Ein Buch über den Film - aus Wien im Kriegs-Jahr 1941
Dieses Buch mit seinen 310 Seiten und den 236 Bildern ist darum so interessant, weil Österreich 1941 bereits an das grossdeutsche Reich von Hitlers Gnaden angeschlossen war, aber als kleines Anhängsel. Also nicht die damaligen deutschen Bundesstaaten wurden an das (ehemalige) Kaiserreich Österreich angeschlossen, sondern das nach dem 1. Weltkrieg gewaltig dezimierte Österreich wurde "heim ins Reich" nach Berlin geholt.
Weiterhin war Hitler mit seine Kriegen bis jetzt noch auf der Siegerstrasse. Die Katastrophe von Stalingrad war noch in "weiter Ferne". Jedoch in Russland stockte es bereits und das durfte man - auch in Wien - nicht offen aussprechen.
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Die Frage, die sich dem Redakteur im Jahr 2025 beim Lesen stellt, wie weit ist das nationalsozialistische Denken in die Beschreibungen der filmischen Ereignisse der letzen 40 Jahre (vor 1941) eingeflossen.
Österreich und die Titelmanie
Vorausschauend ist noch anzumerken, daß in Österreich - damals und auch heute noch - die akademischen Titel eine sehr große Rolle spielen. Also ein "Dr." oder ein "Dipl.-Ing.", das ist schon etwas und dem wird mit großer Hochachtung gegenübergestanden. Und dieser Dr. Oertel benutzt das Privileg der sehr langen Sätze. Es darf Sie also nicht verwundern.
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RUDOLF OERTEL - FILMSPIEGEL
EIN BREVIER AUS DER WELT DES FILMS
MIT 236 TAFELBILDERN UND 32 TEXTZEICHNUNGEN - EINBAND- UND UMSCHLAGENTWURF VON AUGUST VON HERZOGENBERG, WIEN - COPYRIGHT 1941 BY WILHELM FRICK VERLAG & CO. K.G., WIEN
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VORWORT von Rudolf Oertel
Wenn wir von einem winzigen Teil eigener Erfahrung absehen, den wir in unserem kurzen Leben sammeln dürfen, ist all unser Wissen ein Gut, das andere vor uns zusammengetragen haben und das wir von ihnen übernehmen. So will ich denn am Anfang dieses Buches - gleichweit von Eitelkeit und Bescheidenheit - betonen, daß vieles von dem, was hier geschrieben steht, Frucht fremder Arbeit ist.
Nicht danach ging mein Ehrgeiz, selbst alles besser zu wissen, sondern die einzelnen, vielfach verstreuten Ergebnisse erstmalig, und nicht nur in deutscher Sprache erstmalig, zu einem Gesamtüberblick zu sammeln. So habe ich aus hundert verschiedensten Bausteinen versucht, den einen großen Bogen zu spannen, der von den Uranfängen der menschlichen Bewegungsdarstellung bis zum heutigen Tonfilm reicht.
Es ist ein erster Versuch, eine große Arbeit zu bewältigen, nur ein Versuch und gewiß keine Erfüllung. Nicht mehr, nicht weniger, als vielleicht der Grundstein zu einer künftigen Weltgeschichte des Films.
Viele haben mir dabei geholfen, und ohne ihre Hilfe wäre mir das Werk nicht geglückt. Ihnen allen möchte ich danken, einige nennen, und auf jene Werke besonders hinweisen, die für mich die wichtigsten waren.
Besonderen Dank schulde ich : Dem Reichsfilmdramaturgen Herrn Dieter von Reichmeister für die teilweise Durchsicht des Buches, für wichtige Hinweise und Ratschläge. - Herrn F. Paul Liesegang, dem Pionier der deutschen Filmgeschichtsforschung, für die selbstlose und liebenswürdige Unterstützung und Überlassung von Vorträgen und Lichtbildern, die mit seinen „Zahlen und Quellen" eine Fundgrube für den Filmforscher darstellen. - Herrn Oskar Meßter, dem Wegbereiter des deutschen Films, für seine Ratschläge und die Genehmigung der Benützung seiner Selbstbiographie. -
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Herrn Dr. Oscar Kalbus, der mir freundlichst die Zitierung seiner grundlegenden Arbeit „Vom Werden deutscher Filmkunst" gestattete. Gerade dieses Werk ist für jedermann, der die Entwicklung des deutschen Films studieren will, unentbehrlich.
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- Anmerkung : Mit den beiden Bilder-Alben von Dr. Kalbus gab es im Hitler-Deutschland großen Ärger, weil Dr. Kalbus alle ihm bekannten Künster - auch die mit jüdischen Wurzeln - in seinen beiden Werken aufgeführt und bebildert hatte und Minister Göbbels dieses erst recht spät mitbekam. Die beiden Bücher wurden natürlich verboten und das dritte Buch (über den Farbfilm) wurde ihm untersagt. Von den ersten beiden Bilder-Alben waren aber bereits mehr als 200.000 "im deutschen Volk gelandet", natürlich mit den jüdisch stämmigen Schauspielern.
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Auch die Bibliographie „Das deutsche Filmschrifttum" von Dr. Hans Traub und Hanns Wilhelm Lavies ist als mustergültiges Nachschlagewerk und ständiger Begleiter jeder Filmforschung dankbar zu nennen. - Was ich sonst noch an fremden Werken benützte, findet sich im Anhang im Literaturverzeichnis. Dem französischen Sammelwerk „Le cinema des origines a nos jours" und der italienischen Publikation von Margadonna „II cinema ieri e oggi" verdanke ich wichtiges Material über den ausländischen Film.
Den deutschen Produktionsgesellschaften, Verleihfirmen und vielen privaten Sammlern bin ich für die Überlassung des Bildmaterials verpflichtet, ebenso ihnen und vielen anderen für Beiträge, Mitteilungen, Ratschläge und sonstige Unterstützung. - Nicht zuletzt aber schulde ich dem Wilhelm Frick Verlag Dank, daß er mich zu dieser Arbeit angeregt.
Dr. Rudolf Oertel (1941)
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EIN BILDERBUCH DES MENSCHLICHEN LEBENS
Der Legende nach soll Thespis im Jahre 534 v. Chr. die erste attische Tragödie aufgeführt haben. Wir sind geneigt, dieses Datum als Geburtsstunde des Theaters zu bezeichnen, das damit in das Licht der Geschichte tritt, wenn wir auch wissen, daß seine Anfänge viel älter sind, daß es, wie bei den Griechen aus dem Dionysos-Kult, so bei allen Völkern aus religiösen Zeremonien erwuchs und bis in die mythische Vergangenheit reicht.
Religiösen Ursprungs und über 2500 Jahre alt ist das Theater. . .
Im Gebäude des Berliner Wintergartens findet sich an der Rückseite gegenüber dem Bahnhof Friedrichstraße eine Bronzetafel mit folgender Inschrift:
„In diesem Hause fanden am 1. November 1895 die ersten öffentlichen Filmvorführungen in Europa durch Max und Emil Skladanowsky statt - mit Hilfe eigens aufgenommener Filme und selbst erfundener Apparate des Max Skladanowsky."
Und auf einem Gebäude in Paris 14 Boulevard des Capu-cines, das ehemals das Grand Cafe beherbergte, steht in Erz geschrieben:
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- „Hier fanden am 28. Dezember 1895 die ersten öffentlichen Projektionen Lebender Photographien mittels des von den Brüdern Lumiere erfundenen Cinematographen statt."
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Eine Konstruktion von Erfindern und Technikern, und noch nicht fünfzig Jahre alt ist der Film ...
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Nur 50 Jahre alt ? Es scheint zumindest so ......
Fast alle großen Erfindungen fallen in das 19. Jahrhundert. Die technischen Errungenschaften dieser kurzen Zeitspanne haben das Gesicht des menschlichen Lebens mehr gewandelt als alle geschichtlichen Umwälzungen vorher.
Dampfschiff, Elektrizität, Eisenbahn, Automobil, Telephon, Telegraph, Photographie, Radium, Röntgen, Flugzeug und Film, ein berauschendes Tempo des Fortschrittes, das unsere Väter und Großväter nicht wenig stolz gemacht hat.
Ja, es scheint, als hätte die Menschheit seit der Zeit der alten Ägypter geschlafen, um dann, einem Vulkan gleich, mit einemmal eine rasende Entwicklung aus dem Nichts zu zaubern, deren Ende noch nicht abzusehen ist.
Und doch scheint es nur so, und doch lagen alle diese großen Erfindungen schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden dem Menschen im Sinn, es fehlte ihm bloß die letzte Erkenntnis, ein letztes kleines, aber entscheidendes Etwas, um die Idee Realität werden zu lassen.
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Hundert Jahre vor Christi Geburt
Schon Heron von Alexandrien hat hundert Jahre vor Christi Geburt die bewegende Kraft des Dampfes erkannt, schon Leonardo da Vinci hat sich mit dem Bau von Flugzeugen befaßt.
Auch die Kinematographie ist nicht als ein Wunder plötzlich vom Himmel gefallen; hundert kleine und kleinste Voraussetzungen mußten sich im Laufe zweier Jahrtausende erfüllen, bis es so weit war, bis alle Bausteine bereit lagen, die dann eine Generation fast gleichzeitig in Amerika, Frankreich und Deutschland zum Bau des letzten Geheimnisses fügte.
Als ich dieses Buch zu schreiben begann, schwebte mir einen phantastischen Augenblick lang eine Weltgeschichte des Films vor. Ich muß gestehen, daß ich während der Arbeit viel bescheidener geworden bin, denn ein geradezu ungeheures Arbeitsgebiet tat sich vor mir auf, und eine intensive, jahrelange Vertiefung in den vielgestaltigen Stoff wäre die Voraussetzung hierzu.
Wirklich dreitausend Bücher über den Film ?
Schon die Überprüfung der Literatur nimmt kein Ende. Sollte man es für möglich halten, daß allein in deutscher Sprache gegen dreitausend Bücher und periodische Zeitschriften über den Film gedruckt wurden?
Dabei ist ein Hauptgebiet, die Photographie, gar nicht berücksichtigt. Wenn man dann noch die fremdsprachige Literatur aus allen Winkeln der Erde hinzuzählt und bedenkt, daß das meiste davon heute schon vergriffen und verschollen ist, aber gerade für die Anfangszeit als zeitgenössisches Dokument von höchstem Interesse wäre, so kann man die Schwierigkeiten ermessen. Diese Tatsache allein macht es erklärlich, daß bis heute noch keine Weltgeschichte des Films existiert.
So ist dieses Buch weder ein Geschichtswerk geworden noch eine wissenschaftliche Untersuchung noch ein dramaturgischer Lehrgang, es ist auch kein technisches Handbuch... Aber es will von allem etwas geben.
Es ist eine bunte Plauderei aus der weiten Welt des Films, es ist, wie ich glaube, der erste Versuch, eine Gesamtschau des Phänomens Film zu geben: voll von wechselnden Bildern, abenteuerlich, kaleidoskopartig und bewegt wie der Film selbst, gleichsam ein Film über den Film.
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", sagt Goethe. Es ist in erster Linie für das breite Publikum geschrieben, wird aber auch dem Fachmann manches ihm Unbekannte erzählen.
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Also fangen wir an zu recherchieren
Ein tiefschürfender Forscher hat Anfänge des filmischen Gestaltungswillens der Menschheit schon in Dokumenten der Urzeit zu finden geglaubt. Wir wollen sehen, was daran ist. Wir wollen in die dunklen Sehnsüchte des Menschengeistes leuchten und seine uralten Vorahnungen des Films erkennen. Wir wollen die Spur verfolgen, die von den Höhlenbildern der Steinzeit, den Orakeln der Antike, der Zauberlaterne der Barockzeit, den Phantasmagorien Robertsons, dem Lebensrad Stampfers bis zum ersten Kinematographen führt.
Wir wollen die Kinderjahre des Films, seine Jugendsünden, seinen Tanz um das Goldene Kalb, seinen Aufstieg zur Weltmacht und sein Ringen um die Kunst begleiten.
1896
1896 ein paar unbeholfene Maschinen, die das Wunder eines bewegten Menschen auf die Leinwand zaubern, ein paar Jahre später die herabgekommene Sensation von Jahrmärkten, 1910 das billige Vorstadtvergnügen eines primitiven Publikums, 1920 eine geldgierige Industrie, die mit einer Flut von Sensationskolportagen die ersten Ansätze einer künstlerischen Gestaltung zu ersticken droht, 1930 eine weltbeherrschende Macht, das faszinierende Vergnügen von Millionen und Millionen Menschen, 1940 die gleichberechtigte Schwester der älteren Künste, die einzige Kunst, die alle geistigen und sozialen Schichten der Menschheit gleicherweise in ihren Bann gezogen hat: Hier scheinen die Zeitmaße keine Gültigkeit zu haben, die sonst eine geschichtliche und kulturelle Entwicklung abgrenzen.
Ein Blick in jene geheimnisvollen Hallen des Films .....
Aber nicht nur das Werden, mehr noch sein gegenwärtiges Sein steht im Mittelpunkt menschlichen Interesses. Welcher Kinobesucher möchte nicht für sein Leben gern einmal einen Blick in jene geheimnisvollen Hallen tun, in denen der Film entsteht? Welches Mädchen hätte nicht in den kühnen Stunden seiner jungen Romantik davon geträumt, Filmstar zu werden?
Auch dahin wollen wir die menschliche Neugierde geleiten und einen Schleier lüften, hinter dem im Grunde kein anderes Geheimnis verborgen ist, als das ernster, unermüdlicher Arbeit. Der Film ist nicht das Produkt eines einzelnen, er ist eine Gemeinschaftsarbeit, er ist wie ein Uhrwerk, das viele Räder braucht, um nicht stillzustehen.
Wenn das fertige Werk im Theater abläuft, sieht das Publikum nur die Leistung der Schauspieler; wie viele Kräfte sonst noch mitgearbeitet haben, welch ein weiter Weg von der ersten Idee bis zur Premiere zu durchmessen war, das sieht man nicht, es soll hier aber gesagt werden.
Und die Schauspieler ?
Es wäre verlockend und interessant, von den Schauspielern mehr zu erzählen. Der Welt der Künste ist nun einmal neben der Tragik auch die Heiterkeit verliehen, und das Volk der Künstler, das die Schauer des Sterbens, die Schreie der Leidenschaften und die Tränen alles menschlichen Jammers beherrscht, hat zum Ausgleich von der Natur die Gottesgabe der Fröhlichkeit mitbekommen, reicher als andere Sterbliche.
Wo Künstler sind, da gibt es manchmal falschen Glanz und manchmal echte Sorgen, öfter aber überschäumende Stunden, denn niemand liebt mit kindlicherem Herzen seinen Beruf und niemand ist menschlicher mit Vorzügen und Schwächen ein Mensch als sie. - Leider zwingt der Raum auch darin zur Beschränkung.
Wenn wir aber alles zusammenfassen: die uralte Sehnsucht nach der Gestaltung des bewegten Lebens, den Hokuspokus der Zauberer, die ernste Erfindung, die Irrwege und die Versuchung des Geldes, den Mißbrauch der Macht, die magische Anziehungskraft und Gabe des Erlebnisspenders, das künstlerische Erlebnis und den Kitsch, so wird dieser Filmspiegel unversehens zum Spiegel des Menschen selbst, seines Forscherdranges und seiner Gestaltungskraft, seiner Lächerlichkeit und seiner Tragik, seiner Begierden und seines Wagemuts, seiner Phantasie und seiner Leistung. Ein Kuriositätenkabinett, ein Bilderbuch des menschlichen Lebens.
So schreitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.
(Faust)
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