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"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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DIE HERRIN DER WELT

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Joe May hat auch solche gigantischen Ideen

Nur mit Joe May hat Davidson Kummer. May hat „Veritas Vincit" gedreht, einen Film, der doppelt so lang war wie andere Filme und doppelt so viel kostete - und, Davidson muß zugeben, doppelt so viel einbrachte.

Und daraufhin ist May größenwahnsinnig geworden. „Ich werde etwas machen, was noch nie dagewesen ist." „Ich werde die Leute dazu zwingen, achtmal so lange im Theater zu sitzen und achtmal so viel zu bezahlen."

Der kleine Davidson hält es für einen Witz. Aber Joe May meint es ernst. Er geht in die Küche. Mia May ist gerade dabei, eine Gans zu braten. Joe fragt sie: „Was würdest du von einem Film halten, in dem du in acht verschiedenen Generationen auftrittst?" „Macht mich das nicht sehr alt?"
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Der französische Serienfilm: „Der Graf von Monte Christo"

Ein paar Wochen später befinden sich Joe und Mia May in Hamburg. Da sie am Nachmittag nichts zu tun haben, gehen sie ins Kino und sehen den dritten Teil eines ausgezeichneten französischen Serienfilms: „Der Graf von Monte Christo".

Es ist nicht die erste Verfilmung des alten Romans von Alexandre Dumas, und es wird auch nicht die letzte sein. Joe May, der den Roman von Dumas nicht mehr gut in Erinnerung hat, ist fasziniert, und er rast in ganz Hamburg umher, um noch am gleichen Abend den ersten und zweiten Teil des Filmes zu sehen. Nachts im Hotel sagt er zu Mia: „Dies wird dein nächster Film."

Die Gräfin von Monte Christo

„Was wird mein nächster Film?" „,Der Graf von Monte Christo"', und er fährt fort: „Du bist nicht der Graf von Monte Christo, sondern die Gräfin von Monte Christo, eine Frau, der man Unrecht getan hat, und die unermeßlich reich wird und sich dann an allen ihren Feinden rächt. Die Sache ist ganz einfach!"

Jetzt ist Joe May in Fahrt. Jetzt kann ihn nichts mehr halten: „Laß mich nachdenken ... Was fehlt den Leuten heute noch? ... Der Krieg ist zu Ende. Es geht ihnen nicht gut... sie kommen kaum aus ihren vier Wänden heraus... Reisen ist schwierig geworden, Auslandsreisen sind unmöglich, da der Dollar mit jedem Tag steigt... „Ich hab's! Wir müssen einen Film machen, der nicht nur eine Frau zeigt, die sehr viel Geld hat, die reichste Frau der Welt...!

Ein Film für die ganze Welt soll es werden

Wir müssen einen Film machen, der auf allen fünf Kontinenten spielt. Die Leute sollen Japan zu sehen bekommen und China, Afrika und Amerika ... Nebenbei: wir werden überall hinfahren. Das wird ganz amüsant werden! Ich sehe den Film schon vor mir. Und damit die Leute nicht böse werden, wird die reichste Frau der Welt unglücklich sein. Verstehst du, Mia? Du bist die reichste Frau der Welt und die unglücklichste."

"Das beruhigt die Leute, die kein Geld haben ..." „Und wie soll der Film heißen?" „Das ist doch klar. Der Film heißt: ,Die Herrin der Welt'. Die Idee ist in meinem Kopf schon fix und fertig!" Und er setzt sich hin und schreibt acht Zeilen nieder.

Acht Zeilen - acht Titel, der acht Filme, die die Serie „Die Herrin der Welt" ergeben sollen:

  1. Die Freundin des gelben Mannes
  2. Die Geschichte der Maud Gregaards
  3. Der Rabbi von Kuan-Fu
  4. König Makombe
  5. Ophir, die Stadt der Vergangenheit
  6. Die Frau mit den Milliarden
  7. Die Wohltäterin der Menschheit
  8. Die Tragödie der Rache

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Die Geschichte dieser acht Filme

Die Geschichte dieser acht Filme ist in nicht viel mehr als acht Zeilen erzählt:

Die junge, schöne Maud Gregaards hat den Baron Murphy verschmäht. Darauf hat dieser beschlossen, sie zu ruinieren. Und was der böse Baron Murphy beschließt, tut er auch.

Den Vater Mauds treibt er in den Bankrott mit anschließendem Selbstmord. Die Mutter wird wahnsinnig. Die Tochter steht ohne Haus und Hof, ja geradezu ohne möbliertes Zimmer da.

Gibt sie sich jetzt dem Baron Murphy hin? Mitnichten. Sie zieht vielmehr aus, einen unermeßlich reichen Schatz zu finden, der irgendwo versteckt ist. Jedenfalls zieht sie durch die ganze Welt, immer umringt von Männern, die sie lieben, die sie aber, ach, nicht lieben kann.

Schließlich findet sie den Schatz, wird (siehe Teil VI) die Frau mit den Milliarden, verliert aber den einzigen Mann, den sie lieben könnte, durch einen ebenso fotogenen wie unwahrscheinlichen Unglücksfall, kehrt in ihre Heimat zurück und ruiniert den bösen Baron Murphy. (Die Tragödie der Rache.) Sie treibt ihn in des Wortes wahrster Bedeutung von Tür und Tor, und wir sehen ihn, kurz vor seinem Tode, im Schneegestöber umherirren.

Geschieht ihm recht - werden die Zuschauer sagen

Nur: War dazu eine Weltreise mit Erdbeben, Schiffsuntergängen, einstürzenden Gebäuden und was es sonst noch alles gibt, nötig? Ja, das alles war nötig.

Joe May will alles „ganz groß" machen. Dies soll ein Film werden, wie er nie vorher da war, und wie er nie nachher wieder gemacht werden kann. May kauft in der Nähe der Woltersdorfer Schleuse bei Berlin ein Terrain, das fünfundsiebzig Morgen groß ist, mit Hügeln, Tälern, Wäldern und einem See.

Hier wird er China, Amerika, Afrika aufbauen, die halbe Welt!
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„Die Herrin der Welt" wird auch ein Riesenerfolg der UFA

„Die Herrin der Welt" wird ein Riesenerfolg - in Deutschland, in ganz Europa. Ein halbes Jahr lang kann man in keine Stadt kommen, ohne auf die riesenhaften Plakate zu stoßen, die Mia May in schrecklichen Gefahren darstellen.

Davidsons Miene hellt sich auf. Die Kassen der UFA füllen sich. Davidson zu Joe May: „Und was werden Sie jetzt machen?" Joe May weiß es noch nicht. Soll er noch einen achtteiligen Film drehen? Nein, er will sich nicht wiederholen! Einen zehnteiligen Film? Da würde das Publikum vielleicht doch nicht mehr mitmachen ...

Paul Wegener zeigt - Es geht auch einfacher

Man kann auch große Wirkungen ohne ein solches Monster-Aufgebot an Schauspielern, Statisten und Ausstattungen erzielen. Paul Wegener, der erste wirklich künstlerische Regisseur des deutschen Filmes, beweist es.

Er dreht um die gleiche Zeit einen Stoff, der ihn von jeher interessiert hat: „Wie der Golem in die Welt kam." Die Geschichte hat Wegener frei nach einem Gedicht von Heinrich Heine selbst erfunden:

Die Geschichte .... des "Golem"

Der Rabbi Loew erweckt in einer aus den Sternen gelesenen Stunde den Lehmkoloß zum Leben, der ihm als ein stummer, mächtiger Diener gehorcht. Als die Juden vom Kaiser den Befehl erhalten, das Ghetto zu räumen, zieht der Rabbi mit seinem Geschöpf an den mittelalterlichen Kaiserhof und bittet um Gnade für sein Volk.

Der Kaiser verlangt von dem Wunderrabbi eine Zauberei. Unter der Bedingung, daß niemand lacht, zeigt der Rabbi den staunenden Herren und Damen vom Hof eine Vision - den Zug des Volkes Israel durch die Wüste. Als letzter wankt Ahasver, der ewige Jude, heran.

Als der Hofstaat in Gelächter ausbricht, erbeben die Mauern des Palastes und stürzen ein. Im letzten Augenblick stützt der Golem die Balken der Saaldecke und rettet den Kaiser, der daraufhin die Juden begnadigt.

Aber der Rabbi findet in seinen Büchern die Warnung: „Hast du den Golem zum Leben erweckt, sei auf der Hut vor deinem Geschöpf! Tritt der Uranus ins Planetenhaus, dann spottet der tote Lehm seines Meisters und sinnt auf Trug und Zerstörung!"

So kommt es auch. Der Golem, der sich auf seine dumpfe und unbegreifliche Art in die Tochter des Rabbi verliebt hat, gerät in Raserei, als er sieht, daß diese sich mit einem jungen Aristokraten einläßt.

Er tötet den jungen Liebhaber. Und nun läuft er Amok. Was sich ihm in den Weg stellt, wird zerstört. Mit einer Fackel steckt er das Haus seines Herrn in Brand. Nicht nur dieses Haus geht in Flammen auf, das halbe Ghetto brennt nieder.

Niemand wagt sich dem Golem entgegenzustellen, der über unermeßliche Kräfte verfügt. Er stapft durch die Gassen, von Zerstörungswut besessen. Da steht vor dem Tor des Ghettos ein kleines Kind, das dem seltsamen Riesen zutraulich einen Apfel entgegenhält. Der Golem hebt das Kind zu sich empor.

Ein Zucken geht über sein tönernes Antlitz. Er lächelt. Zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben. Während die Bewohner des Ghettos mit Entsetzen aus den Fenstern sehen, denn sie sind überzeugt, daß der Golem das Kind zermalmen wird, fallen die Blicke des Kindes auf den leuchtenden Stern auf der Brust des Golem.

In diesem Stern steckt das Stück Pergament, durch das der Rabbi dem Golem Leben verliehen hat. Spielerisch zieht das Kind es heraus. Die Arme des Golem sinken herab, und alles Leben weicht aus dem unförmigen Koloß. Die Juden sind gerettet.

Dieser Film ist ganz anders als die Monumentalfilme

Das ist ein ganz anderer Film als die Filme Ernst Lubitschs oder Joe Mays - und doch ein großer Film. Ein ganz anderer Film: einer, in dem es um keine Liebesgeschichte geht, einer, in dem nicht ein Mensch, sondern ein aus Ton geformtes Wesen die Hauptrolle spielt, einer, dessen Handlung nicht in dem genau nachgebauten historischen Paris oder London, sondern in einem mittelalterlichen Prag läuft, das der große Architekt Pölzig hat erstehen lassen, und das nichts mit dem historischen Prag gemeinsam hat.

Das ist keine Dekoration. Das ist ein Traum. Die Gassen und Plätze haben keine Realität. Sie wirken unwirklich, überwirklich. Da gibt es Winkel und Erker, Fenster und Türen, wie wir sie aus unseren Träumen kennen, nicht aus dem Leben.

Da gibt es geheimnisvolle Gänge, in denen sich das Licht bricht, in denen die Schatten länger und länger werden und immer unheimlicher. Das ist eine „düstere und dumpfe Welt", wie Theodor Heuss in seinem Buch über den Architekten Pölzig später schreiben wird.
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Im Mittelpunkt des Films steht Paul Wegener

Im Mittelpunkt des Films steht Paul Wegener, ein Golem wie aus Holz geschnitzt, starr, unheimlich, unbegreiflich, aus einer anderen Welt. Neben ihm der große Charakterdarsteller Albert Steinrück als Rabbi.

Der Golem-Film läuft nicht nur in Berlin, er läuft auf der ganzen Welt mit Erfolg. In New York allein ist er zehn Monate ausverkauft. Und an einem Abend wird in New York so viel Geld eingenommen, wie der Hauptdarsteller für seine ganze Arbeit bekommen hat - die Inflation läuft in Deutschland auf vollen Touren.
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CALIGARI

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Erich Pommer - Direktor der Decla-Bioskop-Gesellschaft

Es ist an der Zeit, von einem Mann zu sprechen, der für den deutschen Film der Nachkriegszeit von vielleicht entscheidenderer Bedeutung werden sollte, als irgendein anderer Regisseur oder Schauspieler.

Dieser Mann ist Erich Pommer, um diese Zeit der Direktor der Decla-Bioskop-Gesellschaft, eine der wenigen großen Firmen, die von der UFA nicht aufgekauft worden sind. Er hatte seinerzeit, wie wir wissen, gegen die Gründung protestiert.

Pommer, ein großartig aussehender Mann, ist schon sehr lange beim Film. Seine Schwester war damals Sekretärin in der Berliner Filiale der französischen Gaumont-Gesellschaft.

Die gab - es war lange vor dem ersten Weltkrieg - einen kleinen Ball für ihre Angestellten, und der Chef forderte die Schwester auf, ihren Bruder mitzubringen.

Erich Pommer kam also und unterhielt sich mit dem Gaumont-Film-Mann, und der sagte nach einer knappen halben Stunde zu ihm: „Sie müssen zum Film!" Am nächsten Tag engagierte er Erich Pommer.
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Erich Pommer sollte das BUFA leiten

Von der Gaumont ging Pommer zu der deutsch-französischen Gesellschaft Eclair (das sind die mit den berühmten 35mm Kameras), dann kam der Krieg. Pommer wurde eingezogen. Als Feldwebel bildete er zwei Jahre lang Soldaten aus. Dann wurde er in das Büro des Generalstabes gerufen. „Sie sind doch Filmmann?" fragte ihn ein hohes Tier mit sonorer Stimme.

„Jawohl, Herr Oberst", sagte Pommer. „Dann werden wir Sie auf den Balkan schicken. Sie werden das Bild- und Film-Amt (BUFA) leiten." „Gerne, Herr Oberst, aber bitte nicht in der Uniform eines Feldwebels."
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Pommer wurde zuerst auf den Balkan geschickt

Pommer erhielt die Erlaubnis, Zivil zu tragen. Er wurde auf den Balkan entsandt, wo er das Bild- und Film-Amt leitete.

Zu seinen Untergebenen gehörten ein Hauptmann und zwei Leutnante. Auf dem Balkan machte er auch die Bekanntschaft von Ludwig Klitzsch - der die „Deutsche Lichtspiel-Gesellschaft" dort unten aufgezogen hatte.

Offiziell als Vorhut schwerindustrieller Interessenten. Klitzsch wollte Pommer sogar engagieren, aber es wurde daraus nichts, und schließlich ging Pommer wieder nach Berlin zurück und bildete weiter Soldaten aus.

Nach dem Krieg ging er wieder in seine alte Firma zurück, sie hieß nun nicht mehr Eclair - diesen Namen hatte sie im Krieg abgelehnt - sondern Decla und fusionierte mit einer der ältesten deutschen Filmgesellschaften, der Bioskop.

Als Direktor der Decla-Bioskop war Pommer auch der erste Chef von Fritz Lang, der von der Firma als Dramaturg von Wien nach Berlin geholt worden war und bereits seine ersten Filme inszenierte. Im Augenblick war er gerade dabei, einen Serienfilm „Die Spinnen" abzudrehen.
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Erich Pommer hat Phantasie und beherrscht sein Handwerk

Dieser Erich Pommer ist also ein alter Filmhase. Und zum Unterschied von den meisten Direktoren der anderen Filmgesellschaften beherrscht er sein Handwerk. Man braucht ihm nur eine Idee vorzutragen, und er weiß sofort, ob sie was wert ist oder nicht.

Er liest ein Filmmanuskript in einer halben Stunde und legt seinen Finger an die wunde Stelle. Er hat Phantasie genug, um Schauspieler, Regisseure und Fotografen für einen Film auszuwählen.

Er kann sogar einen Film schneiden - und seine Regisseure wissen ein Lied davon zu singen. Denn er schneidet mit großer Vehemenz. Er schneidet die Stellen heraus, die ihnen besonders am Herzen lagen. Er ist ihren Beschwörungen unzugänglich. Er wütet geradezu mit der Schere. „Das Publikum muß immer denken, daß es schade ist, daß die Szene nicht länger war", erklärt er einmal.

Er weiß genau, wo die Aktschlüsse - damals gibt es noch Aktschlüsse - sitzen müssen und wo die Höhepunkte. Er weiß, daß der Film sehr plötzlich enden muß, denn: „Die Leute warten ja doch nie bis zum Ende. Sie wollen sich an der Garderobe nicht drängeln, sie wollen einen guten Platz im Autobus oder in der Untergrundbahn erwischen."
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... und betrachtet die Gesichter der Herauskommenden

Oft steht er vor dem Kino und betrachtet die Gesichter der Herauskommenden. Er drängt sich zwischen sie und hört, was sie zu sagen haben. Das ist ihm wichtiger als alles, was er in der Zeitung liest.

Er hat Erfolg. Seine Filme gehen. Aber nichts wäre verkehrter, als in Pommer den erfolgreichen Filmkaufmann zu sehen. Er ist auch Künstler.

„Das Beste ist gerade gut genug für das Publikum!" erklärt er. Wenn er von einer Sache überzeugt ist - von einer Idee, von einem Schauspieler, spielt Geld keine Rolle mehr. Er gibt ungeheure Gelder aus, wenn er glaubt, daß es nötig ist. Er hat Phantasie. Er sieht Möglichkeiten, die kein anderer sieht.

Er weiß, daß ein Schauspieler diese oder jene Rolle spielen kann oder muß, obwohl der Schauspieler selbst es niemals glauben würde. Er scheut kein Risiko. Aber er setzt immer auf das richtige Pferd. Ein Beispiel für viele ist der Fall Caligari.

„Das Kabinett des Dr. Caligari"

....  - der Film, der eine riesige Sensation werden wird, hat eine Vorgeschichte, die vielleicht noch interessanter ist als der Film selbst. Sie beginnt im Sommer 1919 in Berlin.

Im Romanischen Cafe (das ist das Haus, in dem der Gloria-Palst gebaut wurde), in dem die Literaten und Schauspieler verkehren, treffen sich der tschechische Schriftsteller Hans Janovitz und der Österreicher Carl Mayer.

Keiner von ihnen hat bisher mit dem Film zu tun gehabt. Die beiden reden von Behörden und vom Krieg. Sie sind gegen beide. Janovitz ist Offizier in einem Infanterie-Regiment gewesen und während des Krieges ein überzeugter Pazifist geworden.
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Carl Mayer erzählt sein Leben.

Er stammt aus Graz. Eines Tages - es war etwa zwei Jahre vor dem Krieg - erklärte sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, er werde sein Vermögen in Monte Carlo verzehnfachen. Er hatte, wie viele vor ihm, ein unfehlbares System entdeckt.

Einige Monate später kam er ohne einen Gulden nach Graz zurück. Die Katastrophe hatte seinen Geist verwirrt. Er fürchtete, verhungern zu müssen. Kurzerhand warf er den sechzehnjährigen Carl und seine drei jüngeren Brüder auf die Straße.

Denn: „Ihr eßt mir ja doch nur das Letzte weg!" Dann schnitt er sich den Hals durch. Carl Mayer mußte seine Brüder irgendwie durchbringen. Er nahm jede Arbeit an.

Er wurde Hausdiener, Hausierer, arbeitete in einem Zirkus, am liebsten beim Theater ... Es waren keine richtigen Theater, es waren reisende Truppen, Schmieren.

Er sollte eingezogen werden, wozu er nicht die geringste Lust verspürte. Er erklärte, er fühle sich untauglich für den Wehrdienst. „Sie haben mich immer wieder untersucht - besonders meinen Geisteszustand. Es war ihnen wohl unfaßlich, daß ein normaler Mensch nichts mit dem Krieg zu tun haben wollte. Diese Psychiater! Sie sind alle verrückt!"

Eines Abends in der Beliner Kantstraße

Eines Abends besuchen die beiden Freunde einen Rummelplatz in der Kantstraße, nur ein paar hundert Meter vom Romanischen Cafe entfernt. Eine Bude „Mann und Maschine" interessiert sie besonders. Sie treten ein. Sie sehen den Mann, der, wie er behauptet, in Hypnose ungeheure Kraftleistungen vollbringt.

Auf dem Weg zurück fragt Mayer: „Glaubst du, daß das wirklich stimmt mit der Hypnose ... ?" Janovitz ist zerstreut. „Vielleicht..." Er schweigt eine Weile. Dann: „Hast du den kleinen Mann gesehen, der den Kraftprotzen hypnotisierte?

Er erinnerte mich an einen Mann ... Das war vor ein paar Jahren in Hamburg ... 1913 war es, im August. Eine sehr schwüle Nacht ... Ich spazierte auf der Reeperbahn in Hamburg umher ... Ich suchte ein Mädchen ... Ich hatte sie zwei Tage vorher gesehen, nicht nur gesehen ... Sie war eigentlich nicht hübsch im landläufigen Sinn. Aber sie war pikant ... Ich habe sie nie wiedergesehen ... Oder, wenn du willst, habe ich sie wiedergefunden.

Ich war am Holstenwall, weißt du, dort, wo das Bismarckdenkmal steht, auf der Helgo-länder Straße. Da ist ein kleiner Park .. . Und plötzlich höre ich eine Frau lachen. Ich hätte wetten können, daß es Gertrude war. Und dann geschah etwas sehr Seltsames. Jedenfalls kam es mir damals sehr seltsam vor. Plötzlich erschien aus der Dunkelheit ein Mann. Er mochte vierzig oder fünfundvierzig Jahre zählen ... Er war klein und dick ... er sah aus ... eigentlich sah er gar nicht besonders aus. Er sah aus wie ein Bürger. Ein Bürger auf Abwegen. Und er verschwand sogleich wieder. Offenbar wollte auch er zu Gertrude ..."

Janovitz schweigt grübelnd eine Weile.

„Am nächsten Tag Schlagzeilen in den Zeitungen: ,Entsetzlicher Sexualmord am Holstenwall!' Ich las, die Prostituierte Gertrude war ermordet worden ..." „Deine Gertrude?"
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Wie sie auf den Namen "Caligari" kamen

„Vielleicht. Ich kannte ja ihren Nachnamen nicht. Aber jedenfalls ging mir die Sache nicht aus dem Kopf. Ich erkundigte mich, wann und wo die Beerdigung stattfinden würde, und ich ging hin. Es war meine feste Überzeugung, daß der Mörder dort erscheinen würde." „Kam er?"

„Ich glaube ja. Jedenfalls kam jener kleine dicke Bürger, den ich im Gebüsch hatte verschwinden sehen. Ich erkannte ihn sofort. Er erkannte mich übrigens auch... Er starrte mich an, gewissermaßen beschwörend ... Ich hatte das Gefühl, als wolle er mich hypnotisieren, als wolle er mir befehlen, nichts auszuplaudern ..." „Und dieser Mann ...?"

„Der Mann auf dem Rummelplatz erinnerte mich an ihn. Vermutlich bilde ich mir die Ähnlichkeit nur ein." „Und was soll das alles?" „Der Lustmörder ... der Hypnotiseur auf dem Rummelplatz ... ein und dieselbe Person?" fragt Mayer.

Und fährt fort: „Ein Verbrecher ... Wie meine Psychiater ... Man müßte eine Figur erfinden. Einen Mann, der Psychiater ist und hypnotisieren kann und einen hypnotisiert - einen anderen, der den Mord für ihn begeht!"

„Und was soll das alles?" erkundigt sich Janovitz noch einmal. „Wir könnten eine Geschichte über diesen Mann schreiben", erklärt Mayer, der noch nie eine Geschichte geschrieben hat. „Oder ein Theaterstück oder einen Film!" Am nächsten Abend betritt Janovitz in großer Aufregung das Romanische Cafe. „Ich weiß jetzt, wie unser Mann heißt!" Er wirft ein Buch auf den Tisch: „Unbekannte Briefe von Stendhal". „Ich habe es auf einem Bücherkarren gefunden ...", Janovitz blättert. „Hier ist es. Hier erwähnt Stendhal einen Offizier, Caligari heißt er ..."
„Ja, so muß unser Mann heißen, Caligari!" Das ist der Beginn.
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Ein Drehbuch in sechs Wochen

In sechs Wochen schreiben die beiden Freunde ein Drehbuch: „Das Kabinett des Dr. Caligari". Die Handlung spielt in einer fiktiven deutschen Stadt nahe der holländischen Grenze: Holstenwall.

Eines Tages kommt ein Rummel in die Stadt - und da ist auch Dr. Caligari, ein seltsamer bebrillter Mann, klein und dick, der einen Somnambulen (Schlafwandler) namens Cesare anpreist. Um eine Lizenz zu erhalten, begibt sich Caligari aufs Rathaus, auf dem ein arroganter Beamter ihn schlecht behandelt.

Dr. Caligari beherrscht sich mit Mühe, aber er muß vor dem Beamten katzbuckeln, um die für ihn lebenswichtige Lizenz zu erhalten. Am folgenden Morgen liegt der Beamte erstochen in seinem Arbeitszimmer . ..

Die Geschichte geht weiter ....

Die Bevölkerung macht sich nicht viel Gedanken über den Mord. Alle Welt eilt zum Rummelplatz und bestaunt die Attraktionen. Unter denen, die das Zelt des Dr. Caligari betreten, befinden sich auch zwei Studenten: Allan und Franz, die beide das gleiche Mädchen lieben, Johanna, die Tochter eines Arztes.

Sie betrachten Cesare, der aus einer aufrecht stehenden, sargähnlichen Kiste steigt. Der Somnambule Cesare, so erklärt Dr. Caligari der gespannt lauschenden Menge, werde nun Fragen, die Zukunft betreffend, beantworten. Erregt fragt Allan: »Wie lange werde ich leben?«

Cesare öffnet den Mund: »Bis zum Morgen!« Morgens erfährt Franz, daß sein Freund Allan in der gleichen Art, wie jener Beamte auf dem Rathaus, erstochen wurde.

Sein Verdacht lenkt sich sogleich auf Dr. Caligari. Er stürzt zu Johannas Vater, dem Arzt, und überredet ihn, mit ihm gemeinsam Nachforschungen anzustellen. Mit einem Haftbefehl erzwingen die beiden Eintritt in den Wagen des Dr. Caligari vmd fordern ihn auf, den Trancezustand seines Mediums zu beenden.

Dr. Caligari ist außer sich. »Das ist gefährlich!« Aber ihm bleibt keine Wahl. Schon nähert er sich Cesare, um ihn zu wecken. In diesem Augenblick erscheint ein Polizist und ruft Franz und den Arzt auf die Wache. Ein Mann ist fest-
genommen worden, gerade als er seine Frau umbringen wollte.

Die Polizei vermutet, es handle sich um den Mörder Allans und des Beamten. Der Verhaftete bestreitet, daß er mit diesen Morden etwas zu tun habe. Aber niemand glaubt ihm. Nur Franz.

Der spioniert Dr. Caligari weiter nach. Nachts blickt er heimlich durch das Fenster im Wohnwagen. Er glaubt, Cesare in seiner Kiste liegen zu sehen. Aber wie kann das sein? Denn zur gleichen Zeit dringt Cesare in des Mädchens Johanna Schlafzimmer ein, zückt seinen Dolch, läßt ihn aber, von ihrer Schönheit bezaubert, sinken. Jetzt erwacht Johanna.

Sie sieht den fremden Mann und beginnt zu schreien. Da reißt Cesare sie aus dem Bett und stürzt fort mit ihr. Der Vater ist durch den Schrei erwacht. Er findet das Schlafzimmer seiner Tochter leer. Er stürzt auf die Straße. Die Nachbarn sind aus ihren Häusern geeilt. Hoch oben auf dem Dach sehen sie Cesare, in seinen Armen das Mädchen, das in Ohnmacht gefallen ist.

Der Vater und die Nachbarn nehmen die Verfolgung auf. Cesare steigt vom Dach herunter, läuft durch die Stadt. Auch Franz ist jetzt unter den Verfolgern. Es ist, als schwänden die Kräfte des Somnambulen. Hat das etwa damit zu tun, daß Dr. Caligari nicht zur Stelle ist, um ihm durch Hypnose neue Kräfte zu verleihen?

Cesare läßt das Mädchen fallen, schleppt sich mühsam weiter. Der Vater findet seine Tochter, hebt sie auf und bringt sie nach Hause. Immer langsamer werden die Schritte des völlig erschöpften Cesare. Er sinkt zusammen und ist tot.

Der Arzt hat den Entführer seiner Tochter nicht erkannt. Johanna, aus ihrer Ohnmacht erwachend, erklärt: „Cesare war der Mann, der mich verschleppte,"

Franz glaubt ihr nicht. Er hat Cesare doch zur gleichen Zeit, da die Entführung stattfand, in seiner Kiste gesehen. Als aber Johanna fest bleibt, eilt er von neuem zum Wohnwagen Caligaris. Dieses Mal begleiten ihn Polizisten. Sie dringen in den Wohnwagen ein. Die Polizisten öffnen die sargähnliche Kiste und finden - eine Puppe in Menschengröße, die dem Somnambulen Cesare gleicht.

Dr. Caligari flieht indessen. Er verschwindet in einem großen Gebäude. Franz bleibt vor dem Gebäude stehen, stellt fest, es ist ein Irrenhaus. Nun klingelt er und läßt sich beim Direktor der Anstalt melden, um ihm zu sagen, daß Dr. Caligari sich im Gebäude verbirgt.

Zu seinem Entsetzen entdeckt er: der Direktor und Dr. Caligari sind identisch. Wer hätte das gedacht! In der folgenden Nacht - der Direktor schläft - durchsuchen Franz und drei Assistenten der Anstalt, die er eingeweiht hat, das Büro des Direktors und finden ein Buch über einen Gaukler Caligari, der im achtzehnten Jahrhundert durch Norditalien reiste, sein Medium Cesare durch Hypnose zu Morden zwang und, während die Tat begangen wurde, um ein Alibi zu haben, eine Wachspuppe, die Cesare aufs Haar glich, in seinem Zelt ließ.

Die Suchenden blicken einander an. Das Rätsel löst sich. Die Assistenten wissen zu berichten, daß der Direktor seit längerer Zeit von der fixen Idee besessen sei, seine hypnotischen Fähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen.

Als ihm unlängst ein Somnambuler als Patient übergeben wurde, wiederholte er offenbar mit ihm des historischen Dr. Caligari schreckliche Taten. Um den Direktor zum Reden zu zwingen, führt man ihn zur Leiche des Somnambulen. Als er Cesare tot sieht, beginnt der Direktor zu toben und muß schließlich in eine Zwangsjacke gesteckt werden.
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Dies ist die Geschichte des Dr. Caligari ....

..... niedergeschrieben von Janovitz und Mayer. Eine seltsam unheimliche Geschichte im Stil von E.T.A. Hoffmann und sicher unter dem Einfluß von Paul Wegeners ersten Filmen geschrieben. Die Autoren hoffen, daß das Publikum begreifen wird, um was es sich handelt: Cesare ist der Durchschnittsbürger.

Er muß das tun, was sein Vorgesetzter von ihm verlangt - und der Vorgesetzte muß nicht unbedingt ein Irrenhaus-Direktor sein, eher schon ein General oder ein Minister.

Der Durchschnittsbürger muß töten, um am Ende selbst getötet zu werden. Der Irrenhaus-Direktor ist Symbol für die Generale, er ist Symbol für die Regierungsgewalt.

Es soll gezeigt werden, wie absurd es ist, einzelnen Menschen unbeschränkte Machtbefugnis über die Menschheit zu erteilen, menschliche Rechte und Werte mißachtend ... Dr. Caligari soll ein Film werden, der das System der Diktatur geißelt.
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Immer mehr Fragen tauchen auf ...

Aber wird "Caligari" je ein Film werden? Wird das Publikum das „Kabinett des Dr. Caligari" je sehen? Man bedenke: Zwei junge Leute, die noch nie etwas mit dem Film zu tun gehabt haben!

Aber da sind noch andere Bedenken: Würde es nicht furchtbar teuer sein, einen solchen Film zu machen? Es würde ein Vermögen kosten, wenn man alle die Bauten ausführt, die im Drehbuch vorgesehen sind. Es sträubt sich auch irgendetwas in Pommer, den Film realistisch zu machen.

Deshalb läßt er sich ausgesprochen moderne Maler und Architekten kommen, und zwar Hermann Warm, Walter Röhricht und Walter Reimann. Die entwerfen seltsame Dekorationen. Straßen mit schiefen Häusern, mit ovalen Schornsteinen, mit schiefen Fenstern.

Bäume, die aussehen, als griffen die Hände eines Ungeheuers nach einem. Treppen, finster, erregend. Als man im Büro der Decla-Bioskop die Entwürfe sieht, schüttelt man kollektiv den Kopf.

Pommer ist keineswegs verrückt geworden

„Jetzt ist Pommer ganz verrückt geworden!" Aber Pommer ist keineswegs verrückt geworden. Als er die Entwürfe zum ersten Mal sah, hatte er selbst Bedenken. Er erklärte den Malern und Architekten, daß er ihre Arbeit nicht brauchen könne. Aber die ließen sich nicht abschrecken. Sie kamen wieder.

Sie kamen immer wieder und stets mit neuen Entwürfen, und sie rechneten ihm schließlich aus, daß drei von ihnen entworfene Dekorationen achthundert Mark kosten würden. Ist das zuviel? Pommer stutzt. Gebaut würden diese Dekorationen mehr als das Zwanzigfache kosten. Also läßt er sie malen.

Der Film wird nicht nur neuartig sein. Er wird auch billig sein. Dennoch wird Pommer gewarnt. „Sie wollen doch nicht ernstlich dieses verrückte Buch drehen lassen? Das Experiment... und wenn es mißlingt...!" „ ... werden wir Geld verlieren! Ich weiß! Aber der Film ist eine neue Industrie. Der Film lebt von Experimenten. Ich mache den Film!"

Fritz Lang hat keine Zeit

Und wer soll Regie führen? Erich Pommer denkt an Fritz Lang. Aber der steckt in den Aufnahmen zu den „Spinnen". Er hätte zwar viel größere Lust, „Das Kabinett des Dr. Caligari" zu verfilmen, aber da „Die Spinnen" zu Ende gedreht werden müssen, hat er keine Wahl. Da Fritz Lang keine Zeit für den Film hat, holt sich Pommer den Regisseur Dr. Robert Wiene.
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Dr. Robert Wiene soll Regisseur werden

Der scheint ihm besonders gut geeignet, diesen Film zu drehen. „Sie sind doch, wenn ich nicht irre, der Sohn des Schauspielers Wiene ... ?" „Ja, der bin ich."

Pommer nickt. Er weiß, daß der alte Wiene vor einigen Jahren verrückt geworden ist. Man mußte ihn in eine Irrenanstalt bringen. Also kennt der Sohn das Milieu. Wiene soll das Manuskript lesen. Nach drei Tagen ruft Pommer bei ihm an: „Nun, was sagen Sie?" Wiene hat das Drehbuch bisher nicht gelesen. Aber das will er Pommer nicht sagen. So erklärt er: „Ich finde das Drehbuch großartig!"

„Gut!" erklärt Pommer. „Dann können wir sofort beginnen."

Conrad Veidt und Lil Dagover und Werner Krauß

Die Besetzung: Das Medium Cesare soll Conrad Veidt spielen. Das Mädchen Johanna die junge Lil Dagover, die auch in Fritz Längs „Spinnen" mitwirkt. Dr. Caligari - Werner Krauß .. . Werner Krauß, damals bei der Decla-Bioskop im festen Kontrakt, bekommt eines Tages einen Anruf.

Irgendjemand aus dem Direktionsbüro verständigt ihn: „Am Montag beginnt der neue Film. Bitte seien Sie um neun Uhr im Atelier in Weißensee." Das bedeutet für Krauß, der im Berliner Westen wohnt, daß er mit der Linie 3 um halb acht Uhr morgens wegfahren muß. Diese Aussicht bereitet ihm alles andere als ein Vergnügen.

„Und wie steht es mit dem Kostüm?" „Es handelt sich um einen modernen Stoff", erklärt der Mann aus dem Direktionsbüro, der so gut wie nichts von dem Vorhaben „Dr. Caligari" weiß. „Da müssen Sie Ihren Anzug für die Rolle also selbst mitbringen. Vergessen Sie es nicht!"

„Wen spiele ich denn?" erkundigt sich Werner Krauß gewissenhaft. „Einen Irrenarzt. Ich nehme an, es ist das beste, wenn Sie Cut und gestreifte Hose oder etwas Ähnliches mitbringen."

Am Montagmorgen - einen Anzug für den Doktor Caligari

Am Montagmorgen um ein halb acht Uhr besteigt Werner Krauss einen Wagen der Linie 3. Er trägt einen Karton, in dem sich die gestreifte Hose und der Cutaway sowie eine Weste befinden. Um neun Uhr dreißig betritt er geschminkt und angezogen das Atelier. Er wirft einen Blick auf die expressionistischen Dekorationen, die dort aufgebaut sind.

Er ist interessiert. „Was wird denn da für ein Film gedreht?" „,Das Kabinett des Dr. Caligari'", sagt ein Arbeiter, der gerade vorüber geht. „Was ganz Verrücktes!"
„Und wer spielt den Dr. Caligari?" will Krauß wissen.

„Ich glaube Sie, Herr Krauß!" Krauß stürzt zu Dr. Wiene. „In solchen Dekorationen kann ich doch nicht im Cut und gestreiften Hosen umherwandern!" Wiene sieht das ein. „Fahren Sie nach Hause und holen Sie sich einen anderen Anzug. Aber schnell!" „Spendieren Sie ein Taxi?" „Wo denken Sie hin?" „Dann bin ich also in vier Stunden zurück", erklärt Krauß gelassen. „Gerade rechtzeitig für die Mittagspause!" „Das ist viel zu lange. Wir wollen doch spätestens in einer Stunde anfangen!" „Es hätte auch keinen Zweck, daß ich nach Hause fahre. Ich habe gar keinen Anzug, der in diese Dekoration paßt."
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Zur unheimlichen Kulisse der unheimlich Werner Krauss

Ein Regieassistent wird herbeigerufen. Krauß instruiert ihn. „Also, jetzt läufst du mal in die Nachbarschaft und schaust dich bei ein paar Trödlern um... Ich brauche ... einen altmodischen Havelock.

Und jetzt paß gut auf, junger Mann! Er muß so lang sein, daß man die Hosen gar nicht sieht, sonst müßt ihr mir noch ein Paar Hosen besorgen. Das kommt noch teurer! Also einen Havelock, der bis zum Boden reicht, und einen altmodischen Zylinder und einen Stock .. .

Der Regieassistent läuft also und kommt bald darauf mit den gewünschten Gegenständen zurück. Krauß schminkt sich um. Mit ein paar scharfen Strichen verunstaltet er sein Gesicht.
„Das sieht doch ganz unnatürlich aus", beschwert sich Wiene. „Soll es auch! Die Dekoration sieht ja auch unnatürlich aus.

Krauß läßt sich eine weiße Perücke geben, deren Haare fast bis auf die Schultern fallen. Darüber stülpt er den altmodischen Zylinder. Dann setzt er sich eine mächtige dunkle Hornbrille auf. Dann nimmt er den Havelock um und ergreift den Stock. Und so entsteht, fast zufällig, die Figur des Dr. Caligari, die ein paar Monate später über die Leinwand aller großen Kinos der Welt gehen wird.
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Lauter völlig irre Figuren im "Caligari"

Werner Krauß spielt diese Rolle ganz anders als alles, was man bisher im Film gesehen hat. Nichts von Realismus. Diesem Dr. Caligari kann man nicht auf der Straße begegnen. Man kann nur von ihm träumen. Krauß ist in des Wortes furchtbarster Bedeutung unheimlich.

Mehr als das - bezwingend. Ein Magier, ein Hexer, eine Figur wie von E.T.A. Hoffmann, bei deren Anblick einem der Schweiß ausbricht. Conrad Veidt im schwarzen Trikot, totenbleich, mit enormen Augen, ein Verhexter, der nicht mehr von dieser Welt ist. Seine Bewegungen sind die eines Nachtwandlers. Er schreitet nicht. Er gleitet.

Für diesen Film noch eine überdimensionale Reklame

Pommer weiß, nachdem er die ersten Muster gesehen hat: Für diesen Film muß er eine überdimensionale Reklame machen.

Schon Wochen vor der Uraufführung im Berliner Marmorhaus kleben überall an den Litfaßsäulen Plakate: „Du mußt Caligari werden!" Kein Mensch ahnt, worum es sich handelt.

Aber alle Welt wird neugierig. Die Uraufführung wird ein Triumph. Die Kritiker überschlagen sich. Aber ein populärer Erfolg wird der Film vorläufig nicht. Und es scheint, als würde er ziemlich schnell spurlos verschwinden.

Diejenigen, die Pommer gewarnt haben, reiben sich die Hände. „Er wollte ja nicht auf uns hören!" Und: „Wir haben es ja gleich gesagt!" Manche glauben sogar, daß Pommer seine Stellung als Chef der Decla-Bioskop verlieren wird.

Ein Riesenerfolg mit Aussetzern

Da kommen ihm die Gegner des Films zur Hilfe. Der „Vorwärts", das Zentralorgan der Sozialdemokraten, polemisiert mit äußerster Schärfe gegen „Caligari". Es wird dort geschrieben, der Film sei moralisch anfechtbar, da er versuche, einen Verrückten sympathisch zu machen.

Die Rechtspresse geht gar noch einen Schritt weiter. Sie verlangt das Verbot des Filmes mit der Behauptung, er mache den Staat und die Obrigkeit lächerlich. Ausschlaggebend aber ist der durchschlagende Erfolg des „Caligari" in Paris.

Französische Kritiker stellen fest, es handele sich nicht nur um einen ausgezeichneten Film. Es handle sich um ein Symptom der Nachkriegszeit, der Jahre, in denen nichts mehr stimme; in denen das Unterste zu oberst gekehrt werde, in denen eine Umwertung aller Werte stattfinde. Die französische Kritik prägt für diese verrückte Nachkriegszeit das Wort „Caligarisme". - Nun wird der Film auch in Deutschland ein Riesenerfolg.

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