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"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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GERETTET - IM FILM !

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Willy Birgel spielt den Reiter für Deutschland

Nach dem Film über den guten alten Krüger, der für seine Buren lebte und starb, kommt ein Film über einen Mann, der für Deutschland zwar nicht starb, wohl aber ritt. Jawohl, auf einem Pferde ritt.

Die Hauptrolle spielt Willy Birgel, der um diese Zeit schon einer der großen UFA-Stars ist, der in zahlreichen Filmen immer wieder seine Noblesse unter Beweis stellt, seine Fähigkeit, Herren darzustellen, auch wenn sie Bösewichter waren, sein herren-hafter Charme, eine Treppe herunter zu kommen, eine Zigarette anzuzünden, einfach durch ein Zimmer oder einen Park zu gehen, oder - zu reiten.

Er reitet besonders gut - und das gibt der UFA die Idee, einen Propagandafilm zu machen, der sich, nehmt alles und in allem, doch recht erfreulich von den meisten anderen Propagandafilmen unterscheidet.

Das Leben des Carl Friedrich Freiherr von Langen

Es handelt sich um einen Film über das Leben des großen deutschen Turnierreiters Carl Friedrich Freiherr von Langen. Dieser Mann hatte nach dem ersten Weltkrieg sein noch verbleibendes Leben dem Reitsport gewidmet.

Er begriff, daß das Aufkommen des Autos, sowie die Verarmung des deutschen Adels eine außerordentliche Gefahr für den Reitsport bedeutete.

Er begriff ferner, daß eine ungeheure Anstrengung notwendig sein würde, um den deutschen Reitsport zu retten.

Der englische, französische, amerikanische und italienische Reitsport waren nicht annähernd so gefährdet, denn in diesen Ländern überdauerte der alte Reichtum, der die Voraussetzung für die Erhaltung der alten Reittradition ist, den Krieg.

Dieser Entschluß des Freiherrn von Langen war um so bemerkenswerter, als er selbst in keiner guten körperlichen Verfassung aus dem Krieg zurückkehrte. Er war fast gelähmt, er konnte nicht gehen, und er mußte aufs Pferd gehoben werden. Trotzdem schaffte er es. Und nachdem der über die deutschen Reiter verhängte Boykott aufgehoben worden war - nach dem ersten Weltkrieg wurden vorübergehend alle deutschen Sportsleute international boykottiert -, gewann er in Genf beim Turnier den Grand Prix.
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Carl Friedrich Freiherr von Langen war ein ruhiger und bescheidener Mann

...., dem großen Betrieb und dem Klimbim abhold. Aber die Nazis erkannten früh den Propagandawert einer solchen Persönlichkeit und überredeten ihn irgendwie, in die Partei einzutreten.

Er bekam alle möglichen Parteititel, ohne daß er recht ahnte, was ihm eigentlich geschah, geschweige denn, was das alles bedeuten sollte. Übrigens starb er schon früh an den Folgen eines Sturzes - im Jahre 1934.

Das Pferd hieß Hanko

Interessanter fast als das Leben des Freiherrn von Langen war das Leben des Pferdes, mit dem er seine große Nachkriegskarriere macht. Es hieß Hanko nach seinem Besitzer, dem Rittmeister Hanko von Knobelsdorff-Brenkenhoff, der es am 1. September 1914 von den Franzosen erbeutete.

Es trug seinen Herrn während des Krieges durch Polen und Frankreich, kehrte mit ihm schließlich nach Deutschland zurück und wurde verkauft. Endlich - nachdem es durch verschiedene Hände gegangen war - erwarb Freiherr von Langen Hanko, trainierte mit ihm und gewann mit ihm seine großen internationalen Rennen.

Zuerst in Rom, dann in Genf und dann in Budapest. Dreiundzwanzig erste Preise trug Hanko davon. So populär war das Pferd geworden, daß sein Besitzer und Reiter schließlich nur noch Hanko von Langen genannt wurde ...
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Erstaunlich, daß gerade daraus ein Film gemacht werden soll.

Denn muß ein solcher Film nicht notwendigerweise die Verherrlichung einer Kaste sein, die den Nazis nicht ganz geheuer ist? Sie kommen sich ja immer noch und immer wieder als Revolutionäre vor, als eine Partei der Umstürzler, und die „Reaktion" oder das, was sie dafür halten, ist ihnen besonders verhaßt.

Dies gilt vielleicht nicht für Göring und Ribbentrop, um so mehr aber für Goebbels. Das Filmbuch wird ein bißchen sentimentaler, als die Wirklichkeit war. Da die Familie des Rittmeisters von Langen nicht wünscht, daß sein Name genannt wird, heißt der Held „von Brenken". Man sieht ihn auf dem Rückzug aus Rußland.

Er wird so schwer verwundet, daß er jahrelang das Bett hüten muß. Endlich darf er seinen Schimmel „Haro" wieder besteigen, der inzwischen auch einiges erlebt hat.

Ja, dem, wie dem alten Kaiser Franz Joseph, nichts, aber auch gar nichts erspart blieb, bis sein Herr ihn wiederfand.

Nun ändert sich begreiflicherweise alles. Nun leben Herr und Pferd seelisch wieder auf, und zumindest das Pferd auch körperlich. Nun gibt es keinen Tag, was sage ich: keine Stunde mehr, ohne daß die beiden zusammen sind.

Vergessen die Tage des Elends. Es wird fleißig trainiert. Herr und Pferd werden eins.

Und dann wird gesiegt .........

Erfreulich an dem Film, von Arthur Maria Rabenalt sehr dezent inszeniert, daß er im wesentlichen sachlich bleibt, und daß keine idiotische Liebesgeschichte die Grundidee stört.

Am erfreulichsten Willy Birgel, der von einer Einfachheit ist, wie sie nur große Schauspieler besitzen. Es gibt ganze Szenen, bei denen man das Gefühl hat, einer Wochenschau oder einem Dokumentarfilm beizuwohnen, so sachlich spielt Birgel.

Unerfreulich, daß man auch in diesem Film auf antisemitische Propaganda nicht verzichtet hat. Aber vielleicht ist dieser Kompromiß nötig, um Goebbels den Stoff schmackhaft zu machen.

Wie dem auch sei: zwei Schieber erscheinen, natürlich Juden, die es auf das Gut des Herrn von Brenken abgesehen haben, und die es schließlich einstecken - ausgerechnet in dem Augenblick, da dieser das Reitturnier in Genf gewinnt.
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ZUM TODE VERURTEILT - IM FILM

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Was beweist der Film „ ... reitet für Deutschland"

....., wenn er überhaupt etwas beweist? Dies: daß man nie die Hoffnung aufgeben soll, daß einer noch so tief sinken kann - in diesem Fall das Pferd Hanko - und doch nicht verzweifeln soll. Daß einer fast gelähmt sein kann und doch imstande ist, nicht nur weiterzuleben, sondern auch eine sportliche Großtat zu vollbringen, wenn er nur nicht aufgibt.

Ein paar Wochen danach kommt genau das Gegenteil

Aber schon ein paar Wochen nach diesem Film, am 29. August 1941 - der Rußlandfeldzug hat bereits begonnen - kommt ein neuer deutscher Propagandafilm heraus, der genau das Gegenteil besagt.

Ein Gelähmter kann ein internationales Reitturnier gewinnen? Man soll die Hoffnung nie aufgeben? O nein! Man soll die Hoffnung aufgeben. Man soll am besten vom Erdboden verschwinden, man soll sich selbst wegräumen!
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„Ich klage an!", der Gnadentod für kranke Menschen.

Dies besagt „Ich klage an!", ein Film über Euthanasie, den Gnadentod für kranke Menschen. Liebeneiner führt die Regie.

Der Film hat eine Vorgeschichte. Da gibt es eine „Kanzlei des Führers", nicht zu verwechseln mit der Reichskanzlei. Die „Kanzlei des Führers" nimmt sich der Fragen an, die etwas abseits liegen. Zum Beispiel bearbeitet sie die Gnadengesuche - meist abschlägig.

Und im Augenblick beschäftigt sie sich mit der Vorbereitung eines Gesetzes, das unheilbar Erkrankten die Möglichkeit geben soll, bei einem neu zu schaffenden Gerichtshof mit der Bitte nach Tötung vorstellig zu werden.

Der Gerichtshof, bestehend aus Juristen und Ärzten, soll dann entscheiden, ob der Bitte stattgegeben werden kann oder nicht. An sich ließe sich über die Frage debattieren, ob ein Mensch das Recht hat, seine eigene Auslöschung zu verlangen.
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Im Dritten Reich ist es aber völlig indiskutabel

Indiskutabel wird das Ganze auf den Hintergrund des Dritten Reiches projiziert. Denn wenn es jemals, seit dem Ende des Mittelalters einen Menschen gab, jeder Verantwortung bar, dem die Heiligkeit des menschlichen Lebens nichts bedeutet, so ist es Hitler.

Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, so genügt es wohl, darauf hinzuweisen, daß, während die „Kanzlei des Führers" jenes Gesetz vorbereitet, das den Kranken die Möglichkeit gibt, ihren Tod selbst zu verlangen, bereits Tausende, ja Zehntausende von Geisteskranken am laufenden Band in Deutschland getötet werden . .. Ohne Gesetz.

Grund: es ist Krieg. Und Hitler hat - in den Nürnberger Prozessen wird es später festgestellt werden - schon 1935 erklärt, daß, falls ein Krieg komme, ein Euthanasie - Programm durchgeführt werden müsse.

Denn Kranke wollen essen wie Gesunde, ja, Kranke brauchen sogar Pflege und Medikamente, und das bedeutet, daß sie die Arbeitskraft von Gesunden beanspruchen, die für bessere Zwecke eingesetzt werden kann, nämlich zur Tötung von gesunden Menschen.
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Also fort mit den Kranken, die den Endsieg gefährden!

Also hat schon am ersten Tage des Krieges - am 1. September 1939 - Himmler an den Reichsleiter Bouhler geschrieben: „Herr Dr. med. Brandt wird verantwortlich beauftragt, die Befugnisse namentlich zu benennender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankenzustandes der Gnadentod gewährt werden kann."

Ein anderer Arzt, ein gewisser Dr. Mennecke, wird später in einem Nürnberger Prozeß erklären:
„Ich wurde - ich glaube 1940 - zur Entgegennahme eines ,Geheimerlasses' nach Berlin berufen, zusammen mit weiteren zehn Ärzten. Die Aufforderung trug nur eine Hausnummer.

Als ich nach Berlin kam, war es die Hausnummer der Reichskanzlei. Der Führer war nicht da, aber ein Schriftstück von ihm wurde vorgelesen, in dem schon Worte vom ,Gnadentod' vorkamen, der Unrettbaren einen milden Tod garantieren wollte.

Ausgenommen davon seien Juden, da der Gnadentod ein Vorzug nur für deutsche Reichsbürger sein sollte. Alle Anwesenden hörten den Erlaß stehend in strammer Haltung an. Wir wagten auch nicht hinzuschauen, ob der Erlaß wirklich die Unterschrift Hitlers trüge. Dann verließen wir die Reichskanzlei."
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Dr. Mennecke erzählt weiter von der "Vorgehensweise"

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  • „Was nun kam, war rastlose Arbeit. Es wurde ein sogenannter Feldzugplan gegen die sogenannten Unheilbaren entworfen. Auf einer großen Landkarte Deutschlands besteckte man die Vernichtungsanstalten mit kleinen Fähnchen. Ich sah mir in meiner eigenen Heilanstalt und in anderen Heilanstalten die Krankenblätter an. In vorbereitenden Anstalten wurden die gesammelten Kranken kurz gesiebt und die für rassisch wertlos oder unheilbar Gehaltenen in eigens dafür angeschafften Omnibussen in die vorgesehenen Anstalten verbracht. Die Freude der Kranken war meist kindlich groß über diese ,Reisen'. In den Heilanstalten wurden sie entweder vergast oder durch milde Spritzen getötet. Eine dazu nötige Organisation bestand in ganz Deutschland. Jeder, bis zum letzten Pfleger, war unter Androhung der Todesstrafe zu strengem Schweigen verpflichtet. SS-Zugehörigkeit für die abkommandierten Ärzte war Vorbedingung. Oft bekamen durch einen Zufall benachbarte Familien Kranker Briefe mit dem gleichen Wortlaut. Die Flüsterpropaganda war nicht mehr zu stoppen: alles munkelte von der Tötung Geisteskranker."

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In der „Kanzlei des Führers" hat man noch gewisse Bedenken.

In der Zeit vom 4. Dezember 1939 bis August 1941 wurden fünfzig- bis sechzigtausend Geisteskranke getötet. In der „Kanzlei des Führers" hat man noch gewisse Bedenken. Nicht weil es sich um Menschenleben handelt. Die sind ja billig.

Man fürchtet nur die Reaktion der Öffentlichkeit. Was werden die Leute sagen, die Verwandte in Irrenhäusern und Krankenhäusern haben, wenn gesetzlich und offiziell getötet wird, da sie doch schon laut murren, obwohl die Tötungen bisher ungesetzlich und sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgten?
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Man müßte die Idee vom Gnadentod propagieren ...

In seinem Zynismus kommt der treffliche Dr. Brandt auf die Idee, einen Film drehen zu lassen, der allen die Notwendigkeit des Gnadentodes vor Augen führt. Und spricht mit dem Produktionschef der Tobis, Ewald von Demandowsky darüber. Der ruft Wolfgang Liebeneiner an. Hätte Liebeneiner Lust, einen Film über dieses heikle Thema zu machen?

Liebeneiner hat keine Ahnung davon, daß um diese Zeit schon wirkliche und angebliche Geisteskranke und unheilbar Erkrankte am laufenden Band umgebracht werden.

Er unterhält sich mit Dr. Brandt, der einen vorzüglichen Eindruck auf ihn macht. Daraufhin erklärt er, daß er den Film machen will.

Aber kann man denn einen Film machen, der den Gnadentod empfiehlt, wenn man nicht das Elend derer zeigt, die sterben wollen?

Zwei Tage später erhält Liebeneiner von Ewald von Demandowsky einen Filmentwurf. Es handelt sich um die Geschichte eines Gutsbesitzers, der vom Pferd gestürzt ist. Seine Schädelbasis ist gebrochen. Aber die Folgen sind andere wie bei Birgel, der sich aufrappelte. Dieser Gutsbesitzer verblödet.

Der Arzt, der mit dem Gutsbesitzer befreundet ist und dessen Frau liebt, tötet ihn - aber nicht, weil er die Frau liebt -, sondern weil er Mitleid mit dem Freund hat.

Eine eifersüchtige Krankenschwester bezeichnet die Frau als Mörderin; sie habe den Mann getötet, nachdem sie, unter dem Vorwand, einen Hund zu töten, sich Gift besorgt hätte. Und nun wird natürlich die Frau angeklagt und der Arzt, der sie liebt, erscheint vor Gericht und erklärt, er habe den Mann getötet, und es gibt ein Verfahren gegen ihn ... Und ...
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Liebeneiner schleudert den Filmentwurf in den Papierkorb.

Nein, so einfach ist die Sache denn doch nicht! Beratungen mit dem Drehbuchautor Eberhard Frowein. Und dabei kommt die Story von „Ich klage an!" zustande.

Im Mittelpunkt steht eine unheilbar kranke junge Frau. Ihr Mann und ihr Freund sind beides Ärzte. Beide bittet sie, ihr Gift zu geben.

Einer lehnt es ab, einer gibt es ihr. Der Freund lehnt ab, der Mann gibt schließlich das Gift - das heißt, läßt sie einschlafen. Konflikt zwischen den Männern. Es kommt zur Mordanklage vor dem Schwurgericht.

Die Amtsärzte bauen dem Mann eine goldene Brücke. Er brauchte nur zu sagen, daß die Frau versehentlich eine zu starke Dosis des Beruhigungsmittels genommen habe. Aber er macht von dieser Möglichkeit, sich zu retten, keinen Gebrauch.

Er besteht darauf, die Dinge so zu schildern, wie sie waren, damit die Öffentlichkeit sich mit dem ganzen Problem auseinandersetzen kann.
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Es soll kein Propagandafilm für das Hitler-Regime werden

Die Story wird ausgearbeitet. Übrigens mit Hilfe eines Freundes von Liebeneiner, der gerade aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen wurde. Es ist wichtig, dies festzustellen. Es handelt sich eben wirklich nicht um einen Propagandafilm für das Hitler-Regime.

Erst während Liebeneiner am Drehbuch arbeitet, hört er zum ersten Male von der Aktion gegen die Geisteskranken. Und da erscheint Dr. Brandt bei Liebeneiner und wünscht, daß in dem Film „Ich klage an!" dokumentarische Aufnahmen verkrüppelter, verwachsener sowie verblödeter Kinder hineingenommen werden.

Liebeneiner, der im Gegensatz zu Dr. Brandt hofft, daß die Öffentlichkeit sich durch den Film gegen die völlig unkontrollierbare Tötung Geisteskranker empören wird, setzt Brandt auseinander, daß man die beiden Probleme Tötung von Geisteskranken und Tötung auf Verlangen nicht vermischen dürfe.

Er sagt: „Wenn Sie es für wichtig halten, der Öffentlichkeit zu zeigen, daß Geisteskranke getötet werden müssen, bin ich bereit, auch einen Film über dieses Thema zu drehen!"
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Aber er denkt gar nicht daran.

Im Gegensatz zu Harlan weiß er eben, daß man Filme, die man nicht drehen will, nicht drehen muß. Es gelingt ihm auch, diesen Film immer wieder durch halbe Zusagen, Veränderungsvorschläge und andere Manöver so lange hinauszuziehen, bis das Dritte Reich, schon seit seiner Geburt unheilbar erkrankt, endlich eingeht.
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MS - das Ende ist gewiß, und es ist ein furchtbares Ende.

Das Problem Liebeneiners: An welcher Krankheit soll die Heldin des Films leiden? Es soll eine furchtbare Krankheit sein, aber sie darf nicht unästhetisch wirken.

Liebeneiner entscheidet sich für Multiple Sklerose. MS - so nennt man diese Erkrankung des Zentralnervensystems (Hirn- und Rückenmark) - ist eine Entzündung der grauen Substanz des Hirns und Rückenmarks; die Markscheiden werden zerstört, an Stelle eines funktionsfähigen Systems tritt die verhärtete (sklerotisierte = hart) Substanz des Stützgewebes, und der Ausfall der Zentrale macht sich dann, je nach dem Ort der Störung, in vielfältigen Erscheinungen quälend bemerkbar: Lähmungen in den Beinen, Armen, Gesichtsmuskeln; bald werden die Augen nicht mehr regelrecht gesteuert (Doppelsehen), die Sprache wird ataktisch - abgehackt.

Zwar werden immer wieder Stillstände, ja Besserungen beobachtet, aber keine endgültigen Heilungen. Das Ende ist gewiß, und es ist ein furchtbares Ende.

Heidemarie Hatheyer soll die Rolle der unheilbar Kranken übernehmen.

Aber sie will nicht. Liebeneiner sagt zu ihr: „Es ist wichtig, daß dieser Film gemacht wird. Vorerst wird nur geflüstert von den furchtbaren Verbrechen, die in den Irrenhäusern geschehen. Nach unserem Film wird die Diskussion öffentlich sein!"

Die Hatheyer erklärt sich schließlich bereit. Die Männerrollen werden von Paul Hartmann und Mathias Wieman übernommen.
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Der Film mit dem heiklen Thema wird ein großes Kunstwerk

Dank Liebeneiners Regie wird der Film mit dem heiklen Thema ein großes Kunstwerk. Die drei Hauptdarsteller sind wahrhaft unübertrefflich in ihrem Spiel.

Heidemarie Hatheyer erschüttert als die Frau, die, eben noch lebenslustig und lebenshungrig, fast unmerklich von der tückischen Krankheit beschlichen wird.

Unbeschreiblich, wie ihr langsam dämmert, daß sie krank, daß sie dazu verurteilt ist, ein Krüppel zu bleiben.

Einmalig, wie sie sich gegen ihr Schicksal aufbäumt und dann doch begreift, daß alles vergeblich ist. Wie ihr das Leben zuviel wird, wie der Tod seinen Schrecken verliert, wie sie sich dazu durchringt, diesen Tod zu wollen, ihn herbeizusehnen, ihn schließlich zu verlangen!

Die Zuschauer sind von dem furchtbaren Schicksal, das da vor ihren Augen abrollt, aufs tiefste erschüttert. Die beiden Männer neben der Hatheyer nicht minder ergreifend in ihrem Schmerz, ihrer Verhaltenheit, ihrer Entschlossenheit.
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Für Dr. Brandt aber bricht eine Welt zusammen.

Die vielen tausend Spione, die im Dritten Reich verteilt sind, die Hausmeister und die Blockwarte, die Spitzel in der NS-Frauenschaft und in der Einheitsgewerkschaft melden immer wieder: die Menschen wollen nicht, daß der Gnadentod gesetzlich wird.

Sie wünschen nicht, daß die Verantwortungslosen das Recht bekommen, noch mehr Menschen umzubringen. Die „Kanzlei des Führers" bedauert. Dr. Brandt ist von einem Tag zum andern isoliert.

Er begreift, daß man ihm in die Schuhe schieben wird, was in den Irrenhäusern und Krankenhäusern geschehen ist und noch geschieht. Er legt seine Ämter nieder. Er meldet sich an die Front nach Rußland.

Trotzdem wird er ein paar Jahre später in Nürnberg zum Tode verurteilt werden. Ein Todesurteil für einen, der unzählige andere zum Tode verurteilt hat, und der dann selbst daran zweifelte, ob er recht getan hatte, ist noch immer ein Gnadentod.
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