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Viertes Kapitel - FEHRENBACH
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FEHRENBACH (im Thüringer Wald)
Zweihundert Kinder drängten sich auf den Stufen des Fehrenbacher Dorfkramladens um uns und legten Zeugnis ab. Mit ihren Augen, mit ihren Händen, mit ihren schrillen Stimmen sagten sie aus.
Was sie bezeugten, waren keine weitschweifigen Abstraktionen über die Wirtschaftslage Deutschlands, sie bekundeten lediglich, daß sie hungrig waren. Bei den letzten Wahlen hat Fehrenbach 80% kommunistische Stimmen abgegeben.
Der schwerste Winter seit hundert Jahren
Wer in diesem „schwersten Winter seit hundert Jahren" das Reich bereist, um eine Antwort auf die Frage „Wie schlimm steht es um Deutschland?" zu suchen, wird unaufhörlich mit Ratschlägen überschüttet. „Das hier", erklärt der eine, „ist die schlimmste Stelle in Deutschland." „Da", behauptet ein anderer, „ist es noch ärger." „Dort", widerspricht ein dritter, „ist es am allerschlimmsten."
Steht Falkenstein im „sächsischen Sibirien" an 1. Stelle ?
Wir waren der Meinung gewesen, Falkenstein im „sächsischen Sibirien" mit seinen 5o% Erwerbslosen und seinen Elendsquartieren voller Familien, die, zu sechst in einem Raum, von einer Unterstützung leben, die ihnen 25 Pfennig im Tag und auf den Kopf für die Ernährung übrig läßt, könne Anspruch darauf erheben, in der Elendsliste an erster Stelle zu stehen.
Aber hier, inmitten des Thüringer Waldes, in der traditionell gewordenen Heimat der berühmtesten Glasbläser Europas, liegt eine Gruppe von Ortschaften, deren Einwohner in einem Elend leben, mit dem verglichen die Armut der Bürger Falkensteins fast wie Wohlhabenheit anmutet.
Gibt es einen Unterschied zwischen Hungern und Verhungern ?
Falkenstein hat 5o% Arbeitslose, in diesen Dörfern beträgt die Erwerbslosigkeit mehr als 90%. In Falkenstein leben achtköpfige Familien von einer Unterstützung, die 4 Mark im Tag beträgt, in diesen Ortschaften gibt es Familien, die zu acht von einer nicht mehr als 1 Mark 5o betragenden Unterstützung leben. Falkenstein in Sachsen hat noch gesteigerten Hunger vor sich. Was diese Dörfer in Thüringen zu erwarten haben, ist ein Hungern, das sich verzweifelt wenig vom Verhungern unterscheidet.
Die Wirkung über das Ausmaß des krassen Hungers
Damit soll nicht gesagt sein, daß es wahrscheinlich ist, diese Bevölkerung werde geradezu Hungers sterben. So etwas geschieht wohl in China, kommt aber im modernen Abendland verhältnismäßig selten vor.
Das ändert jedoch nichts daran, daß das Ausmaß des krassen Hungers in diesen, von der Goethestadt Weimar in einer kurzen Automobilfahrt zu erreichenden Thüringer Flecken auf den Bürger der abendländischen Welt weitaus erschütternder wirkt als das Massenelend im fernen, märchenhaften Osten.
Wir fuhren an einem Winternachmittag durch den Thüringer Wald. Die rauchlosen Essen der verlassenen Glashütten warfen da und dort Schatten auf die schneebedeckten Straßen, und die gähnenden Fensterhöhlen der stillgelegten Fabriken starrten uns kalt an.
Auf der ganzen 120 km langen Strecke von Jena waren wir an weniger als einem halben Dutzend Automobilen vorübergekommen, obwohl Dörfer und Städte dicht beieinander liegen. Wir waren keineswegs die einzigen Reisenden, aber die anderen gingen zu Fuß.
Die Glashütten von Altenfeld
In Altenfeld sahen wir eine Glashütte in Betrieb und gingen hinein. Aus dem tiefen Dunkel, das im Inneren herrschte, hoben sich wirbelnde weiße und gelbe Kugeln ab. Feuerlöcher leuchteten hinter den Beinen von Männern auf. Über ihren Köpfen drehten sich schillernde Figuren. Einige von diesen senkten sich, fielen in Formgefäße. Die Männer bliesen, sie pusteten die Backen auf und hoben den Brustkasten.
Die Holzformen dampften und sandten weiße Strahlen empor, welche die Köpfe der jungen Leute mit den geschwärzten Gesichtern in Wolken hüllten. Die Formen öffneten sich. Das gelbe Glas kühlte sich ab, es wurde kirschrot, und die Jungen mit den schwarzen Gesichtern nahmen ein weiteres Dutzend Kognakflaschen auf ihre Schaufeln.
Wiederum hatten zwölf Männer je einen Pfennig verdient. Sie gönnten sich nicht die Zeit, ihr Werk zu betrachten» Rasch, mit Gesichtern, welche die Hitze, aber wohl auch die Sorge gerunzelt hatte, schoben sie ihre Röhren in die Öffnungen des Ofens, und wieder drehten sich ihre geschmolzenen Glaskugeln. Die Schatten tanzten, der Dampf stieg hoch auf, die Männer mit den geschwärzten Gesichtern liefen zurück und wieder vorwärts.
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Es war die letzte Frist.
Für den nächsten Tag stand die Stillegung des großen Glasofens bevor, und dann waren 220 von den 280 im Werk Beschäftigten auf die Straße gesetzt.
An ihrem letzten Arbeitstag mußten die Leute nicht zur Eile angefeuert werden. Ihre Hast war von einem verzweifelten Ernst diktiert. Jede Flasche bedeutete einen Pfennig, und wenn angestrengt genug geblasen und rasch genug gedreht wurde, wenn jeder einzelne von ihnen im Laufe von sechs Tagen 2.800 Flaschen geliefert hatte, konnte er 28 Mark mit nach Hause nehmen, um die Schreckensnachricht „Ich bin abgebaut" ein wenig zu mildern.
Um diese Summe zu verdienen, muß der Glasbläser in acht Stunden 466 Flaschen herstellen, 60 in der Stunde, eine in der Minute. Alle 60 Sekunden muß er eine Röhre in den Ofen einführen, ein Quantum geschmolzenen Glases mit ihrem Ende aufnehmen, es herausziehen, es quirlen, es schwingen, es zu einer Kugel blasen, es in eine Form führen, quirlen und blasen, bis es die Gestalt einer Flasche annimmt.
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Der Bürgermeister von Masserberg erzählt
Der Schnee lag hoch im Fabrikhof; die Türen standen offen, aber die Gesichter der Glasbläser waren in Schweiß gebadet.
Ich erkundigte mich danach, was sie in ihrer freien Zeit täten.
Der Bürgermeister von Masserberg, ein früherer Glasbläser, erzählte: „Viele von den Leuten, die in Altenfeld arbeiten, wohnen in Dörfern, die 9 bis 10 Kilometer entfernt sind. Die Männer stehen um 3.45 Uhr auf und machen diesen weiten Weg zu ihrer Arbeit, die um 6 Uhr morgens beginnt. Sie arbeiten bis 4 Uhr nachmittags, in jeder Minute stellen sie eine Flasche fertig, dann gehen sie wieder die 9 bis 10 Kilometer nach Hause. Gegen 8 Uhr abends legen sie sich zu Bett. Zu 8 Stunden Schlaf kommen nur wenige. Am Sonntag schlafen sie den ganzen Tag."
Das vergrämte Gesicht des Hüttenbesitzers sah aus wie ......
Das war jetzt für diese Männer vorbei. Aber die fieberhafte Hast, mit der sie arbeiteten, bewies deutlich genug, daß sie selbst dieses Dasein dem Beziehen der Arbeitslosenrente vorzogen.
Das Gesicht des Hüttenbesitzers sah nicht weniger vergrämt aus als die Gesichter seiner Arbeiter. Er erzählte mir: „Am 1. Dezember 1931 haben die Engländer ihren 5o%-tigen Schutzzoll auf Glaswaren zu erheben begonnen. Unser Handel ging zum größten Teil ins Ausland. Als der englische Zoll erhöht wurde, war es mit unseren Verkäufen fast völlig zu Ende.
Wir besitzen überall in diesem Bezirk Öfen. Vor zwei Wochen legten wir den in Heubach, Belegschaft 220 Mann, still. Vor einiger Zeit mußten wir den in Masserbrück, 25o Mann, und den in Königsee, 15o Mann, stillegen. Noch in dieser Woche schließen wir den in Neustadt, 100 Mann, heute den in Altenfeld, 220 Mann, und morgen wird die Belegschaft in Groß-Breitenbach von 3oo auf 15o Mann reduziert.
Der Sturz des Pfundes hat unseren Handel beträchtlich geschwächt. Der Zoll war der letzte Schlag. Das einzige von unseren Werken, das mit nahezu voller Belegschaft arbeitet, ist das in Groß-Kayna; dort haben wir acht amerikanische voll-automatisierte Maschinen, die mit 3oo Mann so viel leisten, wie 1000 Mann bei Handarbeit zuwege bringen würden."
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Eine Maschine und 59 arbeitslose Handwerker
In Altenfeld lebten 60 Familien bis vor kurzen davon, daß sie mit der Hand pharmazeutische Ampullen herstellten. Einer Familie gelang es, eine neue Maschine zu erwerben, die eine Zwölfstundenleistung von 3o.ooo Ampullen hat - 3 Handarbeiter können in acht Stunden nur 3.ooo Stück herstellen. Die 59 anderen Familien müssen Unterstützung beziehen.
Das waren überaus illustrative Beispiele für die beiden Faktoren, die die Phänomene der Wirtschaftskrise in Deutschland gezeitigt haben: Schutzzölle im Ausland, und der Ersatz der Heimarbeit mit der Hand durch die Maschine.
Von unserem Leben haben wir nichts.
Der Hüttenbesitzer wurde erregt.
„Freilich", erklärte er, „die Leute arbeiten wie die Pferde. Aber ich arbeite noch angestrengter als die Leute. Ich stehe um 5 Uhr früh auf und arbeite bis 9 Uhr abends, und mein Vater macht es sich noch schwerer. Gestern war er bis 3 Uhr nachts im Groß-Breitenbacher Werk.
Von unserem Leben haben wir nichts. 5o% unserer Leute sind Kommunisten. Wir selbst haben keine Zeit zu politischen Gedanken.
Die meisten Fabrikbesitzer sind Nationalsozialisten. Sie meinen, Hitler könne etwas an diesen Dingen ändern. Na, schlimmer kann es jedenfalls nicht werden. Die Engländer",
sprach er voll Bitterkeit weiter, „haben einen Schutzzoll eingeführt. Wir müssen unsere Werke schließen. Im nächsten Jahr werden wir keine Steuern zahlen können. Wenn das Reich keine Steuern bekommt, kann es keine Reparationen zahlen. Wenn Frankreich keine Reparationen bekommt, kann es keine Zahlungen an England leisten. Wenn England keine Zahlungen bekommt, kann es die Zahlungen nach Amerika nicht vornehmen. Und wenn wir Reparationen zahlen müssen, können wir nicht einmal unsere Privatschulden im Ausland bezahlen. Nennen Sie so etwas ein Wirtschaftssystem?"
Der Ruin, davon war er überzeugt, stand ihm unmittelbar bevor.
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Wir fuhren in das Waldstädtchen Fehrenbach
Was erwartete die Belegschaft nach ihrem letzten Arbeitstag? Wir fuhren nach Fehrenbach. Das Waldstädtchen Fehrenbach gleicht einer Puppenstadt. Seine sauber getünchten Häuser heben sich in scharfem Kontrast von dem dunklen Grün der kiefernbestandenen Hügel ab. Auf den Dächern glitzerte der Schnee in der reinen Luft. Diese Gegend ist eine der gesündesten in ganz Deutschland.
Mitten durch die Dorfstraße ging der Ausrufer. Eine kleine Kindergruppe sammelte sich um ihn. Fenster öffneten sich. Köpfe wurden herausgesteckt. Mit lauter Stimme verkündete er, daß die Erwerbslosen Fehrenbachs zwei Wochen lang das Pfund Fleisch statt um 90 Pfennig um 3o Pfennig kaufen könnten. Die Differenz werde die Regierung bezahlen.
Die Verlautbarung wurde mit Kopfnicken, aber ohne Beifall aufgenommen. Ein alter Mann brummte: „Und wo sollen wir die 3o Pfennig hernehmen?"
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Der Empfang beim Bürgermeister von Fehrenbach
Der Bürgermeister von Fehrenbach empfing uns in seinem kleinen Häuschen, dem Städtischen Rathaus, in einem Raum, der die Größe eines besseren Badezimmers hatte. Die Arbeitslosen Fehrenbachs, so erklärte er, das bedeute die gesamte Bevölkerung. Sie alle wären in den jetzt stillgelegten Glas-und Holzwerken beschäftigt gewesen.
Fehrenbach zähle 1.3oo Einwohner, 285 Familien. Von diesen Familien seien 276, also 97%, erwerbslos. Am besten gehe es noch den 170 Familien, die noch immer die reguläre Unterstützung von 13,5o Mark wöchentlich bezögen.
Wenn die staatliche Unterstützung ausläuft, wird es schlimm
Am schlimmsten seien die 106 Familien daran, die kein Recht mehr auf die staatliche Unterstützung haben und auf die örtliche Wohlfahrt angewiesen seien. Diese betrage in Fehrenbach für eine im Durchschnitt vier Köpfe zählende Familie 6,5o Mark wöchentlich, also etwa 23 Pfennig im Tag für sämtliche Lebenskosten des einzelnen.
Was das bedeutet, ist daran zu ermessen, daß die Unterstützung nur an Personen ausgezahlt wird, die nicht die geringste andere Einkommensmöglichkeit haben. Der Besitz einer Kuh genügt zum Entzug der Unterstützung. In ganz Fehrenbach gibt es zwei Kühe.
20 von 1.300 haben noch Arbeit
Von der Gesamtbevölkerung, 1.3oo Menschen, haben nach der Aussage des Bürgermeisters noch 20 Arbeit. Dieser Umstand macht die Situation Fehrenbachs und der übrigen 5 bis 6 Ortschaften in diesem Bezirk, die zusammen eine Einwohnerschaft von rund 6.000 haben, ganz einzigartig.
In allen anderen Orten, in denen ein gut Teil der Bevölkerung noch beschäftigt ist, sind die Nachbaren vielleicht imstande, in der verzweifeltsten Not zu helfen.
Hier, da kein einziger, wie der Bürgermeister sagte, genug zu essen hat, hat niemand so viel, daß er auch im schlimmsten Falle helfen könnte.
Die Frage nach andere Hilfsquellen
Ich wollte hören, was für andere Hilfsquellen der Ortschaft zur Verfügung ständen. Der Bürgermeister dachte ruhig nach und berichtete dann, daß die Provinzialverwaltung für die Winterhilfe 250 Mark beigetragen, und daß die Quäker 400 Mark und 700 Pfund Mehl gespendet hätten. Das Dorf hatte also für den Winter von außerhalb insgesamt 65o Mark und das Mehl erhalten.
Das Geld, setzte der Bürgermeister auseinander, wird zum Ankauf von Milch für die Kinder und von Mehl für ihre Versorgung mit Weißbrot verwendet. 268 Kinder gibt es im Ort. Die durch fremde Hilfe erhältlichen Vorräte machen es möglich, daß alle Kinder jeden zweiten Tag einen Becher heiße Milch und ein Brötchen bekommen. Die Kinder, so versicherte er mir, sehen diesem Becher Milch und diesem Brötchen mit ebensolcher Spannung entgegen wie glücklichere Kinder dem Weihnachtsfest.
Beim Anblick der Schokolade brach die Hölle los.
Drei Kinder gingen uns auf die Straße nach. Wir fragten sie, ob sie eine Tafel Schokolade haben möchten. Das war eine verhängnisvolle Frage; auf dem 100 Meter langen Weg zum Kramladen hatten sich uns schon weitere zwölf Kinder angeschlossen.
Als wir den Laden wieder verließen, war die Nachricht bereits durch das ganze Dorf gegangen, und vor den Stufen standen stumm sämtliche Kinder Fehrenbachs.
Mehr als 200, von ganz kleinen, die sich kaum auf ihren Beinchen halten konnten, bis zu 13- und 14- jährigen Burschen, warteten. Hinter dem Kinderhaufen hielten sich Mütter auf, die Säuglinge im Arm hatten.
Beim Anblick der Schokolade brach die Hölle los. Kinder laufen überall in der Welt zusammen, wenn sie etwas Süßes bekommen können. Aber hier in Fehrenbach war das etwas anderes.
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Diese Kinder hatten Hunger, nichts als Hunger
Was diese Kinder so gierig die Hände ausstrecken ließ, war der Hunger, und als sie sahen, daß der Vorrat an Schokolade seinem Ende zuging, stand wahres Entsetzen auf ihren Gesichtern.
Der Bürgermeister nahm die Verteilung vor. Die Kinder stürzten sich darauf. Die erste Portion ging zu Ende, und es kam die zweite. Die Mütter reckten ihre Hände empor und verlangten einen Anteil für die verhungert aussehenden Kinder, die sie auf dem Arm trugen.
Als die letzte Tafel verteilt, der Vorrat ganz erschöpft war, fingen die Kinder, die nichts von der Schokolade bekommen hatten, zu jammern an. Weinen erfüllte die Straße, und das Elend Fehrenbachs war noch schlimmer als vorher.
Ich wollte mehr wissen über das Leben dort
Wir suchten unter Führung des Bürgermeisters eine Reihe von Familien auf. In der ersten Wohnung saßen der Mann, seine Frau und die vier Kinder in der Küche, die, wie alle deutschen Küchen, und wenn die Familie noch so arm ist, sauber und nett aussah.
Diese Familie hier bezog 9,5o Mark in der Woche, und zwei von den Kindern bekamen an jedem zweiten Tag je einen Becher Milch und ein Brötchen aus der Quäkerspende.
Die Hausfrau erzählte mir widerstrebend von ihrem Speisezettel: zum Frühstück Kaffee aus gebranntem Weizen und trockenes Brot; mittags Pellkartoffeln mit Speck - ein Pfund Speck muß für sechs Mahlzeiten reichen; abends Pellkartoffeln ohne Speck.
Das wird an den sechs Wochentagen gegessen, und Sonntags gibt es ein Pfund vom billigsten Fleisch für die sechs Familienmitglieder. Der Mann hatte früher als Packer in einer Glasfabrik ein zufriedenstellendes Auskommen gehabt.
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„Ja, wir sind hungrig"
In der nächsten Wohnung lebte ein Glasarbeiter, der mit seiner Frau und drei Kindern 9 Mark wöchentlich bezog. Der Speisezettel war hier der gleiche. In allen Häusern der Ortschaft hörten wir dieselbe Geschichte, und das Bemerkenswerteste an der Haltung der Bevölkerung war die völlige Sachlichkeit, mit der die Fragen beantwortet wurden.
„Ja, wir sind hungrig" - das kam in demselben Ton, in dem man etwa sagt: „Ja, heute ist Montag." Ein einziges Mal machte ein alter Glasarbeiter eine Schluckbewegung, als er uns erzählte, daß seine fünfköpfige Familie Sonntags sich gewöhnlich ein halbes Pfund Fleisch leisten könne, und daß das außerordentlich gut schmecke.
Kein einziger bat, und sei es auch nur mit einer Geste, um Almosen, und es war nahezu notwendig, sorgfältig den Zweck des Besuches zu erklären, bevor die Leute sich bereit fanden, über ihre Lage zu sprechen. „Sie sind stolz", erklärte der Bürgermeister, „und sie alle geben nur ungern zu, wie arm sie sind."
Die Ortschaften Masserberg, Schnett, Heubach und Wildenspring
Ebenso wie in Fehrenbach, das berichteten mir unabhängig voneinander 10 bis 12 Personen, ist die Lage in den Ortschaften Masserberg, Schnett, Heubach und Wildenspring, die zusammen 6.000 Einwohner haben, und zwar fast ohne Gradunterschiede.
Die ganze Gegend war niemals besonders wohlhabend, aber eine solche Krise wie die in diesem Winter gab es noch niemals. Im Jahre 1924 zum Beispiel beschäftigte die große Glasfirma, die ich in Altenfeld besichtigte, in allen ihren Einzelwerken 4.000 Arbeiter. Heute sind es 1.200.
In der ganzen Zeit von 1924 bis 1928 war 60 die Maximalziffer der Arbeitslosen in Fehrenbach, das heute nahezu 300 Erwerbslose hat. Selbst im letzten Jahr waren in Fehrenbach noch 70 Mann beschäftigt. Heute sind es nur 20.
Ob es richtig ist oder nicht, daß dieser Winter für ganz Deutschland der schlimmste seit 100 Jahren ist - für diesen Bezirk ist er jedenfalls der schlimmste, auf den sich die ältesten Einwohner besinnen können.
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Der Bürgermeister: Anfang 1932 kommt die Katastrophe
In dem Dorf Masserberg, das ganz nahe bei Fehrenbach liegt, suchte mich der Bürgermeister im Hotel auf, um gegen die Auffassung zu protestieren, daß es Fehrenbach von allen Dörfern der Gegend am schlechtesten gehe.
Um Mitternacht ging er noch in sein Büro, um seine Bücher zu holen und mir nachzuweisen, daß in dieser 1100 Einwohner zählenden Gemeinde von den 239 Familienvätern 210 erwerbslos, und von diesen wiederum 102 auf die örtliche Wohlfahrt angewiesen seien, die 7 Mark wöchentlich zahle.
Schon in den ersten Monaten des Jahres 1932, versicherte er nachdrücklich, werden sämtliche 210 Haushaltungen das Recht auf den Bezug der staatlichen Unterstützung verloren haben und auf das Hungergeld von 7 Mark angewiesen sein.
Es gibt drei Kategorien von Unterstützungen
Bei der Betrachtung der allgemeinen Wirtschaftslage Deutschlands und vor allem der Situation seiner Erwerbslosen muß man im Auge behalten, daß es drei Kategorien von Unterstützungen gibt.
- Die erste Kategorie ist die Arbeitslosenversicherung. Wer seine Versicherungsrente beziehen will, muß ein Jahr lang ununterbrochen gearbeitet und seine Prämien bezahlt haben. Die Versicherungsrente steht dem Arbeiter zu, auch wenn er seine Bedürftigkeit nicht nachweisen kann. Die Beträge richten sich nach dem Lohn, den der Mann erhalten hat, und nach der Größe seiner Familie. Das Arbeitsamt in Berlin-Neukölln erklärt, daß der Durchschnitt der ausgezahlten Beträge seit den Reduzierungen auf Grund der letzten Regierungsverordnungen 55,64 Mark im Monat beträgt. Diese Summe kann der Arbeitslose je nach der Länge der vorhergehenden Beschäftigungsdauer durch 16 bis 20 Wochen beziehen.
- Nach Ablauf dieser Periode kommt der Arbeitslose in die sogenannte Krisenfürsorge. Diese ist eine offenkundige Unterstützung; der Erwerbslose muß seine Bedürftigkeit nachweisen, wenn er sie beziehen will. Auch sie variiert, aber nach den Angaben des Neuköllner Arbeitsamtes beträgt der Reichsdurchschnitt 46,14 Mark im Monat. In dieser Kategorie kann der Arbeiter 38 bis 52 Wochen bleiben.
- Sobald auch diese Zeit um ist, wird der Erwerbslose an die sogenannte Wohlfahrt verwiesen, die sich aus Beiträgen des Reichs, der Staaten und Gemeinden und des Wohnorts des Arbeiters zusammensetzt. Hier kann er solange bleiben, wie das Geld (Anmerkung : aus diesen Quellen) reicht.
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Die Unterstützung von 29,68 Reichs-Mark im Monat
Nach den Angaben des Neuköllner Arbeitsamtes beträgt der Reichsdurchschnitt dieser Unterstützung 29,68 Mark im Monat. Diese Summe bedeutet wirklichen Hunger für die Empfänger.
Einer der wesentlichsten Züge des deutschen Systems der Arbeitslosenhilfe, ein Zug, der nicht außer Augen gelassen werden darf, ist, daß um so mehr Arbeitslose an die Wohlfahrt verwiesen werden, je länger die Krise fortdauert.
Die Höhe der Wohlfahrtsunterstützung hängt von der Höhe der Gemeindeeinkünfte ab, und je länger die Krise währt, desto weniger Geld hat die Gemeinde, desto geringer wird die Unterstützung. Die Gemeinden des Thüringer Waldes hätten, den Satzungen gemäß, ein Drittel der Wohlfahrt tragen müssen. Ihre Kassen sind jedoch leer, sie tragen nichts zur Unterstützung bei.
Das augenblickliche Ausmaß der Armut ist ohne jede Parallele
Es mag wohl sein, daß in den Gemeinden des Thüringer Waldes die Zustände ebenso wie in Falkenstein örtlich bedingt, untypisch und besonders kraß sind. Es ist auch richtig, daß die Glasindustrie auf jeden Fall unter den hohen Frachtkosten leiden würde, und daß sie sich, abgesehen von der Billigkeit der Arbeit, niemals besonderer wirtschaftlicher Vorteile erfreute.
Es ist jedoch durch die Aussagen sämtlicher Zeugen völlig einwandfrei festgestellt, daß das augenblickliche Ausmaß der Armut ohne jede Parallele ist; und die Tatsache, daß es inmitten des am höchsten industrialisierten Landes in Europa eine Reihe von Gemeinden gibt, von deren Gesamtbevölkerung, die 6.000 zählt, mindestens 5.5oo nicht nur arbeitslos, sondern auch sichtlich dem Verhungern nahe sind, ist rein zahlenmäßig von nicht unbeträchtlichem Wert für ein Urteil über die Lage des ganzen Landes.
Was die meisten ausländischen Beobachter über Deutschland dachten
Bis jetzt waren die meisten ausländischen Beobachter der Ansicht, daß Deutschland über seine Verhältnisse lebe. Die aus Deutschland kommenden Klagen wurden im allgemeinen damit erklärt, daß die Deutschen sich nicht zu einer Reduzierung ihres einst zugegebenermaßen hohen Lebensstandards bereit finden wollen.
Ob dieses Urteil noch immer für das ganze Reich richtig ist, bleibt noch zu erkunden; daß aber der Lebensstandard im Thüringer Wald nicht weiter heruntergedrückt werden kann, ohne daß es zu wirklichem Verhungern kommt, steht zweifelsfrei fest.
Die Bürgermeister von Fehrenbach und Masserberg erklärten auf das nachdrücklichste, daß die Situation ihrer Gemeinden unvergleichlich schlimmer sei als zur Zeit der Inflation, schlimmer sogar noch als während des Krieges.
Auf unserer Fahrt durch den Thüringer Wald kamen wir an einem Kriegsgefallenendenkmal vorüber. Auf dem Rücken eines Soldaten mit Stahlhelm türmte sich der Schnee, die meisten Namen auf der bronzenen Ehrentafel waren unter der weißen Decke verborgen.
In unmittelbarer Nähe stand ein anderes Denkmal, aber der Schnee auf dem Dach der verlassenen Glasfabrik deckte keine Ehrentafel zu.
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