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"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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METROPOLIS

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Fritz Lang hat neue Ideen aus Amerika mitgebracht

Die UFA hat andere Sorgen. Fritz Lang macht wieder einmal einen Film, mit dem verglichen seine bisherigen Filme Kammerspiele genannt werden müssen, und der den schlichten Titel „Metropolis" führen wird.

Fritz Lang ist in Amerika gewesen, eingeladen von einer großen Filmgesellschaft, die ihn, koste es was es wolle, nach Hollywood holen wollte.

Den größten Eindruck während dieser Reise machten auf ihn die Einfahrt in den New Yorker Hafen, die Wolkenkratzer, die plötzlich aus dem Meer emporzuwachsen schienen, die Riesengebäude mit den abertausend Fenstern, von denen jedes einzelne erleuchtet war. So etwas müßte man filmen können! dachte Fritz Lang und sprach darüber mit Pommer und mit seiner Frau, Thea von Harbou.
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Pommer war an Kummer gewöhnt.

„Aber Wolkenkratzer kann selbst die UFA nicht bauen!" wendete er ein. „Das wäre wohl doch etwas zu teuer!" „Man braucht sie ja nicht zu bauen." Lang wußte, daß man mit dem sogenannten Schüfftan-Verfahren kleine Modelle so fotografieren kann, als handele es sich um Riesenbauten.

Das Verfahren von Eugen Schüfftan bedient sich eines komplizierten Systems von Spiegelung und Gegenspiegelung. Lang: „Man müßte die Stadt der Zukunft aufbauen.

Eine Stadt, wie sie etwa im Jahre 2000 aussehen könnte." Er weiß auch genau, wie eine Stadt im Jahre 2000 aussehen müßte ...

Genau genommen handelt es sich um zwei Städte - die obere und die untere. Unten, im Schatten, in kellerähnlichen Verliesen, schuften die Arbeiter, bedienen die riesigen Maschinen, und oben, im Licht, leben die Magnaten in beispiellosem Luxus.

So, zum Beispiel, fahren sie nicht in ihren Automobilen, das ginge zu langsam, sie nehmen sich ein Lufttaxi, wenn sie einmal schnell irgendwohin gelangen wollen. Für die damalige Zeit noch ein Zukunftsbild!

Der Inhalt des Films:

Die Rebellion der unteren gegen die obere Stadt, der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber, kompliziert dadurch, daß Freder, der Sohn des größten der Großindustriellen, sich den rebellierenden Arbeitern anschließt, ja, sich sogar zu ihrem Führer macht.

Doppelt kompliziert, weil er Maria liebt, die Trösterin der Unterdrückten, aber keineswegs eine politische Agitatorin, die die Arbeiter nicht etwa aufstachelt, sondern ihnen rät, sich mit ihren Chefs zu vertragen.

Denn auf die „Einigung von Herz und Gehirn" kommt alles an - zumindest glaubt Thea von Harbou, daß alle Probleme so einfach gelöst werden könnten. Nun, ganz so einfach ist die Sache denn doch nicht, nicht einmal im Film.

Denn Freders Vater schießt quer. Er hat Marias Reden belauscht. Und da er sie für gefährlich hält, läßt er durch den ihm ergebenen Erfinder Rotwang einen künstlichen Menschen herstellen, eine Frau, die genau so aussieht wie Maria.

Sein finsterer Plan: die künstliche Maria soll die Arbeiter zu Gewalttaten anstacheln. Das gäbe ihm die Möglichkeit, gegen die Arbeiter vorzugehen und die Revolution blutig niederzuschlagen. Rotwang ist Freders Vater nicht ganz so ergeben, wie es den Anschein hat. Er haßt ihn, weil jener die Frau heiratete, die er, Rotwang, liebte.

Außerdem ist Rotwang etwas übergeschnappt - der erste der verrückten Erfinder, um die in den nächsten Jahren, hauptsächlich in Hollywood, zahlreiche Filme gedreht werden.
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Die bösen Instinkte der Roboter-Maria

Aber niemand, weder der Großindustrielle, noch Rotwang, hat mit den bösen Instinkten der Roboter-Maria gerechnet, die durchaus nicht nur das tut, was man ihr befiehlt.

Sie bringt die Arbeiter dazu, die großen Maschinen zu zerstören, ja, die Schleusen zu öffnen, so daß die Kinder der unteren Stadt beinahe ertrinken. Es findet also eine blutige und überdies kostspielige Revolution statt mit anschließender Orgie, und niemand vermöchte zu sagen, wie das alles ausgeht.

Denn zu allem Überfluß hat Rotwang die gute Maria auch noch verschleppt. Da er von Freder verfolgt wird, steigt er mit ihr - ausgerechnet - auf einen Kirchturm. Dort oben, in schwindelnder Höhe, spielt sich ein atemberaubender Zweikampf ab zwischen dem nun völlig wahnsinnigen Rotwang und Freder. Es sieht immer wieder so aus, als ob der junge Freder herunterstürzen würde.

Der Vater sieht von unten machtlos zu und regt sich so dabei auf, daß seine Haare von einer Sekunde zur anderen weiß werden. Überflüssigerweise, wie sich herausstellt, denn schließlich ist es doch Rotwang, der abstürzt. Recht geschieht ihm.

Übrigens stirbt er keine Minute zu früh. Denn nur so kommen Maria und Freder gerade noch zurecht, um die Situation zu retten.

Die Roboter-Maria aber verbrennt - und es bleibt nichts übrig, als ein Stahlgerippe, greulich anzusehen. Und der Industrielle versöhnt sich mit seinem Sohn, der echten Maria und dem Werkmeister, dem Anführer der Arbeiter. Alle sind glücklich. Die Unternehmer oben in ihren Wolkenkratzern, die Arbeiter in den Katakomben, in denen sie schuften, bis sie wieder einmal genug haben werden ...

Aber mit solchen Zweifeln endet der Film „Metropolis" gottlob nicht ...
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Und nun beginnen die Vorarbeiten.

Es werden ja gigantische Dekorationen gebraucht. Doch müssen die Kosten für das Material in Grenzen bleiben.

Es werden also ungeheuere Wolkenkratzer bis zu einer Höhe von zwei Metern gebaut, Straßen, fünfzig Stockwerke hoch - das heißt also fünfzig Zentimeter vom Boden des Ateliers.

Es wird freilich auch vieles ganz oder teilweise in Lebensgröße gebaut, zum Beispiel die ungeheuere sogenannte Herzmaschine zur Herstellung der Energien, die die Stadt Metropolis braucht, um zu leben, das Sportstadion für die Jugend der oberen Stadt, die Halle mit dem Laboratorium des Erfinders Rotwang, in der es von seltsamen Maschinen, von Kabeln, Lampen, Schalttafeln, Reagenzgläsern nur so wimmelt.

Es gibt sogar eine Vorahnung des Fernsehens

..... als Freders (Film-) Vater mit dem Werkmeister telefoniert und ihn dabei auch sieht. Das ist das erste Mal, daß beim Filmen das System der Rückprojektion angewendet wird - sie wird hier sozusagen nebenbei erfunden.

Der Clou des Laboratoriums ist die sogenannte Menschen-Maschine, in der nach dem Abbild der echten - zeitweise entführten und gefangenen Maria - die Roboter-Maria entstehen soll und entsteht.
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Fritz Lang hat uns wieder mal sechs große Lampen gestohlen!

Fritz Lang ist dabei, sich selbst zu übertrumpfen. Er braucht zu seinem neuen Film mehr Mittel als bisher je zu einem Film gebraucht wurden. Er braucht mehr Ateliers, mehr Aufnahmeapparate, ja sogar mehr Lampen.

Ludwig Berger, der im Atelier nebenan den „Walzertraum" dreht, muß von seinem Aufnahmeleiter jeden Morgen hören: „Fritz Lang hat uns wieder mal sechs große Lampen gestohlen!"

Aber niemand nimmt Fritz Lang so etwas übel, denn er ist ein Zauberer. Er vermag nicht nur die Zuschauer im Kino zu verzaubern, er kann auch, was viel, viel schwerer ist, die Arbeiter, die Statisten, die Schauspieler verzaubern.

Als die Szene gedreht wird, in der die Roboter - Maria entsteht, herrscht eine höchst seltsame Stimmung im Atelier.

Natürlich weiß jeder, daß es keine künstliche Frau ist, die in einer Art Ritterrüstung steckt und tapsende Schritte macht, als sei sie im Begriff, jeden Augenblick in sich zusammenzusinken.

Alle im Atelier wissen, daß in dieser Rüstung eine junge Schauspielerin steckt. Man hat sie ja vor wenigen Minuten erst in die Rüstung steigen sehen. Es geht alles mit rechten Dingen zu, und doch ist es fast unheimlich, man könnte an Zauberei glauben ...
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Fritz Langs Steckenpferd ist die Regie der Massen

Fritz Lang selbst ist vor allem an der Massenregie interessiert. Er verlangt nicht weniger als sechstausend Komparsen. Die wären noch allenfalls aufzutreiben.

Aber was verlangt er von diesen sechstausend Komparsen? Sie sollen kahlgeschoren sein! Sie sollen aussehen wie Zuchthäusler, denn es sind Zuchthäusler, Arbeitssklaven, die den Turm von Babel bauen.

Längs Aufnahmeleiter stürzen zur Filmbörse. Aber die Komparsen denken gar nicht daran, sich für die paar Mark,

die man ihnen bietet, die Haare abschneiden zu lassen. Morgen oder übermorgen wird ein anderer Regisseur sie ablehnen, weil sie kahlgeschoren sind! Nein, solchen Unfug machen sie nicht mit!

Dann nehmen wir eben Arbeitslose anstelle von Komparsen

Aber Längs Problem ist nicht unlösbar. Es gibt ja genug Arbeitslose in Berlin. Freilich, er bekommt „nur" rund tausend Arbeitslose. Mehr bewilligt die Geschäftsleitung der UFA nicht, die auf dem Standpunkt steht, daß man mit tausend Menschen die Anwesenheit von sechstausend vortäuschen kann.

Freilich, die tausend Arbeitslosen sind bereit, sich kahlscheren zu lassen - wozu wären sie nicht bereit? - Alles, alles um die abgehärmten Frauen und die hungernden Kinder zu Hause.

Die Arbeitslosen müssen nun genau das Gegenteil von dem spielen, was sie sind: Arbeiter, die furchtbar schuften, schwitzende und keuchende Arbeiter, die den ganzen Tag nicht zur Besinnung kommen.

Bis ihre Szenen abgedreht sind, geraten sie wirklich ins Keuchen und ins Schwitzen. Dann wieder gibt es Tage, an denen die Komparsen frieren müssen. Das geschieht, als die Arbeiter die Schleusen geöffnet haben und die untere Stadt überschwemmt wird.

Im Film dauern diese Szenen zehn Minuten, im Atelier mehr als zwei Wochen.
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Lang braucht auch halbverhungerte Kinder - kein Problem in 1925


Lang braucht nicht nur kahlgeschorene Fronarbeiter. Die Kinder dieser Fronarbeiter, die unglücklichen, die beinahe, aber nur beinahe ertrinken, müssen mager sein.

Sie müssen unterernährt aussehen. Längs Produktionsleiter sausen in die Arbeitergegenden Berlins, suchen und finden magere Kinder. Es gibt genug magere Kinder in Berlin, es gibt viel zu viele ...
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Rudolf Klein-Rogge ist wieder dabei, und es spielt Brigitte Helm

Mit Ausnahme von Rudolf Klein-Rogge, dem ersten Mann von Thea von Harbou, der in allen Lang-Filmen spielt und auch diesmal dabei ist - er mimt den Erfinder Rotwang - arbeitet Lang diesmal mit ganz neuen Kräften.

In der Doppelrolle der Maria probiert Lang seine neue Entdeckung aus, die noch nicht siebzehnjährige Brigitte Helm, die, während Lang die „Nibelungen" drehte, eine Probeaufnahme machte und fest davon überzeugt war, daß sie nie wieder von Lang hören würde. Sie irrte sich.

Eines Tages läutete das Telefon. Fritz Längs Sekretärin war am Apparat und sagte zu Brigittes Mutter: „Herr Lang läßt Sie bitten, sofort mit Ihrer Tochter zu kommen. Er erwartet Sie im Büro von Herrn Direktor Pommer in einer halben Stunde. Am besten, Sie nehmen sich ein Taxi!" Dann sitzt Brigitte mit der Mutter Erich Pommer gegenüber. Auch Fritz Lang ist da.

„Spielen Sie uns doch etwas vor", sagt Erich Pommer ganz ruhig, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt. Brigitte faßt sofort Zutrauen zu ihm. „Was soll ich spielen?" Sie hat inzwischen - natürlich - den Nibelungen-Film gesehen.

Vorspielen ? Unvergeßlich ist ihr jene Szene mit Krimhild ....

Unvergeßlich ist ihr jene Szene, in der Krimhild dort niederkniet, wo Siegfried getötet wurde, ein wenig Erde zusammenkratzt, sie in ihrem Taschentuch verbirgt und dieses an ihrem Busen - und dann Rache schwört.

Bevor sie weiß, was sie tut, spielt Brigitte Erich Pommer die Szene vor. Ach, sie ist keine Germanin wie die Schauspielerin Margarethe Schön, mit langem Haar, mit wallenden Gewändern. Sie kann keine Bewegungen machen, sie kann auch nicht schreiten. Sie kann nicht die Augen rollen.

Sie hat nicht einmal einen Busen und - siedend heiß fällt es ihr ein - sie hat vermutlich auch kein Taschentuch bei sich!

Die Mutter scheint ihre Gedanken zu erraten. Sie reicht ihr ein Taschentuch. Da steht sie nun, die junge Brigitte, mitten im Büro des Produktionschefs Pommer. Wie soll sie vom Fußboden, der mit Velour bedeckt ist, Erde zusammenkratzen?
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Im Büro von Erich Pommer eine theatralische Szene vorspielen

Alle diese Gedanken schießen ihr durch den Kopf und sind schon wieder vergessen, während sie niederkniet und versucht, die Szene der Schauspielerin Schön nachzuspielen.

Nachzuspielen? Zu spielen? Wo ist sie denn?

Sie muß einmal irgendwann in einem eleganten Büro gewesen sein, vielleicht vor Jahren, vielleicht in einem anderen Leben. Jetzt ist sie dort, wo Siegfried ermordet wurde.

Jetzt kniet sie auf der Erde. Jetzt fassen ihre Hände in den Sand ... sie spürt noch das Blut, das Siegfried vergossen hat ... Siegfried! Sie darf diesen Namen nicht denken. Sie muß versuchen, zu vergessen, wie er war ... Aber sie kann es nicht. Siegfried! Er ist nicht mehr! Sie haben ihn getötet, gemordet! Die Tränen laufen ihr die Wangen herunter. Sie ist jetzt ganz Schmerz um diesen Mann, den sie geliebt hat ... Ohnmächtiger Schmerz, der nie zu vergehen droht ... Ohnmächtiger Schmerz? Ist sie so ohnmächtig? Oh nein! Sie wird den geliebten Mann rächen! Sie wird es denen heimzahlen, die schuld an seinem Tode sind. Alle, alle werden büßen ... Nicht einen Tag, nicht eine Stunde wird sie diesen Schwur vergessen! Und wenn sie ihn vergäße, würde dieser Sand sie an ihre Pflicht erinnern. Hier, dieser Sand ... Schon liegt er in ihrem Taschentuch. Niemand soll sehen, daß sie den Sand bei sich trägt. Wo kann sie ihn verbergen? Nahe ihrem Herzen ... Sie drückt ihn an sich. Und dann, tausend Jahre später, aus einer Entfernung von tausend Kilometern, hört sie die Stimme Pommers :
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„Das war wirklich sehr gut..."

Verwirrt springt Brigitte Helm auf. Wo ist sie? Was hat sie getan? Mit Staunen und nicht ohne Beschämung spürt sie, daß ihr die Tränen die Wangen herunterlaufen.

Fritz Lang steht vor ihr. „Raus!" sagt er zu ihr, entschieden aber durchaus nicht unfreundlich. Draußen auf dem Korridor geht er erst eine Weile auf und ab.

Plötzlich bleibt er stehen, pflanzt sich vor ihr auf. „Ich mache jetzt einen neuen Film!" erklärt er. „Und du spielst die Hauptrolle!" Brigitte Helm erstarrt. „Freust du dich denn gar nicht?" „Ja . .. Ich freue mich schon ... Aber wenn ich es nun nicht schaffe?"

„Wenn du es nicht schaffst, dann schmeiße ich dich raus!" äußert Fritz Lang mit Überzeugung ungerührt und geht in Pommers Büro zurück.
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Brigitte Helm bekommt den UFA-Vertrag mit 16 Jahren

Am nächsten Tag bekommt sie ihren Vertrag. Fünfhundert Mark pro Monat. Das ist keine gigantische Gage, aber immerhin, sie ist gerade erst sechzehn. Übrigens bekommt sie die fünfhundert Mark sofort. Dabei soll der Film erst in drei Monaten beginnen.

Aber in diesen drei Monaten hat sie eine Menee zu tun. Sie muß tanzen lernen und reiten und Schauspielunterricht nehmen. Die Lehrer bezahlt die UFA.

Die Rolle der Maria in „Metropolis", die erste Rolle Brigitte Helms, ist die größte, die sie je spielen wird. Die Aufgabe ist gewaltig. Denn da die gute und die böse Maria sich äußerlich durch nichts unterscheiden, hängt alles von der Darstellung, der Kunst der Charakterisierung ab - also von ihr.

Sie muß ein sanftes, gutes Wesen spielen und eine Kanaille. Wie macht man es, wenn man aussieht wie ein sechzehnjähriges unschuldiges Mädchen, so zu sein, daß die Leute einem doch die bösesten Regungen zutrauen? Brigitte hat keine Ahnung.

Aber je länger sie im Film arbeitet, um so klarer wird ihr: die sanfte Maria macht ihr gar keinen Spaß. Die Kanaille dagegen macht ihr einen Riesenspaß. Und schon jetzt beschließt sie: wenn sie sich einmal die Rollen aussuchen kann, wird sie nur noch böse Frauen spielen oder zumindest zwielichtige Schlangen oder Spioninnen.

Die Dreharbeiten für „Metropolis" dauern achtzehn Monate.

In dieser Zeit gibt es kaum eine Woche, in der Brigitte Helm nicht beschäftigt wäre. Fritz Lang denkt gar nicht daran, sie zu schonen: „Du mit deinen sechzehn Jahren kannst ja eine Menge aushalten!" erklärt er.

Die Szenen, in denen das Wasser in die untere Stadt läuft und die Kinder fast ertrinken, dauern im fertigen Film ungefähr zehn Minuten. Ihre Verfilmung nimmt aber mehr als sechs Wochen in Anspruch. Und während der ganzen Zeit steht Brigitte Helm bis zu den Hüften im Wasser.

Dann ist da die Szene, in der Freder sie über eine unheimlich schmale Leiter vom brennenden Kirchturm heruntertragen muß. Sie soll ohnmächtig sein. Freder hält sie nur um die Taille, sie hängt also mit Kopf und Oberkörper völlig in der Luft. Die Szene probt Lang ein dutzendmal und ist immer noch nicht zufrieden.

Als Brigitte zum dreizehnten Mal in dieser etwas unnatürliehen Position die Leiter hinuntergetragen wird, muß sie sich erbrechen und wird nun wirklich ohnmächtig.
Und dann fängt die ganze Geschichte wieder von vorn an.
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Brigitte Helm als "Roboter-Maria"

Oder da ist jene Szene im Film - eigentlich die wichtigste - in der die Roboter-Maria erschaffen wird. Es ist die bereits erwähnte Szene, in der das künstliche Mädchen in einer Art Rüstung hin- und hertapst. Im Grunde genommen wäre es völlig gleichgültig, wer in dieser Rüstung steckt. Jeder Komparse könnte die verlangten Bewegungen ausführen, ja, vermutlich jeder intelligente Bühnenarbeiter.

Aber Fritz Lang lehnt solchen „Ersatz" empört ab. Er erklärt, das brächte ihn um seine Stimmung. „Ich muß spüren, daß du drin bist!" erklärt er Brigitte. „Ich muß dich sehen, auch wenn ich dich nicht sehe. Sonst wird die Szene nie ..."

An der Szene, die im fertigen Film wenige Sekunden dauert, wird neun Tage gedreht. Neun Tage steckt Brigitte in ihrem Panzer aus Plastik und Holz. Es ist darin so heiß, daß sie nur wenig Unterwäsche tragen kann.

Darüber werden im Atelier zahllose Witze gemacht, und die ganze Belegschaft amüsiert sich damit, durch die Löcher und Ritzen des Panzers Münzen zu stecken wie in einen Automaten: der werdende Star soll sich später Schokolade dafür kaufen ...

Fritz Lang lobt selten

Aber Fritz Lang ist schließlich befriedigt. „Die Szene ist genau so geworden, wie ich wollte!" ruft er aus, sein Monokel fester klemmend. Ein größeres Lob aus seinem Munde gibt es nicht.

Muß das sein? Ist es wirklich notwendig, ein junges zartes Mädchen eine Woche lang in eine Ritterrüstung zu stecken? Oder sie ein dutzendmal mit dem Kopf nach unten von einem hohen Kirchturm hinuntertragen zu lassen - was gar nicht ungefährlich ist?

Muß sie tagelang im Wasser stehen? Im Atelier murmelt man bereits von „Sadismus", der „typisch für Fritz Lang" sei.

Da ist zum Beispiel eine Szene, in der der junge Schauspieler Gustav von Wangenheim niedergeschlagen wird. Das wird ein halbes dutzendmal geprobt, und immer noch findet Lang die Szene nicht „so, wie ich wollte", bis Wangenheim völlig erledigt ist und nicht mehr kann.
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Es beginnt die Legende um Fritz Lang

Ein Sadist? Lang schont sich selbst noch weniger als die anderen. Er arbeitet bis zum Zusammenbrechen. Er kann nur das Letzte aus seinen Schauspielern herausholen, wenn er das Letzte aus sich selbst herausholt. Das begreifen die wenigsten.

So beginnt sich eine Legende um Fritz Lang zu spinnen, daß er schwierig, unangenehm, bösartig sei. Nur diejenigen, die ihn genau kennen - und er macht es den Menschen nicht leicht, ihn zu kennen - wissen, daß er im Grunde genommen weich ist.

Brigitte Helm ist skeptisch

Manchmal ist Brigitte Helm überzeugt davon, daß sie völlig versagt und daß die anderen es ihr nur nicht sagen. Ihre Unsicherheit verwandelt sich in Schüchternheit.

Weil sie unnahbar ist, gibt man ihr bald den Spitznamen der „Jungfrau von Babelsberg". Brigitte Helm hat keinen Ehrgeiz. Vermutlich weiß sie schon, als sie in „Metropolis" spielt, daß sie nicht immer ein Filmstar bleiben wird, daß es nicht der Sinn des Lebens sein kann, zumindest nicht der Sinn ihres Lebens, ihren Namen in riesigen elektrischen Lettern an den Fassaden der größten Kinopaläste zu sehen.

Es muß noch etwas anderes, Wichtigeres geben. Ahnt sie schon jetzt, da sie noch am Anfang steht, daß ihre Filmkarriere nur zehn Jahre dauern wird - nicht, weil sie nach zehn Jahren versagt, sondern weil sie nach zehn Jahren genug hat?

Weil sie nach zehn Jahren nicht nur den anderen Leben vorspielen, sondern selbst leben will ...?
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Der junge Freder, Brigitte Helms Partner ....

Der junge Freder, Brigitte Helms Partner, ist ein ungewöhnlich gut aussehender Jüngling namens Gustav Fröhlich, der auch über eine gewisse schauspielerische Begabung verfügt.

Ursprünglich wollte er Schriftsteller werden, schrieb schon auf dem Gymnasium Abenteuergeschichten, wurde Redakteur in einem kleinen Ort nahe seiner Geburtsstadt Hannover, ging dann als Erklärer in ein Kino, spielte auf einer Wanderbühne und landete schließlich in Berlin.

Er spielte vorerst nur an Vorstadtbühnen, am Steglitzer Schloßparktheater, das damals nicht ernst genommen wurde, und im Volkstheater in der Köpenicker Straße.

Ursprünglich hatte Fritz Lang einen anderen jungen Schauspieler für den Freder vorgesehen. Der versagte aber. Und so bekommt Fröhlich seine Chance. Von nun an wird er in zahllosen Filmen spielen, wird das Idol der jungen Mädchen, eine Art Harry-Liedtke-Ersatz.

Nun, er ist wohl ein besserer Schauspieler als sein Vorgänger, er ist moderner, einfacher, wenn er auch nicht den überwältigenden Charme Harry Liedtkes besitzt.

Alfred Abel und der junge Heinrich George spielen mit

Schauspielerisch weit über Gustav Fröhlich stehend: sein (Film-)Vater, vom Charakterschauspieler Alfred Abel gespielt, und vor allem der Werkmeister und Revolutionär, den der junge Heinrich George, zum erstenmal in einer ernsthaften Filmrolle, hinlegt.

Eine höchst eindrucksvolle Leistung. Woher kommt dieser Heinrich George? Der Vater von Heinrich George oder, wie er eigentlich heißt, Heinrich Georg Schulz, war Marineoffizier und später Beamter in Stettin.

Der junge George, der schwere, derbe, untersetzte Junge mit dem runden Gesicht und dem vollen Haar, lebte nur für seine Geige. Er wurde beim Stettiner Magistrat in die Lehre gesteckt. Aber er taugte doch nicht viel. Und der Vater seufzte: „Was soll nur aus dem Jungen werden!"

Er träumte von einem großen Orchester mit zahllosen Geigen

,Kapellmeister!' hätte dieser sicher geantwortet, wenn man ihn wirklich gefragt hätte. Er träumte davon, ein großes Orchester mit zahllosen Geigen zu dirigieren. Ja, er kaufte sich sogar einen Taktstock.

Der Vater, entsetzt über die dauernden Beschwerden beim Magistrat, schickte ihn nach Berlin, dort sollte er auf einer Presse sein Abitur nachmachen. (Anmerkung : Was ist eine Presse ?) Nur ging er nicht auf die Presse, sondern in die Oper, in die Konzerte, gelegentlich auch in die Operette.

Da das Geld natürlich nicht weit reichte, pilgerte er mit einem Freund ins Königliche Schauspielhaus, um zu statieren. Auch verdingte er sich als Claqueur (Animateur zum Klatschen). Der Oberclaqueur schickte ihn ins Schiffbauerdammtheater mit einem Zettel in der Hand, auf dem geschrieben stand, wann er zu applaudieren hätte.

Er applaudierte aber nicht. Er war viel zu begeistert. Der zerknüllte Zettel mit den Stichworten fiel unbemerkt und unbenutzt zu Boden. Das war Heinrich Georges ruhmloses Ende als Claqueur.
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„Ich will Schauspieler werden!"

Vater George holte ihn nach Stettin zurück. „Hoffentlich hast du dir aus dem Kopf geschlagen, Kapellmeister zu werden!" herrschte er seinen Sohn an. Der nickte, obwohl es nicht stimmte. Sein Leben lang, auch später, als er ein berühmter Schauspieler war, wollte er „eigentlich" Dirigent werden.

„Du willst also einen ordentlichen Beruf ergreifen?" vermutete der Vater von neuem hoffnungsfreudig. Der Sohn dagen : „Ich will Schauspieler werden!" Der Vater schnappte nach Luft.

Er wurde Schauspieler - mit Hilfe der Mutter, der er sich anvertraute, mit Hilfe des Pastors, dem es die Mutter zuflüsterte, mit Hilfe des Schauspielers Bernhard Majewski, dem es der Pastor steckte, mit Hilfe des Bruders von Majewski, der es von diesem erfuhr, und der eine Stellung am Kurtheater in Kolberg innehatte.

Und nun ging alles im Eiltempo. Mit neunzehn Jahren wurde George mit einer Gage von fünfunddreißig Mark monatlich in Kolberg engagiert. Mit neunzehneinhalb brannte er zum Zirkus Althoff durch, bei dem er für Kost und Logis zur Erheiterung des Publikums Balladen vortrug und einer Tänzerin den Hof machte.

Mit neunzehndreiviertel spielte er im Stadttheater in Bromberg, mit zwanzig schloß er einen Vertrag mit dem Hoftheater in Neustrelitz ab - der Vertrag war vom Freiherrn von Maltzahn, so hieß der Intendant, persönlich unterschrieben!

Mit einundzwanzig mußte er in den Krieg, wurde bald verwundet, als dienstuntauglich aus dem Heer entlassen und war wieder entschlossen, Musiker zu werden.

Nach Dresden und Frankfurt - Max Reinhardt holt ihn nach Berlin

Nach dem Krieg: Das Albert-Theater in Dresden, dann das Schauspielhaus in Frankfurt. Kontraktbruch, weil er im Wiener Burgtheater spielen kann; reumütige Rückkehr nach Frankfurt in sein Ensemble. Und dann holt ihn Max Reinhardt nach Berlin.

Heinrich George kommt also schon als ziemlich routinierter Schauspieler nach Berlin. Er sieht allerdings gar nicht aus, wie man sich einen Schauspieler vorstellt. Er hat eine unmögliche Figur, er hat auch eigentlich ein unmögliches Gesicht. Alles an ihm ist viel zu breit, ja, fast aufgedunsen.

Er führt auch keineswegs das, was man beim Theater eine edle Sprache nennt. Er spricht knarrend, keuchend, man glaubt, er sei beständig in Atemnot. Die schönen Augen sind von Fettpolstern fast verhüllt. Übrigens schwitzt dieser George ununterbrochen. Der Schweiß läuft ihm in Strömen den Nacken herunter ...

Eine einmalige Ursprünglichkeit, dieser George

Und doch kann sich niemand, der ihn einmal gesehen hat, dem Zauber dieser Persönlichkeit entziehen. Das Besondere an George: er ist von einer einmaligen Ursprünglichkeit.

Man fragt sich manchmal: ist er wirklich Mensch oder ist er ein böser Geist, eine Märchenfigur, halb Tier, halb Dämon?

Er steht auf der Bühne und man hat das Gefühl, daß der Boden dieser Bühne nicht mehr aus Brettern, sondern aus Erde besteht, und daß dieses Wesen, George genannt, aus der Erde emporgewachsen ist.

Er hat nichts von der Eleganz und der Liebenswürdigkeit des Südens an sich - es ist ja durchaus kein Zufall, daß die meisten Schauspieler aus südlichen Gefilden kommen, und daß er selbst aus dem Norden kommt; es ist etwas von der Schmucklosigkeit der nordischen Landschaft um ihn, der unendlichen Heide, der ruhigen, aber deshalb nicht ungefährlichen See.

Ja, man muß immerfort an die See denken, wenn man ihn sieht. Er wirkt wie der Kapitän eines Schiffes. Die Bühne, eben noch Wald oder Feld, steht plötzlich auf Schiffsplanken ...

Seine Einstellung zum Film: eine Nebenbeschäftigung

Natürlich hat ihn der Film geholt, und wäre es auch nur, weil er ein „interessanter" Typ ist. Seine Einstellung zum Film: eine Nebenbeschäftigung, die sich schon aus finanziellen Gründen lohnt. Es macht ihm gar nichts aus, den ganzen Tag zu filmen und abends Theater zu spielen. Seine Kraft scheint unerschöpflich zu sein.

Aber es dauert lange, bis er Rollen bekommt, die ihn auch über die Gage hinaus interessieren. Die erste Rolle dieser Art ist die des Werkmeisters in „Metropolis", dem Riesenfilm von Fritz Lang.

Und so stark ist der Eindruck, den er hinterläßt, daß selbst eingefleischte Kritiker, die ihn schon ein halb-dutzendmal auf der Leinwand gesehen haben, glauben, dies sei sein erster Film.
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