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aus der FUNK-TECHNIK Nr. 18/1949 (September)

LONDONER BRIEF

Von Fr, Willy Frerk-London

Knapp einen Monat vor der Eröffnung der Radiolympia, auf der das Fernsehen alles andere überschatten wird, klagt die eng­lische Radio-Industrie über die „Britische Television-Krise".

Nachdem nach langen Verhandlungen die englische Regierung schließlich den Bau neuer Fernsehsender gestattet hat, so daß wenigstens ein Teil der englischen Fernsehempfänger im Lande selbst abgesetzt werden kann, ist die Industrie aufs neue alarmiert durch Vorgänge, die sich in Italien, Kanada und Australien abgespielt haben oder noch abspielen. Die hiesige Radio-Industrie ist sich bekanntlich selbst noch nicht einig über die künftigen Standardnormen für Fern­sehen.

Während die BBC und ein Teil der Industrie für das 405-Linien-System ein­treten, ist ein anderer Teil aus geschäftlichen Gründen für die amerikanische Norm von 525 Linien. Die Befürworter der amerika­nischen Norm erklären mit einer gewissen Berechtigung, daß sie ihre Empfänger dann leichter im Auslande absetzen können, wäh­rend die BBC-Leute feststellen, daß sie ihr System auf Grund ihrer Erfahrungen für das beste halten. Die Amerikaner stehen auf dem bewährten Geschäftsstandpunkt: „Der Kunde hat immer recht", die BBC aber sagt: „Wir haben recht."

Nun kommt aus Kanada die Kunde, daß dort ein großer Fernsehsender ohne Kosten für die kanadische Regierung von den Amerikanern gebaut werden wird. Das könnte natürlich einen neuen, riesigen Ab­satzmarkt für die englische Fernseh-Industrie darstellen. Da aber der kanadische Sender mit 525 Linien senden wird, geht der Verdienst wahrscheinlich fast ausschließ­lich nach den USA.

Noch aufregender für die Engländer ist aber der Bericht aus dem näher gelegenen Italien. Die Amerikaner haben den Italienern einen Fernsehsender geliehen, dessen Bezahlung ihnen aus Marshallplangeldern gestattet worden ist. Und der Sender ist nicht etwa in Rom erbaut worden, sondern im nörd­licheren Turin. Möglicherweise werden seine Sendungen in der Schweiz, in Südfrankreich und in Süddeutschland aufgenommen wer­den können. Natürlich sendet er ebenfalls mit 525 Linien, d. h. das italienische, viel­leicht auch schweizerische und süddeutsche Fernsehgeschäft geht an die Amerikaner. Man befürchtet, daß die Amerikaner außer­dem anderen europäischen Ländern aus den Marshallplangeldern Fernsehsender bewilli­gen werden, damit auch diese amerikanische Empfänger kaufen.

Inzwischen hat die australische Regierung ein Fernsehnetz für Australien bewilligt, der Entscheidung aber hinzugefügt, „daß das zu wählende System einen höheren Empfangsstandard aufweisen müsse als die jetzt in anderen Ländern benutzten Systeme", und das bedeutet - 625 Linien. Das würde die australische Radio-Industrie befähigen, für ganz Australien Fernsehempfänger zu bauen und daran gut zu verdienen, da „importierte Geräte für unseren Fernsehfunk unbrauchbar sein würden". Das heißt erneut: Ausschaltung der englischen Industrie. Diese läßt daher jetzt bereits erklären, daß die englische Radio-Industrie in der Lage sei, Empfänger auch für 625 Linien oder jedes andere System zu liefern, ehe die australische Industrie imstande wäre, ihre Produktion zu entwickeln und zu organi­sieren.

Die BBC macht nun verzweifelte Anstren­gungen, in Europa Fuß zu fassen. In Kürze wird ein Programmaustausch nach dem 405-Linien-System zwischen England und Frank­reich stattfinden, das über den Eiffelturm geleitet werden soll. Aber selbst wenn die neuen Sender und Zwischensender alle fertig sind, wird England nicht qualitäts-, aber
quantitätsmäßig hinter den USA herhinken.

Die USA haben zur Zeit 40 Fernsehsender laufen, und bis Ende 1949 werden es 250 sein. In verschiedenen Gebieten der USA stehen den Kunden bereits mehrere Pro­gramme zur Verfügung, und die amerika­nischen Ingenieure hoffen, das Fernsehen auf weite Entfernungen dadurch ermöglichen zu können, daß sie den Mond als Reflektor benutzen.

Das klingt recht vage und weit hergeholt, aber das Fernsehen steckt noch immer in den Kinderschuhen und hat große Entwicklungsmöglichkeiten. Führende eng­lische und amerikanische Radiofachleute er­klären, es werde in gewisser Zeit das Radio ebenso verdrängen, wie der Tonfilm den Stummfilm verdrängt habe.

Tatsache ist jedenfalls, daß von neun Fa­milien in New York eine heute bereits einen Fernsehempfänger besitzt, während vor einem Jahr ein Empfänger noch auf 50 Familien kam. Interessant ist dabei, daß die Familien mit kleinerem und mittlerem Einkommen die Hauptkäufer stellen, während die hochbe­zahlten Familien erheblich weniger Geräte gekauft haben.

Die meisten Geräte in der Preislage um 384 Dollar mit 25cm Bildfläche werden auf Teilzahlung gekauft und bildeten in der ersten Hälfte 1949 fast 50% aller verkauften Empfänger. Während Amerika in den ersten fünf Monaten des Jahres 1949 67 Millionen Radio- und Fern­sehröhren verkaufte, ist der Absatz seit Mai etwas gesunken.

Aber im Gegensatz zu den Engländern, deren Grundeigenschaft es ist, sich ewig selbst zu unterschätzen, sind die Amerikaner äußerst optimistisch. Die Zeitschrift „Fortune" schreibt:

„In wenigen, vielleicht in fünf Jahren, wird die Fernseh-Industrie eine der ersten zehn Industrien der USA sein, sie ist heute bereits das ,Große amerikanische Abenteuer' des zwanzigsten Jahrhunderts. Jede Voraus­sage über das Anwachsen des Fernsehens, und wenn sie noch so optimistisch war, ist durch die Tatsachen überboten worden. Die kalten Statistiken sind weit über die heißen Wunschträume hinausgegangen."



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