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"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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1932: ABSCHIED VON DER GROSSEN ZEIT

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Fritz Lang hat lange keinen Film mehr gemacht

In Filmkreisen wundert man sich allgemein, daß Fritz Lang seit der „Frau im Mond" keinen Film mehr inszeniert, besser, daß Fritz Lang nicht sofort einen Tonfilm gemacht hat.

In der Tat vergehen fast zwei Jahre, bis Lang seinen ersten Tonfilm dreht, der Filmgeschichte machen wird. In der Zwischenzeit ist vieles geschehen.

In die Zwischenzeit fallen gewisse private Tragödien, die hier nicht näher beleuchtet werden sollen.

Es genügt zu sagen, daß Fritz Lang schon seit einiger Zeit mit seiner Frau, Thea von Harbou, nicht mehr glücklich ist - vielleicht darf man auch sagen, daß sie mit ihm nicht mehr glücklich ist. Jedenfalls ist die Zusammenarbeit der beiden nicht mehr so ungestört, so selbstverständlich, wie sie früher war.

Schwierigkeiten zwischen Fritz Lang und der UFA.

Hinzu kommen Schwierigkeiten zwischen Fritz Lang und der UFA. Die wollte, daß er „Die Frau im Mond" nachträglich in einen Tonfilm umwandle. Er sollte „Ton hinzufügen". Er weigerte sich.

Die Folge: Krache und Prozesse. Die UFA glaubte, Fritz Lang aushungern zu können. Fritz Lang war entschlossen, sich nicht aushungern zu lassen. Das war nicht so ganz einfach, da er, auf großem, man darf wohl sagen, auf größtem Fuße lebend, darauf angewiesen war, daß die UFA ihren Zahlungsverpflichtungen restlos nachkam.

Die Zahlungen kamen nicht. Fritz Lang stand plötzlich fast ohne Geld da, jedenfalls ohne das, was er Geld nannte. Aber die UFA hatte ihre Rechnung ohne Phantasie gemacht. Sie wußte nicht, daß Lang zuerst und zuletzt ein Künstler war, und daß er schlimmstenfalls auch ohne Autos, ohne Diener, ohne eine Villa und ohne Luxus leben konnte.

Seymour Nebenzal, ein erfolgreicher Filmproduzent aus Amerika

In dieser Situation trat der Filmproduzent Seymour Nebenzal an ihn heran. Nebenzal, der viel von Filmen verstand und späterhin einige der besten europäischen Filme produzieren sollte, schlug Fritz Lang vor: „Machen Sie einen Film für mich! Sie können sich jedes Thema wählen! Sie können sich die Besetzung wählen! Sie können sich alles wählen!"

Seymour Nebenzal war damals Anfang dreißig, obwohl er wesentlich jünger aussah, und ein erfolgreicher Filmproduzent. Er wurde in Amerika geboren. Als kleiner Junge nahmen ihn die Eltern zu einem „kurzen" Besuch zu Verwandten nach Deutschland mit.

Sie blieben, und er blieb auch. Nach dem Weltkrieg trat er als Lehrling in ein Bankgeschäft ein, wurde in der Inflationszeit Makler, gründete eine eigene Bankfirma, war plötzlich, einundzwanzig Jahre alt, und reich.

Sein Vater hatte einige Harry-Piel-Filme produziert. Das erweckte das Interesse des Sohnes, der 1924 selbst einen Film finanzierte, sich dann mit Richard Oswald zusammentat und die Nero-Filmgesellschaft gründete, die er schließlich ganz übernahm.

Die Nero-Filmgesellschaft produzierte etwa sechzig Stummfilme

.... und Seymour Nebenzal war verantwortlich für viele künstlerisch interessante, wenn nicht gar wertvolle Filme. Der letzte Stummfilm, den er produzierte, war Wedekinds „Büchse der Pandora" unter der Regie von G. W. Pabst, mit der amerikanischen Schauspielerin Louise Brooks aus Hollywood in der Hauptrolle - ein Dirnenfilm von unwahrscheinlicher, aber bezwingender Härte.

Seymour Nebenzals große Zeit kam erst mit dem Tonfilm.

Er produzierte „Westfront 1918", ein Kriegsfilm mit pazifistischen Tendenzen, unter der Regie von G. W. Pabst, der in manchen europäischen Ländern einen stärkeren Erfolg hatte als „Im Westen nichts Neues".

Es folgte die „Dreigroschenoper" von Bert Brecht und Kurt Weill, mit Rudolf Forster in der Hauptrolle, wieder unter der Regie von G. W. Pabst. Ein Film, der nur unter den größten Schwierigkeiten fertiggestellt werden konnte, da Bert Brecht zwar das Geld einsteckte, aber alles tat, um die Produktion unmöglich zu machen.

Es folgte „Ariane" nach dem Roman von Claude Anet. Es handelte sich um die Geschichte eines jungen russischen Mädchens, das sich in einen berühmten Geiger verliebt. Ariane war Elisabeth Bergner, der Geiger Rudolf Forster.

Die Regie führte Paul Czinner, der Mann der Bergner. Dieser Film wurde nur unter den größten Schwierigkeiten zu Ende gedreht, und auch dann schien es, als würde er nie aufgeführt werden.

Es gab schlimme Szenen zwischen der Bergner und ihrem Mann, da sie ihre eigenen Ideen darüber hatte, wie der Film geschnitten werden müßte. Einmal wurden sogar Flaschen geworfen. Schließlich siegte Czinner mit Hilfe seines Produzenten.
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Die Uraufführung fand in Berlin im „Capitol" statt

Er arbeitete bis zum letzten Moment. Als am Tag der Uraufführung die Wochenschau lief, verließ der erste Akt die Kopieranstalt und traf im Berliner „Capitol" nicht eine Minute zu früh ein. Und so ging es mit den anderen Akten auch. Niemand hatte den Film, wie er nun lief, vorher gesehen, geschweige denn kontrolliert, ob die Schnitte stimmten.

Die Bergner, überzeugt, daß es ein Reinfall werden würde, wollte gar nicht zur Premiere kommen. Nebenzal war überzeugt, daß er eine Million an dem Film verlieren würde. Er verdiente dann eine Million.
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Kein Erfolg war der Film „Kameradschaft" ....

..... der mit deutschen und französischen Schauspielern gemacht wurde - er spielte in den Bergwerken in der Nähe von Gelsenkirchen, direkt an der Grenze.

Es ging um eine Katastrophe, während der Deutsche französischen Arbeitern zu Hilfe kamen, die über keinerlei Rettungsgerät verfügten. Es sollte ein Film der deutsch-französischen Annäherung werden.

Aber die deutsche Presse tat ihn als französische Propaganda ab, die französische Presse ihrerseits als deutsche Propaganda. Es gab viele Ehrungen für den Produzenten des Films, aber er verlor Geld an ihm.

Trotzdem war er bereit, neues Geld mit einem Fritz-Lang-Film zu riskieren. Fritz Lang traf sich mit Thea von Harbou; noch waren sie Freunde.

Er erzählte ihr von dem Anerbieten Nebenzals. Welches Thema sollte er wählen? Welche Art von Film sollte er machen? Eines war ihm klar: die Zeit fieberte, die Zeit war krank. Große Entscheidungen standen bevor.

Jetzt einen Film machen wie „Die Nibelungen" oder „Die Frau im Mond" - hieß das nicht, sich vor einer Stellungnahme zu drücken, Unterhaltungen zu machen, wobei es vielleicht wichtig wäre, in die Debatte einzugreifen, Stellung zu beziehen?

Es war für Fritz Lang undenkbar, jetzt einen zeitlosen Film zu machen. Sein nächster Film mußte ein Film der Zeit, ein Film aus der Gegenwart werden.
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Wann gibt es wieder einen Fritz Lang Film ?

Die Kinobesitzer schrieben: „Wann kommt der nächste Film von Fritz Lang? Was macht Lang? Warum bringt er nicht wieder einen Film wie „Mabuse" heraus?"

Fritz Lang sagte zu Thea von Harbou: „Man könnte einen Film über einen Verbrecher machen! Verbrecher ... Verbrechen ... Die Luft ist voll davon." Ja, die Zeitungen waren voll von Verbrechen.

Von politischen Verbrechen. Von Sexualmorden. Von Raubmorden ... Aber Fritz Lang wollte nicht irgendeinen Verbrecherfilm machen. Wenn er einen Film über einen Verbrecher machte, mußte dieser Verbrecher irgendwie ein Symptom der Zeit sein.

Er fragte die Harbou: „Hast du die Zeitungen gelesen? Von welchen Verbrechen wird berichtet?" Drei oder vier Tage später meldete Thea von Harbou: „Morde ... Lustmorde ... Eisenbahnattentate ..."

Lang erinnerte sich an ein schauriges Lied ........

Da gab es doch einen schaurigen Vers, der in Deutschland die Runde machte:

„Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir, mit dem großen Hackebeilchen macht er Schabefleisch aus dir!"
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Einige Tage später berichtete Thea von Harbou:

„Kindermorde ... Es gibt jetzt viele Kindermorde ..." Fritz Lang dachte: Kindermorde ... das war sicher das Schlimmste... daß so etwas geschah, zeigte am deutlichsten, wie krank die Zeit war. Er faßte einen Entschluß: „Das ist es!"

Die nächsten Wochen verbringt er auf dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz, studiert Akten, hört zu, wenn Verhaftete vernommen werden. Er will sie kennenlernen, er will wissen, wie es in ihnen aussieht, er will die kranke Zeit kennenlernen, indem er die Kranken studiert. Thea von Harbou hat das nicht nötig. Thea von Harbou dichtet in ganz kurzer Zeit die Geschichte eines Kindermörders.

Fritz Lang sagt: „Vielleicht solltest du einmal mit zum Alexanderplatz kommen. Die Menschen dort sehen ... die Typen ..."
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Thea meint. sie weiß es besser ...

Sie schüttelt den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ich sehe alles vor mir!" Was sie vor sich sieht, hat nichts mehr mit der Wirklichkeit von 1930/1931 zu tun. Als Fritz Lang es liest, weiß er es.

Die entscheidenden Szenen des Films: „Die Mörder sind unter uns" werden von ihm neugeschrieben oder umgeschrieben. „Die Mörder sind unter uns" ist die Geschichte eines pathologischen Menschen, der aus seiner Veranlagung heraus Kinder morden muß.

Fritz Lang weiß auch, wer diese Rolle in seinem Film spielen wird. Es ist der Schauspieler Peter Lorre.
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Der Schauspieler Peter Lorre.

Peter Lorre ist drei Jahre vorher nach Berlin gekommen, aus Wien, aus der österreichischen und tschechischen Provinz, ein kleiner Schauspieler, klein auch von Statur, mit unendlich großen Augen, die fragend in die Welt blicken.

Ein Schauspieler, der in zwei, drei Stücken in Berlin auftrat und bereits in aller Munde ist. Die Stücke, die er spielte, waren sehr modern, avantgardistisch, er selbst ist ein avantgardistischer Schauspieler.

Man könnte sich ihn nicht in einem Stück von Schiller oder Shakespeare vorstellen. Peter Lorre gehört zu der Zeit, in der er lebt. Und er drückt sie auch aus. Von ihm geht die Faszination der Echtheit aus, der Echtheit bis zum Grauenhaften.

Eines Tages kam Fritz Lang in seine Garderobe. Damals wußte er noch nicht, daß er einen Kindermörderfilm machen würde. Er wußte überhaupt nicht, wovon sein nächster Film handeln sollte. Er wußte nur, daß es ein Tonfilm sein würde. Er hatte Peter Lorre gesehen und war erschüttert.

Er sagte: „Sie spielen in meinem ersten Tonfilm die Hauptrolle. Bedingung ist, daß Sie keinen Tonfilm vorher machen! Versprechen Sie mir das?" Lorre versprach es.
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Lorre hatte viel Zeit und keine Rollen

Das fiel ihm nicht schwer, denn um diese Zeit hatte noch kein anderer Filmregisseur oder Filmproduzent sich um ihn gekümmert. Dann wurde er bekannt, und die ersten Filmangebote kamen. Richard Oswald besuchte ihn. Er wollte Wedekinds „Frühlings Erwachen" drehen.

Das war ein damals berühmtes, um nicht zu sagen berüchtigtes Stück des großen Dramatikers Frank Wedekind. Es handelt, wie der Titel schon besagt, von den Problemen junger Mädchen und Knaben im Pubertätsalter.

Die große tragische Figur ist Moritz Stiefel, ein Junge von etwa fünfzehn Jahren, der mit den Problemen der Sexualität nicht fertig wird und sich schließlich umbringt. Peter Lorre hatte die Rolle mit großem Erfolg auf der Bühne gespielt.

Jetzt wollte ihn Richard Oswald für die gleiche Rolle im Film haben. Lorre lehnte ab eingedenk des Versprechens, das er Fritz Lang gegeben hatte.

Richard Oswald, der glaubte, es handele sich um Gage, konterte: „Ich biete Ihnen drei Tage Garantie!" Das war viel für Oswald, der schnell arbeitete. Lorre sagte noch einmal nein.

 Und so kam es, daß er wirklich noch nicht gefilmt hatte, als Fritz Lang ihn schließlich anrief: „Es ist so weit. Wir können beginnen." Es war nicht so weit. Sie konnten noch lange nicht beginnen.
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Die UFA sollte den Film verleihen, wie immer

Fritz Lang zweifelt nicht daran, daß der UFA-Verleih auch seinen nächsten Film übernehmen wird. Und so ist es eigentlich selbstverständlich, daß er ihn draußen im Atelier Babelsberg dreht.
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Vorher nochmal ein Blick auf die UFA Stadt Neu-Babelsberg

Babelsberg oder UFA-Stadt - das ist jetzt schon der offizielle Name - ist um diese Zeit die größte Filmproduktionsstätte Europas.

Die UFA-Stadt -  das sind 200 Morgen oder 480.000 qm Aufnahmegelände; das sind zehn Tonfilmateliers; das ist ein Synchronisierungsgebäude und ein Mischatelier; das sind Garderoben für 2.500 Kleindarsteller und Komparsen und 250 Sologarderoben; das ist eine Wiener Straße, 85m lang und 14m breit mit 15m hohen Häusern, die im „Der Kongreß tanzt" vorkam; das ist eine moderne Großstadtstraße, 90m lang und 22m breit und asphaltiert; das ist ein kleines Palais, von einem Park umgeben; das sind Flüßchen und Teiche; das ist ein 50m hoher Freihorizont, 150m lang, 45m breit.

Die UFA-Stadt - das ist ein Fundus von 10.000 Möbelstücken, 8.000 Kostümen, 2.000 Perücken, 800 Paar Stiefeln. Die UFA-Stadt ist ein Waffenarsenal; das ist ein Autopark, eine ganze Kollektion von Eisenbahnwagen, von Fahrzeugen aus allen Epochen, von Schiffseinrichtungen, von Öfen und Kaminen; Die UFA-Stadt - das ist ein kleiner Zoologischer Garten.

Die UFA-Stadt ist ein Fundus von 39.000 verschiedenen Arten von Materialien, mit denen gebaut werden kann. Die UFA-Stadt hat eigene Transformatoren, ein eigenes Trickfilmatelier, eine eigene Feuerwehr, ein Hydrantennetz, eine eigene Sanitätsstation, ein Archiv, wie es kein zweites in Europa gibt, ein Besetzungsbüro mit 3.000 Kartothekkarten.

In der UFA-Stadt werden jährlich 110.000 kg Farben und Lacke verbraucht, 115.000 qm Bretter, 880.000 qm Latten, 60.000 kg Nägel, 16.000 Zentner Gips, 6.500 qm Glas, 27.000 cbm Sperrholz ...
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Als Fritz Lang in Babelsberg nach Ateliers fragt .....

... wann er mit den Dreharbeiten zu seinem Film „Die Mörder sind unter uns" beginnen könne, erhält er die Antwort, es seien leider keine Ateliers frei.

Keine Ateliers frei? Lang weiß ganz genau, daß das nicht stimmt. Also will ihn die UFA nicht haben? Es scheint so.

Das ist erstaunlich, denn die UFA ist sonst froh, wenn sie Hallen vermieten kann. Fritz Lang vermutet, daß die Direktion wütend über ihn ist, weil er sich nicht hat kleinkriegen lassen.
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Fritz Lang riecht, irgendetwas stimmt da nicht ......

Aber wohin immer sich Nebenzal und Lang wenden, um Filmateliers zu mieten - überall bekommen sie ein Nein zur Antwort. Es scheint, als sei da eine Verabredung im Spiel, es scheint, als sei die gesamte deutsche Filmindustrie entschlossen, dafür zu sorgen, daß Lang seinen Film nicht drehen kann.

Lang kommt auf den Gedanken, die leerstehende Zeppelinhalle in Staaken zu mieten. Der Verwalter dieser Baulichkeit, die seit Jahren leer steht und viel Geld kostet, sollte glücklich über jedes Angebot sein.

Zudem ist es ein alter Bekannter von Fritz Lang. Trotzdem druckst er lange herum und sagt schließlich, er glaube nicht, daß er die Halle vermieten könne.

Lang beschließt, nun endlich herauszukriegen, warum man ihm das Leben, will sagen das Filmen, so schwer macht. Er geht mit dem Bekannten aus Staaken in eine Bar, sorgt für ständigen Zufluß von Kognak und stellt schließlich fest:

die Filmindustrie ist der Überzeugung, daß er einen Film gegen Hitler, gegen die Nationalsozialisten, insbesondere gegen die SA drehen will; so wird allgemein der Titel „Die Mörder sind unter uns!" verstanden. Als es sich herausstellt, daß es sich um einen Film gegen einen Kindermörder handelt, steht dem Abschluß nichts mehr im Wege.
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Und Fritz Lang dreht seinen Kindermörder-Film

Und Fritz Lang dreht seinen Kindermörder-Film in der alten Zeppelinhalle in Staaken. Damit keinerlei Mißverständnisse unterlaufen können, gibt er ihm einen anderen Titel.

Aus „Die Mörder sind unter uns" wird „M". „M" ist der Film von dem pathologischen Kindermörder. „M" ist der Film der Unterwelt, die ihre besonderen Gesetze hat und ihre Missetäter selbst bestraft.

„M" ist der deutsche Tonfilm, der vielleicht noch mehr internationalen Ruhm ernten wird als „Der Blaue Engel". Dabei gibt es zahllose Schwierigkeiten bei den Aufnahmen.
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Viele Schwierigkeiten macht der Hauptdarsteller Peter Lorre.

Er spielt viel lieber Theater, als daß er filmt. Er würde „M" auch gar nicht spielen, wenn er den Vertrag mit Lang nicht unterschrieben hätte. Um die gleiche Zeit nämlich probt Peter Lorre im Berliner Staatstheater die Hauptrolle in der Komödie „Mann ist Mann" von Bert Brecht - unter der persönlichen Regie des Dichters.

Das interessiert Lorre viel mehr als die ganze Filmerei. Manchmal kommt er gar nicht nach Staaken, und wenn ihn Fritz Lang dann empört zur Rede stellt, erklärt Peter Lorre: „Ich hatte Probe bei Brecht! Das ist wichtiger!"

Lang muß mit einstweiligen Verfügungen und Prozessen drohen, um Lorre schließlich dahin zu bringen, seinen Kontrakt zu erfüllen.

Inzwischen sind die Proben zu „Mann ist Mann" zu Ende. Das Stück wird ein fürchterlicher Durchfall, wird viermal gegeben und verschwindet vom Spielplan. „M" dagegen wird immer noch gespielt.
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In "M" hat auch der junge Gustaf Gründgens mitgespielt

Neben Peter Lorre setzt sich ein junger Schauspieler durch, der auch viel mehr Interesse für das Theater als für den Film hat, der nicht nur Schauspieler, sondern Regisseur ist und, wenn er nur wollte, einer der ersten Filmregisseure Deutschlands sein könnte: Gustaf Gründgens.

Gustaf Gründgens ist der Sohn eines rheinischen Großindustriellen, in Düsseldorf geboren und aufgewachsen. Er soll ursprünglich später einmal die Firma des Vaters übernehmen. Dazu hat er nicht die geringste Lust.

Theater - um es gleich zu sagen - interessiert ihn auch nicht besonders. In der Schule trägt er einmal „mit Zittern und Zagen" und mäßigem Erfolg des „Sängers Fluch" vor.
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Musik ist Gründgens Lebenselement.

Er kann der Mutter, die noch von Lili Lehmann ausgebildet wurde, stundenlang zuhören, wenn sie Brahms oder Hugo Wolf singt.

Er will Oratoriensänger werden. Er kennt ganze Opernpartien auswendig. Leider muß sein Klavierlehrer feststellen, daß ihm das Wichtigste für die Karriere, zu der er sich entschlossen hat, fehlt: der junge Mann hat keine Stimme.

Es kommt der (1.Welt-)Krieg. Gründgens wird schließlich eingezogen, erkrankt, kommt ins Lazarett. Langweilt sich dort zu Tode, liest, daß Fronttheater gebildet werden. „Geeignete Talente" sollen sich melden.

Er schreibt ein Gesuch, in dem er kühn behauptet, ein erfahrener Schauspieler zu sein. Man schickt ihn nach Saarbrücken, aber bis das Fronttheater endlich spielbereit ist, gibt es kaum noch eine Front.

Am 2. Oktober 1918 betritt Gründgens die Bretter der Welt

Also betritt Gründgens am 2. Oktober 1918 in Saarbrücken zum ersten Male die Bretter, die die Welt bedeuten.

Bis zum Morgen dieses historischen Tages hat er geglaubt, daß er den Rodrigo in „Othello" spielen soll. Am Abend spielt er dann einen Professor, der dreimal so alt ist wie er selbst und über einen Vollbart verfügt, in einem Stück Ludwig Fuldas namens „Jugendfreunde".

Ein typisches Schicksal, das sich noch oft in seinem Leben wiederholen wird: wie oft noch möchte er Klassiker spielen und muß aus Kassengründen in seichten Komödien auftreten! Aber jedenfalls weiß Gründgens jetzt, wo er hingehört.

Er wird kein Oratoriensänger. Er wird Theater spielen. Über verschiedene Provinzbühnen gelangt er an die Hamburger Kammerspiele, eines der ersten Theater Deutschlands, geleitet von dem großen Künstler Erich Ziegel.

Gründgens spielt in den Hamburger Kammerspielen

Dort arbeitet er sich schnell nach vorn, spielt die großen klassischen und modernen Rollen, inszeniert, was zu inszenieren ist: Shakespeare und Lessing, Strindberg und Wedekind.

Reinhardt versucht einige Male, ihn nach Berlin zu holen. Aber es klappt nicht, weil Ziegel seinem besten Pferd im Stall naturgemäß keinen Urlaub geben will, weil er weiß, daß Gründgens, wenn er erst einmal nach Berlin kommt, Berlin für alle Zeiten nicht mehr verlassen wird.

Schließlich kommt Gründgens doch nach Berlin.

Aber Reinhardt hat keine besonderen Aufgaben für ihn. Überhaupt scheint niemand besondere Aufgaben für den jungen Mann aus Hamburg zu haben.

Gründgens sagt später darüber: „In der Provinz geleistete Arbeit war bedeutungslos. Berlin steht für sich und hat keinen Kontakt mit dem Theater im Reich. Nichts nützte mir meine fachliche Bewährung: es ging nicht weiter. Es fing von vorne an. Nichtssagende Rollen, unwichtige Inszenierungen: nach dem Abitur zurück in die Sexta... Nach Hamlet und Mephisto, Keith und Spiegelmensch spielte ich fade Lebemänner in dummen Stücken, nach Shakespeare und Büchner, Wedekind und Jahnn inszenierte ich Maugham und Lonsdale als bedeutende Autoren."
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Gründgens möchte Hamlet spielen oder Regie führen

Die Berliner Theaterdirektoren erklären einmütig, er sei der gegebene Mann für das Konversationslustspiel - er sieht so ganz anders aus, als er ist; blond, schmal, ein Monokel im Auge, wirkt er wie ein blasierter, dekadenter Lebejüngling - es gibt ja so wenige Männer, die auf der Bühne einen Frack zu tragen verstehen, und Gründgens ist einer von ihnen!

Als er den Wunsch ausspricht, Hamlet zu spielen, grinsen sie. Auch ernsthafte Regieaufgaben will man ihm nicht anvertrauen. Zur Operette mag es allenfalls langen ... Das verbittert Gründgens.

Und als eine immerhin so bedeutende Künstlerin wie Fritzi Massary an ihn herantritt und ihn auffordert, ein Lustspiel für sie zu inszenieren, lehnt er es schroff ab.

So dauert es lange, bis sich Gründgens in Berlin durchsetzt, der echte Gründgens, der so ganz anders ist, als er aussieht. Seltsamerweise sind es seine Operninszenierungen, vor allem „Figaros Hochzeit", „Cosi fan tutte" und der „Rosenkavalier", die bewirken, daß man endlich beginnt, ihn als Regisseur ernst zu nehmen.
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Was ist denn nun die Besonderheit seiner Regie?

Gründgens ist ein Fanatiker der Präzision, ein geschworener Feind all dessen, was sich nicht kontrollieren läßt. Einer, der glaubt, daß es wichtiger ist, etwas richtig zu machen, als etwas gut, aber falsch zu machen.

Richtig heißt für ihn, auszudrücken, was der Dichter sagen wollte. Falsch ist, auszudrücken, was dem Regisseur zu einem Stück einfällt - oder nicht einfällt. Richtig bedeutet: deutlich sein. Das Publikum muß wissen, woran es ist. Es muß wissen, was auf der Bühne vorgeht.
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Mit dem Film geht es Gründgens anfangs wie mit dem Theater.

Auch hier will man ihm nach Möglichkeit Rollen aufhalsen, die ihm, wie die Produzenten behaupten, „geradezu auf den Leib geschrieben sind": elegante, erlebte Jünglinge, nichtssagende Liebhaber.

Carl Froelich gibt ihm dann eine wirkliche Chance in „Der Brand in der Oper", und der Durchbruch erfolgt im „M"-Film von Fritz Lang.

Gründgens spielt hier den Beherrscher der Unterwelt, der seine Getreuen sozusagen zur freiwilligen Selbstkontrolle aufruft, damit der Kindermörder beseitigt werde.

Denn selbst die Ganoven haben ihre Ehre, und außerdem erregt der Kindermörder die Öffentlichkeit in solchem Maße, daß die Polizei mit sonst ungewohnter Konzentration arbeitet. Und das bekommt der Unterwelt nie sehr gut ...
Aber wie Gründgens die Rolle spielt, ist bezeichnend für ihn. Er stellt einen Unterweltkönig auf die Beine, der genau das Gegenteil von dem ist, wie der kleine Moritz sich so eine Figur vorstellt.

Da ist nichts von Romantik, nichts von Dämonie. Dieser Superverbrecher könnte ein Beamter sein, ein Anwalt, ein Wissenschaftler. Er ist unauffällig, präzise, klar.
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Der nächste Film heißt „Die Gräfin von Monte Christo".

Auch in seiner nächsten Filmrolle muß Gründgens einen Verbrecher darstellen, allerdings keineswegs den Chef einer Bande, sondern einen etwas schmierigen, aber dabei ungemein liebenswürdigen Hochstapler, einen weltgewandten, freilich auch überaus gefährlichen Mann.

Die Hauptrolle spielt Brigitte Helm. Sie hat in den letzten Jahren unzählige Filme gemacht. Da war „Die wunderbare Lüge der Nina Petrowna". Sie hat „Alraune" nach dem etwas unpassenden Roman über den künstlichen Menschen von Hanns Heinz Ewers stumm und als Tonfilm gedreht.

Sie hat „Im Geheimdienst" mit Willy Fritsch und Karl Ludwig Diehl gespielt, Regie Gustav Ucicky. Sie hat „Die singende Stadt" mit dem polnischen Tenor Jan Kiepura verfilmt. Kiepura ist ein junger polnischer Operntenor, der für einen Opernsänger besonders gut aussieht und, eine Seltenheit, kein schlechter Schauspieler ist.

Er wird in den nächsten Jahren zahlreiche Filme machen, deren Drehbücher eigentlich nicht viel mehr sind, als ein Vorwand für ihn, seine erstaunliche Stimme ertönen zu lassen.

Später wird seine Partnerin die blonde Wienerin Martha Eggerth sein, die er auch heiratet. Die Eggerth ist ihrem Mann übrigens als Schauspielerin weit überlegen und übertrifft ihn wohl auch an Popularität.

Was aber Brigitte Helm angeht: in allen Filmen, die sie seit „Metropolis" gedreht hat, wie auch in „Metropolis" selbst, war sie die dämonische Frau, der Vamp. Kaum ein natürliches Wort kam über ihre zuerst stummen, dann tönenden Lippen.

Brigitte Helm spielt mit Rudolf Forster und Gustaf Gründgens

Jetzt macht sie „Die Gräfin von Monte Christo" unter der Regie des Wieners Karl Hartl mit Rudolf Forster, dem damals sehr populären, nicht mehr ganz jungen Liebhaber, und Gustaf Gründgens, dem aufkommenden großen Charakterdarsteller. Dieser Film ist insofern eine Seltenheit, als er nach einem wirklich guten Drehbuch des Wieners Walter Reisch gedreht ist. Die Story hat übrigens nichts mit dem berühmten Grafen von Monte Christo zu tun.

Der Inhalt

Es handelt sich vielmehr um eine Filmkomparsin. Die soll eines Abends vor einem beleuchteten Hoteleingang vorfahren und aussteigen - im Atelier natürlich. Das ist ihre ganze Rolle. Damit die Szene realistischer wirkt, läßt der Regieassistent die Koffer, die im Auto stehen, mit Steinen beschweren. Die Szene wird einige Male geprobt, die Komparsin - Brigitte Helm - wird ziemlich schikaniert. Und nun hat sie endgültig genug. Als die Szene schließlich gedreht wird, hält sie nicht mehr, wie vorgesehen, vor dem Hoteleingang, sondern fährt weiter. Fort ... fort ... fort ... Sie möchte fliehen.

Wohin? Sie weiß es selbst nicht. Plötzlich hält sie vor einem Hotel. Und nun spielt sich im Leben alles so ab, wie es im Film geplant war. Der Portier reißt den Schlag des Wagens auf, ein Hausdiener trägt die mit Steinen beschwerten Koffer nach oben. Da die Komparsin einen eleganten Pelzmantel trägt, gibt man ihr die besten Zimmer.

Sie lernt zwei Männer kennen. Beide scheinen Männer der großen Welt zu sein. Beide sind Hochstapler. Beide wollen sie für ihre Zwecke benutzen. Aber der eine, ein edler Hochstapler - Rudolf Forster - rettet sie und bringt es auch fertig, den anderen etwas schäbigeren Hochstapler - Gustaf Gründgens - unschädlich zu machen.

Der Film wird ein riesiger Erfolg

.... vor allem eben, weil ihm ein gutes Drehbuch zu Grunde liegt - übrigens beweist der Erfolg, daß die übliche Angst der Produzenten, Film im Film zu zeigen, völlig unbegründet ist - dann auch, weil die Helm seit „Metropolis" nie wieder so gut war.

Sie darf mal wieder ein junges Mädchen sein, ganz natürlich, ganz frisch, ganz undämonisch, ganz selbstverständlich .. . Die UFA versucht, den Filmerfolg propagandistisch auszuschlachten.

Er wird ein Preisausschreiben veröffentlicht für Komparsinnen, die eine Chance bekommen sollen, eine große Filmkarriere zu machen. Unzählige Komparsinnen melden sich, aber keine Brigitte Helm, keine Brigitte Horney, keine Jenny Jugo wird entdeckt.

Dies sind große Zeiten des deutschen Films.

Die besten deutschen Schauspieler haben Gelegenheit, sich zu bewähren. Da ist zum Beispiel Werner Krauß, um diese Zeit bereits der Star von Reinhardts Deutschem Theater, der 1932 unter Gustav Ucicky einen Film „Mensch ohne Namen" dreht. Die Geschichte stammt von Balzac. Der schrieb eine Novelle „Oberst Chabert".

Es handelt sich bei diesem Oberst um einen berühmten napoleonischen Kriegshelden, von dem man allgemein glaubt, daß er in einer Schlacht den Heldentod gestorben ist. Seine Frau hat wieder geheiratet, sein Vermögen ist ihr zugefallen. Er selbst geriet in Vergessenheit, denn inzwischen ist ja sein Kaiser abgesetzt worden.

Da erscheint er eines Tages wieder. Niemand will ihm glauben, daß er Chabert ist. Jeder hält die Geschichte, wie er dem Tode entronnen ist, für Schwindel. Insbesondere die Ämter machen ihm alle erdenklichen Schwierigkeiten. Alles dies könnte den alten Haudegen nicht irre machen.

Aber als auch seine Frau versagt, deretwegen allein er wieder von den Toten auferstanden ist, macht er kehrt und verschwindet in das Dunkel, aus dem er kam ...

Diese Geschichte wird jetzt auf die Gegenwart übertragen.

Werner Krauß spielt einen Großindustriellen, der während des Krieges in Rußland gefangen war und dort sein Gedächtnis verlor. Er kommt schließlich zurück, findet auch sein Gedächtnis wieder und erfährt, daß die Behörden ihn längst für tot erklärt haben.

Er wird aus seinem eigenen Haus gewiesen. Niemand kennt ihn wieder oder will ihn wiedererkennen. Er geht.

Bei den Behörden zuckt man die Achseln. Da ist eine unvergeßliche Szene: ein Beamter klettert eine unendliche Leiter hinauf, sucht in vermoderten Akten und ruft dem unten Wartenden schließlich zu: „Sie sind ja längst tot, mein guter Mann! Sie existieren ja gar nicht mehr!"

Krauß wankt fort. Er steht vor dem Nichts. Er ist bereit, sich das Leben zu nehmen, nachdem man ihn ja doch schon für tot erklärt hat. Aber wildfremde Menschen helfen ihm: ein armer Agent und eine arbeitslose Stenotypistin.

Er beschließt, es wieder zu versuchen. Und er, der es schon einmal geschafft hat, schafft es wieder. Er macht eine Erfindung. Er wird unter dem neuen Namen reich und berühmt. Er heiratet die Stenotypistin, die ihm treu zur Seite stand.
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Die Schauspielerin Maria Bard

Die Stenotypistin wird von der Schauspielerin Maria Bard gespielt, einer gescheiten, amüsanten und ungemein eleganten Schauspielerin.

Sie hat bisher wenig gefilmt. Aber durch diese eine Rolle spielt sie sich in die vordersten Reihen der Filmschauspielerinnen. Diese Stenotypistin ist nicht Film, sie ist Leben.

Sie riecht förmlich von der Leinwand herunter - nach schlecht geschmierten Stullen, nach nicht gelüfteten Zimmern, überfüllten Straßenbahnen, durchwachten Nächten, in denen ein Dutzend Bewerbungsschreiben geschrieben werden, auf die niemals eine Antwort kommen wird ...

Übrigens: Maria Bard, die Stenotypistin, die Werner Krauß am Ende heiratet, ist im Privatleben Frau Werner Krauß.
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Ende 1932 ist auch Asta Nielsen noch einmal zu sehen

..... in ihrem ersten und letzten Tonfilm. Seit 1926 war es still um sie. Kein Produzent zeigte Interesse für die große Schauspielerin, die zwanzig Jahre vorher den Film als Kunstwerk überhaupt durchgesetzt hatte.

Man sagte, das Publikum interessiere sich nicht mehr für sie. Man sagte, die Einnahmen ihrer Filme seien zu entmutigend, um noch Filme mit ihr zu riskieren.

Es scheint mit ihr vorbei zu sein. Circulus vitiosus: weil man nicht mehr an die Nielsen glaubte, machte man keine Filme mehr mit ihr. Weil man keine Filme mehr mit ihr machte, wurde sie vergessen. Weil sie vergessen wurde, fragte niemand mehr nach ihr - und die Produzenten, die behaupteten, sie sei nicht mehr gefragt, hatten dann gar nicht so unrecht.

Freilich, sie selbst hatten es dahin gebracht, daß Asta Nielsen nicht mehr gefragt wurde. Der Regisseur Erich Waschnek ist es, der die Nielsen noch einmal zurückholt.

Der Film heißt: „Unmögliche Liebe".

Er erzählt die Geschichte einer Frau, die zwei erwachsene Töchter hat und den Mann liebt, in den sich eine ihrer Töchter verliebt hat. Nach schwerem seelischem Ringen verzichtet die Alternde, die Mutter.

Der Film wird kein Erfolg. Die jungen Menschen, die in die Kinos strömen, wissen gar nicht mehr, wer Asta Nielsen ist, und ziehen die blonden hübschen Dämchen, die in den unzähligen Filmen dargeboten werden, einer alternden Frau vor, die ein Gesicht hat, das zwar bedeutend, aber weit davon entfernt ist, hübsch zu sein.

Diese Reaktion ist verständlich. Schlimmer schon, daß niemand spürt, was das Gesicht der Nielsen ausdrückt.
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Eine Kunst, wie die der Nielsen, braucht keinen Tonfilm.

Daß die Menschen - und hier beginnt eine Entwicklung, die in den nächsten Jahren unaufhaltsam weitergehen wird - überhaupt das Gefühl dafür verlieren, was bedeutend und groß in der Kunst ist; daß sie sich lieber amüsieren als erschüttern lassen wollen.

Da steht die Nielsen noch einmal, ein letztes Mal. Man kann nicht sagen: da steht sie auf der Leinwand, denn wenn je ein Mensch diese Leinwand gesprengt hat, wenn je ein Mensch durch diese weiße Leinwand hindurch in das Nervensystem, in das Herz der Menschen gedrungen ist, dann war sie es.

Sie ist es auch jetzt noch, da sie die liebende Frau im gefährlichen Alter spielt, die schließlich verzichtet. Und alle, die Augen haben zu sehen, begreifen: eine Kunst, wie die der Nielsen, braucht keinen Tonfilm.

Ihre Augen sagen mehr, als alle Dialoge auszudrücken vermögen. Eine Bewegung ihrer Hände zum Mund, um den Schrei des Entsetzens zu unterdrücken, eine Bewegung ihrer Hände zum Herzen, um darzutun, wie unglücklich sie ist, wie müde, wie satt dieses Lebens, das keines mehr sein kann, jetzt, da sie den Geliebten aufgeben muß - das alles entlarvt im gewissen Sinne der Tonfilm, der so viel mehr gibt als der stumme Film.

Asta Nielsen steht noch einmal vor uns, unsere Augen brennen, unsere Herzen werden schwer, unsere Hände sind eiskalt. Wir spüren: Das ist einmalige Kunst.
Und dann, da dieser Film durchaus kein Geschäft ist, verschwindet die Nielsen in ihr heimatliches Dänemark und wird vergessen. - Vergessen - von der Filmindustrie und von denen, die ins Kino gehen, um ein paar Stunden totzuschlagen.
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Wenn die Nielsen einen wirklich großen Regisseur gehabt hätte

Denjenigen freilich, die sie einmal sehen durften, die sie wirklich zu sehen vermochten, bleibt sie ewig unvergeßlich.

Wenn die Nielsen einen wirklich großen Regisseur gehabt hätte ... Etwa Fritz Lang ... Es war ja nicht nur das Thema von „M", das die Menschen mit sich riß.

Es war ja vor allem die einfallsreiche Regie von Fritz Lang. Er arbeitete mit Geräuschen, wie er in seinen früheren Filmen mit Licht und Schatten gearbeitet hatte. Nebensächliches fiel weg.

Manchmal blieb die Leinwand minutenlang stumm. Dann: einige Schritte oder ein schrilles Pfeifen oder ein rasendes Auto. Und das war dann mehr als realistische Geräuschkulisse, das war ein Akzent, das war etwas, das einen aufhorchen machte, das einem das Herz stillstehen ließ, ein Alarmsignal sozusagen.

Wie Fritz Lang in seinen großen Stummfilmen gezeigt hat, daß man eine Figur dadurch hervorheben kann, daß man sie zeigt und die anderen im Dunkel oder Halbdunkel läßt, beweist er jetzt, daß ein Geräusch eine tragische, eine düstere oder befriedigende Bedeutung erhält, indem man es von den anderen Geräuschen isoliert.
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Schon wieder drängeln die Kinobesitzer

Kaum ist „M" heraus, da schreiben schon wieder die Kinobesitzer aus ganz Deutschland: Wann macht Fritz Lang seinen nächsten Film? Wovon wird er handeln? Es kommen auch Briefe, die sagen: Warum macht Lang nicht wieder einen Film wie „Dr. Mabuse"?

Nebenzal greift die Frage auf: „Warum machen Sie nicht wirklich einen neuen Mabuse-Film?" Fritz Lang lacht: „Mein Dr. Mabuse ist doch wahnsinnig geworden! Wie kann ich da noch einen Film über ihn machen?" „Er kann ja wieder gesund werden", meint Nebenzal, der ein großes Geschäft wittert.

Fritz Lang unterhält sich mit Thea von Harbou über die Möglichkeiten eines neuen Mabuse-Films. Auch Norbert Jacques, der Autor des Mabuse-Romans, wird hinzugezogen.

Nun hat sich ja der Film, den Fritz Lang und Thea von Harbou vor rund zehn Jahren schrieben, sehr weit von dem Roman entfernt, besonders was das Ende angeht. Im Roman stürzte Mabuse aus einem offenen Flugzeug heraus und war damit natürlich erledigt.

Also noch einen Mabuse Film ?

Im Film wurde er, wie gesagt, wahnsinnig. Er kann zwar kaum so einfach wieder gesund werden, wie Herr Nebenzal sich das so sehnlichst wünscht. Aber muß er denn gesund werden?

Kann nicht auch der wahnsinnige Mabuse im Mittelpunkt eines Films, eines „II. Teils Mabuse", stehen? Es ist 1932. Fritz Lang macht sich keine Illusionen mehr über die Macht, die Hitler bereits besitzt, obwohl er noch kein öffentliches Amt innehat.

Fritz Lang ist sich auch klar darüber, daß die Macht Hitlers, gar nicht unähnlich der Mabuses, auf eine Art Hypnose zurückzuführen ist; nur daß Dr. Mabuse einzelne Menschen hypnotisiert, während Hitler gleich Tausende oder Zehntausende unter seine Hypnose zwingt.

Lang würde gern einen Film machen, der Hitler, den Demagogen, entlarvt. Darüber kann er natürlich, vor allem mit niemandem aus der Filmbranche, sprechen, denn dort ist man vor allen Dingen am Geschäft interessiert.

Und wenn man auch allgemein hofft, daß Hitler nicht an die Macht kommen wird, so hält man es doch nicht für ein gutes Geschäft, einen Film zu machen, der die Millionen, die für Hitler gestimmt haben, so vor den Kopf stößt, daß sie nicht ins Kino gehen.

Fritz Lang versteht seine Frau Thea nicht mehr ....

Fritz Lang kann auch nicht mit Thea von Harbou über seine Absichten sprechen, denn sie ist bereits mit fliegenden Fahnen in das Lager Hitlers übergegangen.

Eine seltsame Frau, diese Thea von Harbou! Sie ist kein schlechter Mensch. Sie ist, im Gegenteil, ein im Grunde genommen anständiger Kerl, immer bereit, anderen zu helfen, immer willens, sich von anderen ausnutzen zu lassen.

Sie ist auch nicht dumm. Man kann nicht dumm sein und die Bücher und Filme schreiben, die sie geschrieben hat. Aber wenn es zur Politik kommt, dann sieht es in ihrem Kopf gar wirr aus.

Von Politik hat sie die Vorstellung des kleinen Moritz. Vergessen wir nicht, daß sie „Metropolis" geschrieben hat, einen Film, der damit endete, daß sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Hand reichen - und alles ist gut.

Die Harbou glaubt ernsthaft, daß die Wirklichkeit so aussieht, und fällt daher auf alles herein, was Hitler, Goebbels und Göring an Propaganda ausstreuen.

Fritz Lang fällt auf nichts von Hitler und Goebbels herein.

Fritz Lang beschließt, einen Anti-Hitler-Film zu machen. Er läßt sich von der nichtsahnenden Thea von Harbou - ahnte sie etwas, sie würde natürlich nicht mitmachen! - das Buch schreiben.
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Der Inhalt:

In einer Stadt häufen sich gewisse seltsame Sabotageakte. Die Polizei kann nur feststellen, daß eine Bande am Werk ist, die von irgendeinem geheimnisvollen Führer geleitet wird.

Ein Kommissar, der etwas tiefer forscht, bekommt schließlich heraus, daß alle Fäden in einer berühmten Nervenheilanstalt zusammenlaufen. Dort treffen sich die Unterführer der Bande, dort erhalten sie ihre geheimnisvollen Befehle! Als der Kommissar im Begriff ist, das Geheimnis zu lüften, verschwindet er.

Neue Nachforschungen. Schließlich stellt sich heraus: In dieser Nervenheilanstalt liegt der wahnsinnige Dr. Mabuse, den die Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren tot wähnte. Zwar ist er fast gelähmt, aber noch besitzt er die Fähigkeit, seinen Willen auf andere zu übertragen.

Und er hat seinen Arzt, einen der berühmtesten Nervenspezialisten der Welt, hypnotisiert. Mabuse schreibt Stunde für Stunde, Tag für Tag Befehle aus, die jener befolgt. Befehle, die dazu angetan sind, die bestehende Ordnung umzustürzen, Mord, Totschlag, das Chaos zu verbreiten.

Es ist natürlich kein Zufall, daß die Parolen, die der wahnsinnige Mabuse ausgibt - und durch ihn der berühmte Nervenarzt - verzweifelte Ähnlichkeit mit gewissen Geheimparolen der Nazis haben.

Fünf Minuten bevor die Revolution ausbricht, die Mabuse will, fünf Minuten bevor alles verloren wäre, gelingt es der Polizei, den Nervenarzt unschädlich zu machen. Dr. Mabuse ist, als man ihn festnehmen will, bereits tot.

„Das Testament des Dr. Mabuse"

Der Film „Das Testament des Dr. Mabuse" wird von Lang im Sommer 1932 gedreht. Neben Rudolf Klein-Rogge, der schon den ersten Mabuse spielte und jetzt den gelähmten darstellt, wirkt der junge Schauspieler Gustav Diessl mit.

Als der Film endlich fertig gedreht ist, als Fritz Lang ihn geschnitten hat, ist es zu spät. Hitler ist an der Macht. Eines der ersten Verbote, die der Propagandaminister Dr. Goebbels ausspricht, gilt dem Film „Testament des Dr. Mabuse" des Regisseurs Lang.
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