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"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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VIERTER TEIL • DIE GROSSE ZEIT

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LUBITSCH KANN ALLES

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Der erste große Lustspielfilm mit Henny Porten

Lubitsch hat schon einige Filme mit der Negri gemacht: „Vendetta", „Die Dubarry". Warum sollte er nicht einmal mit einer anderen Schauspielerin arbeiten? Davidson schlägt vor: „Wie wäre es mit Henny Porten?"

Die UFA hat gewisse Sorgen mit der Porten. Sie ist, nicht durch eigene Schuld, ein wenig festgefahren. Sie hat immer den gleichen Typ gespielt. Das leidende junge Mädchen, das leidende Weib. Sie hat immer den gleichen Typ Film gespielt: da geht es ziemlich sentimental zu, und es wird vor allem gegen Ende stets ungemein viel geschluchzt.

Lubitsch antwortet: „Warum eigentlich nicht? Aber man müßte irgendetwas Neues mit der Porten machen. Ein Lustspiel vielleicht?" Ein Lustspiel? Davidson ist baß erstaunt. „Kann man über die Porten lachen?"

„Wenn ich mit ihr rede, wird man schon lachen - mit ihr und über sie!" Der erste große Lustspielfilm mit Henny Porten entsteht. Er heißt: „Kohlhiesels Töchter".

Die Porten spielt eine Doppelrolle

Der Witz des Films: „Die Porten spielt eine Doppelrolle. Kohlhiesel, ein bayrischer Bauer, hat nämlich zwei Töchter. Eine reizende, lächelnde, hübsche Tochter, die ungefähr so aussieht, wie die Porten im Leben.

Und eine, die man nur als Trampel bezeichnen kann. Sie ist unausstehlich, sie ist schlampig angezogen, sie ist unordentlich frisiert, sie ist gar nicht hübsch, und die jungen Bauernsöhne, die ihre Schwester umschwärmen, haben Angst vor ihr.

Aber die hübsche Tochter darf sich nicht verheiraten, bevor die andere nicht unter die Haube gebracht ist; so will es nun mal der Vater."

Ein Herz für Henny Porten

Lubitsch, der Urberliner, entdeckt sein Herz für die bayrischen Berge und die Dirndl und die Jungen in kurzen Lederhosen. Er entdeckt auch sein Herz für Henny Porten.

Er ist nur ein wenig besorgt: wird die Porten die zweite Rolle, die allerdings nicht so wichtig ist, wie die des hübschen Mädchens, so spielen, wie er es sich vorstellt? Wird sie den Mut zur Häßlichkeit haben?

Die Porten sagt: „Passen Sie mal auf, Herr Lubitsch, wie ich mir das vorstelle!" Sie stürzt in ihre Garderobe, schminkt sich die Augenbrauen fort, macht sich einen grotesken Dutt, vergrößert ihre Nasenlöcher, beginnt zu schielen, zieht sich ein schlampiges Dirndlkleid an, kommt heraus mit latschendem, schwerem Schritt, den Bauch vorgeschoben, die Hände in die Hüften gestemmt.

Vielleicht doch etwas zu übertrieben häßlich

So weit wollte Lubitsch nicht gehen! So schlimm hatte er sich das nicht vorgestellt! So häßlich darf die Porten nicht sein! Er schüttelt den Kopf: „Nein, so wird das nicht gehen ..."

Es geht aber doch so. Und nach wenigen Tagen Dreharbeit schon ist Lubitsch ganz verliebt in die häßliche Schwester. „Vielleicht sollte man die Rolle ausbauen", meinte er. Die Drehbuchautoren nicken. „Das ließe sich schon machen. Aber dann wird die Rolle der hübschen Schwester kleiner."

Lubitsch mit weitausholender Geste: „Wen interessiert schon die hübsche Schwester? Die Leute haben die Porten ja bereits hundertmal hübsch gesehen."

Die Hauptrolle wird zur Nebenrolle

Und noch während sie drehen, wird die hübsche Schwester zur Nebenrolle, die häßliche Schwester zur Hauptrolle.

Eigentlich ist es ein Sieg Henny Portens über Lubitsch. Das ist ja das Erstaunliche an Lubitsch. Er hat Achtung vor der Persönlichkeit seiner Schauspieler. Er drängt sich nicht auf. Er ist bereit, sich überzeugen zu lassen.

Sein höchstes Lob sind drei Worte: „Das ist richtig!" Dann wissen seine Schauspieler, daß sie gut waren.
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Der nächste Film : Ein Märchen aus 1001 Nacht

Seinen nächsten großen Film macht Lubitsch wieder mit der Negri. Es handelt sich um die Verfilmung der Pantomime „Sumurun", die die Negri bei Reinhardt, wenn auch in zweiter Besetzung, schon gespielt hat. Ein Märchen aus 1001 Nacht.

Lubitsch kann sich austoben, und das können seine Architekten, seine Kostümberater, seine Fotografen. Eine neue Welt entsteht in Tempelhof. Gassen einer arabischen Stadt, Paläste, Minarette, eine steile Treppe, einige Brücken.

Und diese Welt wird bevölkert von männlichen und weiblichen Arabern, von Haremsdamen hinter Gittern, von Tänzern und Tänzerinnen, vom Hofgesinde des Scheichs und von den Kaufleuten, die ihre Ware in den dämmerigen Bazaren anpreisen.

Und dies alles ist Hintergrund für eine tolle Geschichte, die im Palast des Scheichs spielt und in den Vierteln der Armen, in der es unbeschreiblich süße Liebesszenen gibt und wilde Orgien, Intrigen und Mord und Totschlag.

Zum letztenmal Ernst Lubitsch als Schauspieler

Und da gibt es - neben der Negri und Harry Liedtke und Paul Wegener - auch noch einmal, zum letztenmal den Schauspieler Ernst Lubitsch. Wir erinnern uns noch: Ernst Lubitsch hat seinerzeit auch bei Reinhardt in „Sumurun" mitgespielt.

Er machte den Buckligen, der die ganzen Intrigen in Gang setzt, weil ihn die schöne Tänzerin Sumurun verschmäht hat, und der zuletzt den bösen Scheich umbringt.

Lubitsch hat seit Jahren nicht mehr Theater gespielt, er hat auch den Kommis Moritz nicht mehr gespielt. Und das geht wohl auch nicht, daß der erste Regisseur der UFA diese Rolle noch spielt, abgesehen davon, daß Lubitsch doch etwas zu alt dafür ist.

Er ist zwar noch keine dreißig, aber auch kein Jüngling mehr. Er ist ein fetter Herr, der ständig dicke Zigarren raucht. Er wurde ein großer Regisseur. Er versteht es wie kein zweiter, den Schauspielern vorzumachen, wie sie spielen müssen.

Er hat, wenn er es tut, die seltene Gabe der Verwandlung. Warum sollte er nicht wieder spielen? Warum sollte er, der den Schauspielern jeden Tag zeigt, wie man es macht, nicht dem großen Publikum auch mal etwas zeigen? Also spielt er die Rolle des Buckligen. Und es mißlingt.
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Ernst Lubitsch träumt seinen Traum

Er, der genau weiß, wie man eine Rolle spielen muß, er, der dem Schauspieler alles wegnimmt - wie es im Film-Jargon heißt, „forträumt", was zu viel ist - nimmt sich selbst gar nichts fort, räumt sich gar nichts weg. Er tobt sich aus. Er spielt nicht einen eifersüchtigen Buckligen, er spielt sämtliche eifersüchtige Bucklige, die es jemals auf der Welt gegeben hat.

Er rollt mit den Augen er agiert mit den Händen. Er rast in der Dekoration umher. Seine Schauspieler beobachten es mit Befremden. Weiß denn der große kleine Lubitsch nicht, daß er alles das macht, was er ihnen verbietet? Daß er maßlos, geradezu schamlos übertreibt? Er sieht doch die Streifen im Vorführraum! Aber er sieht sich wohl nicht, wie er die anderen sieht.

Er sagt zu der Negri: „Ich werde doch wieder filmen ... Eigentlich macht mir das mehr Spaß als Regie führen!" Die Negri sieht ihn entgeistert an. Sie ist davon überzeugt, - und diese Überzeugung wird sie noch dreißig Jahre später haben -, daß Ernst Lubitsch der größte Filmregisseur aller Zeiten ist.

Weiß er denn nicht? Sollte man es ihm nicht sagen?

Er weiß besser, was in einem Schauspieler steckt, als der Schauspieler selbst. Nur sich selbst gegenüber bleibt er kritiklos. Lubitsch fährt fort: „Weißt du, eigentlich wollte ich immer Schauspieler werden. Ich bin es ja auch. Regie ist interessant, gewiß, ich mache das gern. Aber selbst spielen ist doch etwas ganz anderes!"

„Wie du meinst", sagt die Negri. Weiß er denn nicht? Sollte man es ihm nicht sagen? Nein, entscheidet die Negri, sie jedenfalls kann es ihm nicht sagen, und die anderen wollen es auch nicht.

Die Premiere im UFA-Palast ist dennoch ein Riesenerfolg

Die Premiere im neuen UFA-Palast am Zoo ist ein Riesenerfolg für alle. Nicht nur für die Negri und Harry Liedtke und die anderen Hauptdarsteller. Vor allem wird auch Ernst Lubitsch gerufen.

Die Schauspieler sehen sich an. Ist es zu glauben? Begreifen denn die Leute nicht? Hat es noch einen Sinn, sich die Seele aus dem Leib zu spielen, wenn die Leute auf dergleichen provinzielles Getue hereinfallen? „Lubitsch! Lubitsch!" schreien die Leute.

Und immer wieder treten Pola Negri und Harry Liedtke vor den Vorhang. Lubitsch steht in der Kulisse. „Geht nur raus, Kinder!" ermuntert er seine Schauspieler. Liedtke sagt: „Aber sie rufen doch nach dir!" Lubitsch ist ganz bleich.

„Das kommt euch nur so vor." „Lubitsch! Lubitsch!"
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Lubitsch hat sich auf der Leinwand gesehen und ist erschüttert

„Hörst du es denn nicht?" ruft die Negri. „Du mußt mit heraus." Lubitsch: „Ich will nicht... es ist sinnlos..." - Und plötzlich bricht er los. „Habt ihr denn nicht gesehen, wie schlecht ich war? Warum hat mir das keiner von euch gesagt?"

Die hinter dem Vorhang schweigen. „Lubitsch! Lubitsch!" rast das Publikum. Lubitsch ist elend zumute. Das also sind seine Schauspieler? Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Lubitsch! Lubitsch!"

Als der kleine Mann schließlich doch noch totenbleich zwischen der Negri und Harry Liedtke vor den Vorhang tritt und sich verbeugt, weiß er: er wird nie wieder eine Filmrolle übernehmen. Er mag nicht mehr. Er hat dann auch nie wieder eine Rolle gespielt!
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Ein neuer Film : Heinrich VIII

Als Regisseur freilich hat Lubitsch nur Erfolge, und so sagt Davidson zu ihm: „Nun machen Sie einen großen Schlager mit der Porten!" Der Stoff ist schon da.

Es handelt sich um Anna Boleyn, die Frau Heinrichs VIII., die er schließlich aufs Schafott schickt. Anna Boleyn - Henny Porten, Heinrich VIII. - Emil Jannings.

Wenn es nach Davidsons Wünschen ginge, würde in Tempelhof halb London aufgebaut werden. So weit kommt es zwar nicht, aber immerhin wird das Schloß Windsor von dem Architekten Professor Poelzig in Tempelhof errichtet, ebenso der Tower und die Westminster Abtei mit dreihundert Skulpturen.

Die Kulisse ist 28m hoch

Sie ist achtundzwanzig Meter hoch. Nachdem sich Lubitsch wochenlang mit den Drehbuchautoren beraten hat, sagt er: „Heinrich VIII. war ja ein toller Bursche ... Er hatte eine ganze Menge Frauen, nicht wahr? Wir müssen versuchen, diesen Kerl auf die Leinwand zu bringen, wie er war. Ein Sexualprotz! Einer, der jede Nacht mit einer anderen Frau ... na, Sie wissen schon!"

Nach einer Weile fügt er hinzu: „Das muß eine gute Rolle für Jannings werden! Die Porten ist das leidende Weib, versteht sich ..., da sehe ich weiter keine Schwierigkeit. Das kann die aus dem ff. Aber die Rolle für Jannings, das muß etwas Einmaliges werden!"

Ein paar Dialoge - im Stummfilm ??

Einer der Autoren, der kleine, rothaarige Berliner Theaterkritiker Norbert Falk, hat eine Idee. Man sollte vielleicht ein wenig Dialog schreiben.

„Ich weiß, wenn die Schauspieler ihn sprechen, ist er nicht zu hören. Aber vielleicht, daß ein paar Fetzen Dialog ihnen ein besseres Gefühl geben werden für die Situation, in der sie sich befinden!"

„Ausgezeichnete Idee!" In Tempelhof wird weitergebaut. Der Tower, die Westminster Abtei, alles ungemein stilecht, alles genau so, wie es damals war. Das ist schon selbstverständlich.

Die UFA soll oder muß wieder klotzen

Schon ist es ein ungeschriebenes Gesetz geworden: in einem UFA-Film muß alles stimmen. „Und Massenszenen brauche ich auch", erklärt Lubitsch. „Ich werde mehr als tausend Komparsen einsetzen..."

Emil Jannings denkt an nichts anderes mehr als an Heinrich VIII., den er spielen soll. Er liest Bücher über diesen König, der ein Prasser, Fresser und Diplomat war, ein Kavalier und ein Schwein.

Er sieht sich immer wieder das berühmte Bild von Holbein an, jenes Gesicht, in dem alles geschrieben steht: Witz und Brutalität, Genußsucht und Verschlagenheit... Jannings hat ein bißchen Angst.

Er ist sich völlig klar darüber, daß das Publikum seinen Heinrich VIII. mit seinem Ludwig XV. vergleichen wird.

Und wenn er sich nicht selbst übertrifft, werden sie sagen: Jannings läßt nach! Jannings spürt - zum ersten Mal - die Verantwortung des Arrivierten.

Wie leicht war es doch, den französischen König zu spielen! Gewiß, er gab sein Bestes, aber er wußte, das Beste war gut genug, war besser als alles, was bisher im Film gezeigt worden war. Jetzt hat er den Vergleich mit sich selbst zu fürchten. Jetzt muß er besser sein als das Beste, das er vor einem Jahr gab. Noch während der Film gedreht wird, raunt man sich in der Friedrichstraße zu: „Anna Boleyn wird der größte Film aller Zeiten!"

Der Reichspräsident Fritz Ebert kommt ins Studio

Schon damals ist man nicht kleinlich, wenn man Filme lobt. Täglich kommen berühmte Gäste ins Atelier: eines Tages erscheint sogar der Reichspräsident Fritz Ebert. Er ist ungemein interessiert an den Vorgängen, und da er es genau wissen will, nähert er sich der Kamera.

Lubitsch ist gerade mit seinen zweitausend Komparsen - jawohl, nun sind es schon zweitausend geworden - beschäftigt. Ihn stört der Reichspräsident, der so weit nach vorn gedrungen ist, daß die Kamera ihn erfaßt. Er weiß dabei gar nicht, um wen es sich handelt.

„Zum Donnerwetter, gehen Sie doch zurück!" brüllt er ihn an, und weil Fritz Ebert nicht sogleich reagiert, springt er auf und reißt ihn ziemlich unsanft aus der Menge der als Söldner verkleideten Komparsen. Dabei verliert Ebert seinen Hut.

Sogleich erfaßt Emil Jannings die Situation und bückt sich, nimmt den Hut auf, geht zu Ebert und sagt zu ihm: „Wenn schon das Volk außer Rand und Band gerät, so haben wir Majestäten um so mehr die Gesetze der Höflichkeit zu beachten!"

Zweitausend Arbeitslose als Komparsen

Die zweitausend Komparsen sind zweitausend Arbeitslose. Dies ist keine gute Zeit. Die Folgen des verlorenen Krieges machen sich bemerkbar. Die Menschen haben Hunger und keine Arbeit.

Infolgedessen sind sie billig. Niemals wieder wird die UFA so billige Komparsen haben. Und Lubitsch braucht immer mehr von ihnen. Zum Krönungszug verlangt er sogar fünftausend Männer und Frauen, die Jannings und Henny Porten zujubeln sollen. Der Krönungszug ist ein großartiges Schauspiel, und die Propagandaleiter der UFA haben einige Mitglieder der Regierung eingeladen, um dieses Schauspiel anzusehen.

Die Regierung kommt, wie so oft, ein wenig zu spät, und es muß gewartet werden. Schließlich hat man die Herren auf einer Tribüne placiert und Lubitsch gibt das Zeichen zum Beginn.

Es kommt zum Aufstand

Aber der Zug setzt sich nicht in Bewegung. Was ist los? Die Arbeitslosen haben die Minister erkannt. Dies scheint ihnen eine geradezu ideale Gelegenheit zu einem Demonstrationszug zu sein.

Anstatt sich zum Krönungszug zu formieren, rücken sie mit eingezogenen Lanzen gegen die Reichsregierung vor. Statt Jannings und Henny Porten zuzujubeln, pfeifen sie die Mitglieder der Regierung aus. Dann Sprechchöre: „Wir wollen Arbeit! Wir wollen Arbeit!"

Die Herren der Regierung haben sich das etwas anders vorgestellt. Sie verlassen die Tribüne in fluchtartiger Eile. Gleich darauf hört man ihre Autos starten. Und schon sind sie weg.

Auch andere sind weg. Lubitsch und seine Assistenten, Jannings und die acht Pagen, die die Schleppe Henny Portens tragen. Henny Porten ist nicht weg, weil sie nicht kann. Das Kleid, das sie anhat, ist aus schwerstem Goldbrokat. Es wiegt mehr als sie selbst.

Sie kann ohne Hilfe der acht Pagen keinen Schritt tun. Da steht sie nun. Wird das „Volk" sich auf sie stürzen? Ihr zittern die Knie. Ringsum böse Gesichter, drohend erhobene Fäuste. Sie schließt die Augen. Nur nicht hinsehen! Da legen sich ein paar Hände auf ihre Schultern: „Nu hab' man keene Bange, Henny. Dir tun wa nischt. Du bist 'ne nette kleene Jöre!"

Einige Söldner heben ihre Schleppe vom Boden auf, und so gelingt es Henny Porten gerade noch, ihre Garderobe zu erreichen.
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Die Hinrichtung soll nicht sentimental werden

Das Schwerste hat Lubitsch bis zuletzt aufgespart. Es handelt sich um die Szene, da sie das Schafott betritt. Lubitsch ist in Hennys Garderobe gekommen und bespricht sich mit ihr:

„Diese Szene muß ganz einfach werden, ganz leise. Nur um Gotteswillen keine Sentimentalität!" „Probieren wir die Szene jetzt gleich?" Lubitsch: „Nein, wir wollen das überhaupt nicht probieren."

Er nimmt ihre Hände in die seinen: „Laß mich wissen, wenn du fertig bist. Dann werden wir einfach drehen. Es wird alles ganz still sein. Ich werde dir gar nichts sagen. Wenn es nicht gut ist, dann können wir ja immer noch probieren."

Eine Viertelstunde später tritt Henny Porten ins Atelier. Die Kameras beginnen zu surren. Sie geht aufs Scharfott zu. Der Weg - zwanzig, dreißig Meter - währt eine lange, lange Zeit. Dann, nach einer Ewigkeit, steht Lubitsch auf, sagt leise: „Das ist richtig!"

Ein größeres Lob aus seinem Munde gibt es ja nicht. Die Porten ist sehr glücklich.
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DAS LEBEN - WIE ES NICHT IST

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Harry Liedtke ist auf dem Höhepunkt seiner Popularität.

Wenn er mit Lubitsch arbeitet, ist er manchmal ein wirklicher Schauspieler. Aber natürlich macht er die meisten Filme ohne Lubitsch - und die sind dann auch danach.

In den meisten dieser Filme kann Liedtke immer nur zeigen, daß er hübsch und charmant ist. Eine Ausnahme: „Der Mann ohne Namen", ein Serienfilm, der nach dem bekannten Roman „Peter Voß, der Millionendieb" gedreht wurde. Er zeigt die Verfolgungsjagd des angeblichen Millionendiebes Peter Voß.

Der ist aber gar keiner, sondern hat die Million nur scheinbar gestohlen. Die Million, die in der Kasse seines Onkels gar nicht vorhanden war, um besagten Onkel vor dem Bankrott zu retten; den bekannten Detektiv Bobby Dodd spielt der elegante Georg Alexander so souverän, daß er den Helden Liedtke eigentlich ein wenig an die Wand drückt.
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Harry Piel und Bruno Kastner

Übrigens gibt es um diese Zeit zumindest zwei andere große Konkurrenten für Harry Liedtke. Der eine ist Harry Piel, der andere Bruno Kastner. Harry Piel ist ein Mann, der sich schon vor dem Kriege einen gewissen Namen gemacht hat. Eines muß man ihm hoch anrechnen: er hat nie ein Hehl aus dem gemacht, was er wollte.

Er wollte und er will die Sensation, den Nervenkitzel. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Er geht bewußt darauf aus, seinen Zuschauern den Atem zu rauben, indem er ihnen zeigt, wie er beinahe von einem Flugzeug abstürzt: er sitzt ja auch nicht etwa drin, sondern steht, ausgerechnet, auf einem Flügel. Er zeigt ihnen, wie er - beinahe - umgelegt wird.

Dazu ist den Schurken jedes Mittel recht, der Revolver, das Messer, der dahinrasende D-Zug, auf dessen Gleisen - was wäre natürlicher - Harry Piel in Fesseln liegt. Er zeigt das brennende Haus, in dem er, an Händen und Füßen gebunden, sich gerade befindet - er befindet sich ja immer gerade dort, wo kein vernünftiger Mensch sich aufhält.

So war es schon, als er noch nicht beim Film war. Zumindest Harry Piel hat es erzählt, und wer sind wir, an seinen Worten zu zweifeln?
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Harry Piel erzählt es so :

Harry Piel hat also erzählt, daß er, zwölfjährig, in der Dachrinne des elterlichen Hauses spazierenging. Als er herunterkam, verprügelte ihn der Vater. Und die Mutter prophezeite: „Du kommst uns noch mal mit dem Kopf unterm Arm nach Hause!"

Ahnte sie, daß ihr Sohn einmal einen Film machen würde: „Der Reiter ohne Kopf"? Und zwar gleich in drei Teilen, einer toller als der andere? Vorläufig ist es noch nicht so weit.

Der junge Harry geht 1911 nach Paris, um dort Flieger zu werden. Er lernt einen kleinen Filmregisseur kennen, der in der Nachbarschaft wohnt, und der ihm von den tollen Dingen erzählt, die in den Ateliers vor sich gehen.

Harry Piel schreibt sofort ein Manuskript. Das wird allerdings von den Direktoren der Pathé und der Gaumont, die den französischen Film beherrschen, ohne Zögern abgelehnt.
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Piel kehrt nach Deutschland zurück

Grund genug für Piel, nach Deutschland zurückzukehren, mit einem Onkel zusammen eine Filmgesellschaft zu gründen, einen Film zu schreiben, zu inszenieren und zu spielen.

Leute, die diesen Film gesehen haben, behaupten noch heute, Piel sei schon damals völlig fertig gewesen. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Die Zuschauer von damals meinen, die späteren Filme hätten sich in nichts von diesem ersten Film unterschieden ...

Im Grunde genommen ist die Formel Harry Piels die denkbar einfachste. Es ist die Formel des Mannes, der hoch oben, dicht unter der Zirkuskuppel, ein Trapez besteigt und allerlei gefährliche Kunststücke ausführt.

Das Publikum wagt nicht mehr zu atmen. Wird der Mann abstürzen? Wird er am Leben bleiben? Dies ist auch die Frage, die sich das Publikum der Harry-Piel-Filme stellt.

Nur daß es im Zirkus doch etwas ehrlicher zugeht. Der Mann, der sich aufs Trapez schwingt, gibt nämlich ganz offen zu: Ich will euch das Gruseln lehren! Dafür werde ich bezahlt! Ich begebe mich absichtlich in Gefahr - das ist ja mein Beruf!

Harry Piel, der viele seiner Filme selbst schreibt oder Autoren beschäftigt, die ihm das abnehmen, gerät immer nur in Gefahr, weil böse Menschen es so wollen, aber letzten Endes kommt es ja doch auf das Gruseln an und nicht darauf, ob die aufregende Situation ganz logisch motiviert wird.
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Bruno Kastner kommt von der Wanderbühne

Der andere Konkurrent von Harry Liedtke ist Bruno Kastner. Er kam, wie die meisten seiner Kollegen, von der Bühne, oder, genaugenommen, von der Schmiere. Er ist jahrelang mit der Wanderbühne über Land gezogen. Er schlug sich schließlich nach Berlin durch, aber er konnte nichts werden als ein Chorist, denn - er stotterte.

Der Krieg war seine große Chance. Er war jung, schlank, hübsch - und doch dienstuntauglich. Es gab wenige seines Jahrgangs, die zur Verfügung standen, und so bekam er Liebhaberrollen, so viele er wollte.

Und trotzdem: er machte keine Karriere. Die Frauen waren zwar entzückt, wenn er auftrat, wenn er lächelte und seine Zähne zeigte. Aber wenn er spielen sollte, versagte er. Er war nun mal kein Schauspieler.

Aber er hat das gewisse Etwas, es ist nicht zu leugnen, und deshalb versucht man es immer wieder mit ihm.
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Ende 1918 lernt er die Nielsen kennen.

Sie ist gerade nach Berlin zurückgekehrt. Sie sieht sich nach Partnern für ihren ersten Nachkriegsfilm um. Es stört sie nicht, daß Kastner kein Schauspieler ist.

Im Gegenteil: um so stärker wird sie ja wirken. Sie dreht mit ihm, dem stotternden Partner, „Tochter der Landstraße" und „Engeleins Hochzeit".

Die seltsamste aller Filmkarrieren hat begonnen. Jeder, der Augen hat zu sehen, weiß, daß Kastner nichts kann. Die Kritiker sagen es auch bei jeder Gelegenheit.

Aber bald steht sein Bild eingerahmt auf den Nachttischen von hunderttausend Frauen und Mädchen. Wenn er in einem Kino persönlich erscheint, um sich zu verbeugen, decken sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes mit Jubel zu.
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  • Anmerkung : Das war so ähnlich wie Heute, wenn eine Frau irgendwo etwas von "Rabatt" 0der "Discount" ließt. Auch dann spielt der Hormonspiegel völlig verrückt.

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Ihre Liebesbriefe werden von verbitterten Postboten in Waschkörben in seine Wohnung transportiert. 1921 wird er durch eine Rundfrage beim Publikum zum besten deutschen Filmschauspieler gekrönt. Selbst Harry Liedtke und der elegante Max Landa liegen weit hinter ihm.
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Jeder Film mit Bruno Kastner ist ein todsicheres Geschäft.

Die ersten Filmschauspielerinnen reißen sich um ihn als Partner. Nichts kann seine Popularität erschüttern. Als er 1924, nach einem schweren Motorradunglück bei Lugano, ein Jahr pausieren muß, wartet sein Pubilkum geduldig.

Es fehlt bei allem nicht an Spott. Namentlich das männliche Publikum will nicht viel von Kastner wissen. Es hagelt Spitznamen.

Man nennt ihn „Kleiderbügel" oder auch „Chlorodontreklame". Ein Spottvers lautet: „Der einzige, der noch die Zähne zeigt, ist Bruno, wenn er sich im Film verneigt!" In den Spalten der Filmzeitschriften kommt es zu erregten Diskussionen pro und contra Bruno Kastner.

Jeder seiner Filme wird unter die Lupe genommen. Wie heißen denn diese Filme? „Wenn die Maske fällt!" und „Die Frau mit dem Etwas!", „Der letzte Sonnensohn" und „Das Paradies im Schnee", „Verspielt" und „Verbotene Liebe", „Das Herz des Casanova", „Artistentreue", „Allerseelen", „Weiße Rosen" und „Brandmal der Vergangenheit".
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Zurück zu Asta Nielsen

Die Nielsen, die Kastner entdeckt hat, versucht ihr Niveau auf jeden Fall zu halten. Mit Lubitsch hat sie „Rausch" gedreht, einen Film nach dem gleichnamigen Drama von August Strindberg, und war empört, weil die UFA Strindberg ein wenig popularisierte.

Ohne Lubitsch hat sie dann einen Hamlet-Film gemacht. Ja, die Nielsen, um diese Zeit nicht mehr ganz jung, aber immer noch schmal, ja, von fast knabenhaftem Wuchs, hat sich entschlossen, den Hamlet zu spielen.

Sie ist übrigens nicht die erste Frau, die das gewagt hat. Schon Sarah Bernhardt hat den Hamlet gespielt. Der Hamlet der Asta Nielsen hat immerhin den Vorzug, daß er stumm bleibt. Er ist überhaupt ein interessanter und zumindest merkwürdiger Film, aber natürlich nichts für das große Publikum.
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Asta Nielsen versucht ein gewisses Niveau zu halten.

Das kann nicht von allen ihren Kolleginnen gesagt werden. Es gibt um diese Zeit sehr viele weibliche Filmstars, von denen die meisten jünger und viel hübscher als die Nielsen sind, aber von denen keine die Begabung der großen Dänin erreicht.

Ellen Richter, Lotte Neumann, Erna Morena,Aud Egede Nissen

Da ist die dunkle mondäne Ellen Richter, die blonde neckische Lotte Neumann, da ist die schöne Erna Morena, die manchmal ein gewisses Format hat, und die bezaubernde Aud Egede Nissen, eine schwedische Tänzerin, zeitweise mit Georg Alexander verheiratet, die blonde Wienerin Liane Haid, ebenfalls Tänzerin.

Da ist die dunkle hochdramatische Rita Clermont, die besser ist als die Filme, in denen sie spielen muß, da ist Hanna Ralph, um diese Zeit noch mit Jannings verheiratet, da ist die orchideenhafte Gertrude Welker, die in vielen Sittenfilmen mitwirkte, und, wenn sie sich zusammennehmen würde, eine der ersten Schauspielerinnen Deutschlands werden könnte, da ist die pikante Dinah Gralla und Esther Carena, rothaarig und mit phantastischen Beinen, die, wo immer sie erscheint, sofort einen Menschenauflauf verursacht, so daß schließlich oft sogar die Polizei eingreifen muß.

Und es gibt lustige Storys von Fern Andra

Und da ist auch noch und immer wieder die unverwüstliche Fern Andra. Um sich im Vordergrund zu halten, veröffentlicht sie eine Broschüre, in der sie behauptet, sie ziehe sich jedes Jahr für einige Monate in ein italienisches Kloster zurück, um sich durch stilles Gebet von ihrem letzten Film zu erholen oder für den nächsten vorzubereiten.

Das ist zwar zeitlich kaum möglich, da sie acht bis zehn Filme im Jahr macht; aber Fern Andra hat sich mit der kleinlichen Frage, ob etwas zeitlich möglich ist oder nicht, nie abgegeben.

Ja, sie läßt sich sogar in Schwesterntracht fotografieren. Ihr Produzent bittet sie, ein bißchen vorsichtig zu sein. „Die Leute fressen nicht alles!" Fern Andra wird ungeduldig: „Ich kenne mein Publikum! Die Leute lieben mich!" Der Produzent zuckt die Achseln. „Kein Mensch glaubt die Geschichte mit dem Kloster."
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Doch irgendwann ist es genug mit den Reklametricks

Der Produzent  kennt das Publikum gut. Die Leute haben schließlich genug von den Reklametricks. Sie haben Fern Andra als Nonne gesehen und in Abendkleidern, die hinten und vorn so tief dekolletiert sind, daß sie kaum mehr Stoff enthalten als ein Taschentuch, sie haben sie im Gebet versunken betrachten dürfen und in einem Trikot, hoch oben auf dem Trapez eines Zirkus.

Vor allem aber haben sie genug von den unmöglichen Drehbüchern, die Fern Andra schreibt oder schreiben läßt. Schließlich läßt sie sich überreden, den Film eines anderen Autors zu drehen. Es handelt sich um Carl Mayer, den Verfasser des „Caligari". Mit seinem Film „Genuine" hofft er auf einen neuen Erfolg.

„Genuine" ist jung, schön und eine Sklavin. Ein seltsamer alter Mann kauft sie und sperrt sie in einen Glaskasten. Sie bringt es fertig, einen jungen Friseur dahin zu bringen, daß er dem alten Mann die Kehle durchschneidet. Nun ist sie frei - und wird ein Vamp, der alle Männer ruiniert. Aber der Film wird ein Mißerfolg, obwohl Fern Andra darin die Hauptrolle spielt.

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