin in der Berliner UFA - erzählte, wurden von der UFA nach jedem Angriff die Kinos schnellstmöglich technsch wiederhergestellt.

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Nacht für Nacht glutroter Himmel

Über den Bildern der Zerstörung steht Nacht für Nacht ein mondloser, in blutiges Rot und fahles Gelb getauchter Himmel. Der neue Kommandeur des Wehrkreises III, General von Hauenschild, rügt im Drahtfunk die unsachgemäße Anordnung von Tanksperren.

Täglich um 20.15 Uhr, im Anschluß an den Alarm, kommt die Gauleitung im Drahtfunk zu Wort. Die Lebensmittelmarken sollen eine halbe Woche länger reichen. Goebbels, der die Berliner auf das Äußerste vorzubereiten sucht, teilt mit, daß er den eingeschlossenen Garnisonen von Königsberg, Thorn und Posen täglich telephonische Ratschläge gebe, wie sie sich gegen die Russen
verteidigen sollen.

Niemals hat die Stadt wüster ausgesehen, als in diesen Tagen, in denen Tau- und Regenwetter ihre Trümmer mit Matsch bedeckt und schmutzige Fluten durch die Straßen spült.

Die Soldateskas bedanken bzw. rächen sich

Von der Front sich absetzende Soldateska hat C. C. Pfuels Schloß in Jahnsfelde demoliert, Türen und Fenster, Gläser und Porzellan zerschlagen, die Wäsche, das Silber, die aufgebockten Automobile gestohlen, Geflügel und Schweine abgestochen, auf die prachtvollen Danziger Schränke Panzerfäuste abgeschossen.

In einer Nacht kampierten 800, in einer anderen 600 Soldaten in den Salons. Strempels haben ihr Jagdhaus in Münchehofe aufgeben müssen.

Evakuierungspläne für Berlin adakta gelegt

Evakuierungspläne, die letzte Woche festere Gestalt annahmen, sind wieder hinfällig geworden. Im Reichsverteidigungsrat wurde beschlossen, daß die Reichsregierung in Berlin bleiben soll, um hier auf ein Wunder zu warten oder unterzugehen.

Der Beschluß wurde gefaßt, weil sich eine Evakuierung von vier Millionen Berlinern als technisch unmöglich herausgestellt hat und man die Bevölkerung nicht zwingen kann, auszuharren, wenn die Regierung fortgeht.

Für den Fall,, daß der Russe in Berlin eindringt, will man die Stadt in drei Ringen verteidigen. Den innersten Ring bildet das Regierungsviertel. Jede Ortsgruppe des Volkssturms soll sich in ihrem Quartier einigeln.

Damit sind die Hoffnungen vieler, nach dem Westen zu entkommen, hinfällig geworden. Wer sich absetzt, riskiert in Landesteilen, in denen der Apparat des Regimes noch funktioniert, aufgegriffen und als Deserteur erschossen zu werden. Wer hier bleibt, hat die Wahl zwischen Tod und russischer Gefangenschaft.

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