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"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.

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HANS ALBERS STIRBT ZWEIMAL

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1950 - Premieren in Essen und in Köln

Am 11. Oktober findet in Essen die Premiere des Films „Föhn", am 24. in Köln die Premiere des Films „Vom Teufel gejagt" statt.

Die beiden Filme haben verschiedenes gemeinsam. In beiden spielt Hans Albers die Hauptrolle. Beide behandeln das Schicksal eines Arztes. Beide Geschichten sind traurig, enden mit dem Tod von Hans Albers - und mit einem Defizit für die Produzenten.

Dies ist erstaunlich. Denn bisher hat Hans Albers noch immer gezogen, gleichgültig ob seine Filme gut oder schlecht waren, ob das Drehbuch etwas taugte, seine Partnerinnen etwas konnten oder nur gut aussahen.

Woran liegt es, daß es diesmal nicht so ist?

Vielleicht daran, daß das Publikum gewohnt ist, in Hans Albers eine Art Retter in der Not zu sehen. Daß er, der immer im letzten Augenblick alles wieder in Ordnung bringt - auf der Leinwand natürlich - automatisch bei den Zuschauern den Glauben erweckt, daß auch in ihrem in Unordnung geratenen Leben noch alles in Ordnung kommen wird.

Und die beiden Filme, die jetzt so schnell hintereinander herauskommen, vermögen eine solche Wirkung, eine Erlösung von Problemen und Ängsten des Alltags wirklich nicht zu erzielen. Sie verstärken eher die Depression des Publikums.

Wie wenig das mit Hans Albers selbst zu tun hat, beweist die Berliner Erstaufführung von „Föhn" in der Filmbühne Wien am Kurfürstendamm. Es geht dort zu wie eh und je bei Albers-Premieren. Tausende warten auf ihn, Scheinwerfer beleuchten das Portal des Kinos, Tonwagen der Rundfunkstationen sind aufgefahren, und als Albers schließlich nach der letzten Vorstellung die wenigen Meter zu seinem benachbarten Hotel zurücklegt, toben die Backfische jeden Alters und Geschlechts so sehr, daß er sich in der Drehtür noch einmal umwendet und dem Pressechef der Produktionsfirma zuruft: „Sagen Sie den Leuten, daß ich mich nachher noch auf dem Balkon zeige!"
Sie würden das Hotel stürmen, täte er es nicht.

Der Mißerfolg beider Filme liegt an den Rollen ....

Nein, mit Albers persönlich hat der Mißerfolg seiner beiden Filme nicht das geringste zu tun. Um so mehr mit den Rollen, die er spielen muß.

„Föhn" ist vor vielen Jahren schon einmal gedreht worden, als Stummfilm mit Leni Riefenstahl und Gustav Dießl. Damals hieß er „Die weiße Hölle von Piz Palü".

In der Albers-Version geht alles weniger wintersportlich zu als damals. Albers ist eben nicht mehr der Draufgänger, sondern ein alternder Mann, dessen Frau vor zwanzig Jahren bei einer Bergtour ums Leben kam - obwohl er sie warnte, den Aufstieg zu unternehmen.

Just am Jahrestag des Unglücks trifft der Arzt in der Hütte ein junges Paar, das im Begriff ist, das gleiche Wagnis zu unternehmen und wohl auch seinen Wagemut und Trotz mit dem Leben bezahlen müßte. Der Arzt rettet es und kommt dabei selbst um. Für ihn fast noch ein Happy End, denn sein Dasein hatte seinen Sinn verloren, er selbst hatte längst resigniert.

Aber eben kein Happy End für die Anhänger und Fans von Albers.
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„Vom Teufel gejagt" mit einer wesentlich komplizierteren Handlung

„Vom Teufel gejagt" darf sich einer wesentlich komplizierteren Handlung rühmen und einer reichlich albernen.

Diesmal geht es um einen Nervenarzt, der ein neues Schockmittel erfunden hat, um Geisteskranke zu heilen. Er macht einen Selbstversuch mit der Schocktherapie, vergißt aber, da er so entsetzlich beschäftigt ist, die notwendige Nachbehandlung, die in vielen Spritzen über Wochen und Monate besteht. Sonst - das hat er uns selbst verkündet - treten alle möglichen Störungen ein.

Sie treten bei ihm ein. Der berühmte Arzt, der Geld zur Aufrechterhaltung seiner Klinik braucht, wird zum Dieb, ja, schließlich sogar zum Mörder. Die Polizei ist bereits hinter ihm her. Es ist nur eine Frage von Minuten, bis er verhaftet wird - da bringt er sich selbst um. Auch wieder sehr unerfreulich, fast noch unerfreulicher als der Tod durch Erfrieren in der Gletscherspalte.
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Das (zahlende) Publikum will Albers so nicht sehen ...

Daran, daß das Publikum Albers so nicht sehen will, kann auch die Tatsache nichts ändern, daß er schauspielerisch durchaus auf der Höhe ist, ja, sich als verkommener Nervenarzt von einer bisher unbekannten Seite zeigt.

Daran ändert auch nichts, daß er in diesem Film Willy Birgel zum Partner hat, der nach sieben Jahren endlich wieder zum Zuge kommt.

In diesen Jahren hat Birgel viel Theater gespielt - unter anderem „Teufels General" - aber die Filmindustrie wollte nichts von ihm wissen. Seine Rolle im Albers-Film ist eigentlich keine. Er muß einen Kollegen des Nervenarztes mimen, der mit Fassung miterlebt, wie Albers zugrunde geht.

Birgel macht das mit Noblesse und Zurückhaltung. Mehr ist da wirklich nicht möglich. So wird die Filmindustrie auch nach diesem Film erklären, Birgel sei eigentlich „fertig", und es wird wieder eine Weile dauern, bis man ihn holt.
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Der nächste Birgel-Film „Wenn die Abendglocken läuten"

Der nächste Birgel-Film „Wenn die Abendglocken läuten" ist freilich einer, in dem er wenigstens etwas zeigen kann - insbesondere, wie sich der feine Herr zu Pferde benimmt. Er reitet diesmal allerdings nicht „für Deutschland" - eher schon für den GLORIA-Verleih, der die runde Summe von zwei Millionen an Birgels übrigens tödlich ausgehendem Ritt verdienen wird.

Im Film „Föhn" sieht man als jungen Mann, der sich absolut als Bergsteiger produzieren will, einen gewissen Adrian Hoven, dessen hübsches und doch markantes Gesicht sogleich auffällt. Und als junge Dame in der Rolle, die einst Leni Riefenstahl verkörperte, eine blutjunge Schauspielerin, die zwar noch nie vor der Kamera gestanden hat, aber eigentlich wissen müßte, daß man bei drohendem Unwetter nicht auf dem Piz Palü herumkraxelt.

Denn schließlich ist sie in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Es handelt sich um das Mitglied des berühmten Zürcher Schauspielhauses - Liselotte Pulver.
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LILO = Liselotte Pulver

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Kein junges Mädchen, aus dem ein Filmstar werden könnte.

Liselotte Pulver sieht durchaus nicht so aus, wie man sich ein junges Mädchen vorstellt, aus dem ein Filmstar werden könnte. Ja, selbst die Schauspielerin würde man ihr auf den ersten Blick nicht glauben. Sie sieht eher aus wie ein junges sportlich trainiertes Mädchen, etwa das Mädchen, das sie in ihrem ersten Film spielt.

Sie ist größer, als sie wirkt. Sie hat breite Schultern, sie ist durchaus nicht schmächtig, durchaus nicht betont weiblich - und das betont Weibliche hat ja immer die Komponente des Hilflosen.

Sie ist schlank, ja, geradezu schlaksig, man könnte sie, insbesondere wenn sie Sportkleidung trägt, fast für einen Jungen halten. Nein, sie ist beileibe nicht schön im herkömmlichen Sinne.

Sie hat ein allerdings sehr lebendiges Gesicht, das Gesicht eines jungen Mädchens, mit dem man Pferde stehlen kann. Der Mund ist entschlossen, aber er kann auch lächeln, und wenn er lächelt, wirkt er frech oder doch zumindest spitzbübisch.

Frech wirkt auch die Stupsnase, die durchaus nicht den herkömmlichen Schönheitsidealen entspricht. Im Gegensatz dazu die sehr weit auseinanderstehenden großen dunkelbraunen Augen, die ein wenig verträumt in die Welt sehen.

Diese Augen können sich blitzschnell verwandeln

Oder kommt einem das nur so vor? Denn auch diese Augen können sich blitzschnell verwandeln, und dann sind sie lustig - wie die ganze Liselotte Pulver, von ihren Freunden Lilo genannt.

Es ist schwer, sie zu charakterisieren, besonders in der Zeit, da sie ihren ersten Film dreht. Denn das Mädchen Lilo ist noch recht unentwickelt, man weiß nicht genau, worauf es mit ihm hinauslaufen wird.

Nur eins steht von Anfang an fest, zumindest sagen das die Filmhasen, die ja bekanntlich alles wissen: „Sex appeal hat sie nicht!"

Es sieht auch gar nicht so aus, als ob Lilo jemals in die Nähe einer Kamera kommen sollte. Sie wächst in Bern auf als Tochter eines betont bürgerlichen und sehr gewissenhaften Vaters - er ist von Beruf Ingenieur, beim Kanton Bern angestellt.

Herr Pulver also findet, seine Tochter müsse sich späterhin irgendwie ernähren können und verlangt, daß sie die Handelsschule besucht. Die Mutter ist anderer Ansicht. Sie ist Sängerin, läßt sich auch gelegentlich im Rundfunk hören und glaubt an die große künstlerische Begabung ihrer Tochter.

Der Vater lächelt. Mütter glauben ja immer alles mögliche von ihren Kindern! Die junge Liselotte interessiert sich weder für die Kunst, noch gar für die Handelsschule. Sie liest Karl May. Sie liest sogar, wenn sie eigentlich Schularbeiten machen sollte.

Im Ringen um Liselottes Zukunft bleibt die Mutter erste Siegerin.

Sie setzt sich mit dem Wiener Regisseur Paul Kahlbek in Verbindung. Das ist ein Mann, der viele Jahre mit Max Reinhardt gearbeitet hat und 1933 aus Berlin emigrierte.

Er hat sich in Bern niedergelassen und erklärt sich bereit, das junge Mädchen einmal auf ihre Eignung zum Theater zu prüfen. Das ist immerhin eine gewaltige Chance. Sonst wimmelt nämlich Bern nicht gerade von Leuten, die allzu viel vom Theater verstehen.

Liselotte lernt die Rolle der „Medea" von Grillparzer auswendig und trägt einige besonders markante Stellen daraus vor. Das tut sie ebenfalls besonders markant, das heißt, sie fuchtelt wild mit Armen und Händen, sie rollt dumpf jedes R - und bei Grillparzer kommt der Buchstabe R besonders häufig vor. Herr Pulver, der mitgekommen ist, findet das alles entsetzlich übertrieben.
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Der Regisseur Paul Kahlbek ist von LILO überzeugt

Aber Kahlbek ist überzeugt von der Begabung des jungen Mädchens. Er erklärt sich bereit, ihm Schauspielstunden zu geben. Es folgt ein Engagement am Berner Stadttheater.

Nächste Station: Zürich. Liselotte Pulver spielt dort unter anderem das junge Mädchen in Thornton Wilders Drama „Die kleine Stadt". Da ist sie ganz in ihrem Element. Hier feiert ihre Direktheit, ihre Unbekümmertheit, ihre überwältigende Ehrlichkeit wahre Triumphe.

In Zürich sind sie überzeugt davon: „Sie wird es noch weit am Theater bringen!" Aber die Tage Liselotte Pulvers am Theater sind schon gezählt.

Der Produzent F. A. Mainz sucht noch die Hauptdarstellerin

Es erscheint in Zürich der Produzent F. A. Mainz, der den Film „Föhn" mit Hans Albers machen will. Er sucht die "weibliche Hauptdarstellerin".
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  • Anmerkung : Hier muß es spät in der Nacht gewesen sein, wenn Curt Riess etwas von einer "weiblichen Hauptdarstellerin" schreibt. Oder gab es damals bereits männliche "Hauptdarstellerinnen" ?

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Er sucht keine neue Leni Riefenstahl. Er will die Rolle, die jene vor nunmehr bald zwanzig Jahren spielte, nicht mit dem gleichen Typ besetzen.

Er will einen jungen gesunden Menschen, ein Mädel, dem man die Bergsteigerin glaubt, die Liebe zur Natur, nicht weil sie - wie die Riefenstahl - die Natur als Hintergrund für ihre Tänze und Seelenkämpfe braucht oder zu brauchen glaubt, sondern einfach, weil sie gern frische Luft atmet, sich in der Höhe freier fühlt als im Tal.
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Natürlich sucht F. A. Mainz - ..... in der Schweiz.

Wo könnte man ein solches Mädel eher finden als in dem Land, in dem diese hohen Berge stehen, die F. A. Mainz zur Kulisse für seinen Film braucht - in der Schweiz?

Der kleine, so überaus energische Produzent geht schnurstracks ins Schauspielhaus, um sich mit einigen Schauspielern zu beraten, wer denn da in Frage komme.

Auf diese Weise hört er von der Existenz Liselotte Pulvers. Es kommt eine Verabredung zum Abendessen im „Goldenen Widder" zustande, einem teuren Lokal in Zürich, dessen Spezialität gebratene Hühner sind. Dies wird Liselotte Pulvers erstes Zusammentreffen mit dem Film. Sie ist ein bißchen aufgeregt, zumal sie nicht gerade nur Vorteilhaftes über Filmproduzenten zu hören bekommen hat.

In Bern und Umgegend hält man Filmproduzenten für Wüstlinge, die junge Mädchen unter dem leicht durchschaubaren Vorwand, ihnen eine Rolle zu verschaffen, verführen, um sie dann hohnlachend im tiefsten Elend, wenn möglich mit einem unehelichen Kind, sitzen zu lassen.
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Und dann gab es erstmal französischen Sekt ...

Nun, Lilesotte Pulver gedenkt, alles zu tun um zu verhindern, daß dieser Filmproduzent etwa auf den Gedanken komme, sie sei ein unwissendes junges Mädchen. Sie eilt ins Theater und schminkt sich, so daß sie wie eine smarte junge Dame aussieht - oder sagen wir lieber: sie richtet sich so her, wie der kleine Moritz sich eine smarte junge Dame vorstellt. Sie sieht auch jetzt nicht ganz so aus.

Aber Herr Mainz sieht auch nicht ganz so aus, wie ein kleines Mädchen sich einen Filmproduzenten vorstellt, der im Hauptberuf ein Verführer ist. So dauert es eine gewisse Zeit, bis die beiden, die einander nicht kennen, sich identifizieren; es erfolgt die Vorstellung und die Unterhaltung beginnt.

Zu den gebratenen Hühnern wird Sekt aufgetragen, weil F. A. Mainz sehr gern französischen Sekt trinkt. Im „Goldenen Widder" bekommt man sehr guten französischen Sekt.

Und da die junge Liselotte Pulver nicht jeden Tag französischen Sekt bekommt, gerät sie bald in eine geradezu ausgezeichnete Stimmung. Und sie wird auch nicht ernüchtert, als F. A. Mainz eine sehr seltsame Frage an sie stellt.

Es handelt sich nicht um besagtes "Ansinnen", wie es Filmproduzenten öfter stellen, wenn man den Berner Bürgern und Bürgerinnen Glauben schenken darf.
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Und dann kam die eigentlich unverfängliche Fachfrage ....

Mainz möchte nur wissen, ob diese junge Schauspielerin denn auch eine gute Schauspielerin sei. Oder, um es in den Worten der Filmbranche zu sagen: „Können Sie Gefühle produzieren?"

Ob Lilo Gefühle produzieren kann? Welche Frage! Sie ist doch eine Schauspielerin! Und mit dem größten Teil einer Flasche Sekt im Magen oder auch im Blut ist sie es mehr denn je.

Deshalb nimmt sie es auch dem Produzenten nicht übel, daß er mitten im „Goldenen Widder" von ihr eine Probe ihres Schauspielertums verlangt. Was soll sie ihm denn vorspielen?

Den Monolog des Klärchen aus „Egmont" - eine Rolle, die sie im Schauspielhaus als Partnerin von Will Quadflieg spielte? Nein, so was paßt nicht in den „Goldenen Widder". Die Verse der Julia auch nicht. Man muß schon improvisieren.

Und tief aus ihrem Unterbewußtsein taucht auf, was sie über die bösen Filmproduzenten gehört hat. Vielleicht weiß sie es selbst in diesem Augenblick nicht einmal. Aber jeder Psychoanalytiker könnte ihr erklären, warum sie jetzt folgendes tut:
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Lilo "spielt" auf .. im Lokal .... eine richtig naturgetreue "Szene"

Sie springt auf. Sie springt so heftig auf, daß ihr Stuhl krachend umfällt und eine Dame mit Brille, die am Nebentisch bereits ihr zweites Huhn verzehrt, sich indigniert umdreht. Bald drehen sich alle Gäste an allen Nebentischen nach Lilo um.

Bald hören alle im Lokal zu kauen auf und bleiben mit offenen Mündern sitzen, um nur ja nichts von dem zu versäumen, was dieses junge Mädchen - kaum einer kennt sie oder weiß, um wen es sich handelt - da von sich gibt. Und sie bekommen eine ganze Menge zu hören.

Sie würden sich nicht wundern, wenn dieses Mädchen plötzlich einen Revolver aus ihrer Handtasche ziehen und den kleinen Mann, der mit ihr am Tisch sitzt, erschießen würde, vielleicht sich selbst dazu.
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Ein Skandal liegt in der Luft - aber nur in der Luft ...

Was also sagt Liselotte Pulver? Sagt? O nein! Sie schreit es heraus. Sie schluchzt, die Tränen stürzen ihr übers Gesicht. „Du schlechter Kerl!" ruft sie Mainz zu. „Du Verführer! Du Scheusal! Du, Du, Du!"

Mainz schluckt schnell den letzten Bissen Huhn hinunter. Aber er zeigt weder Angst noch sonstige Gefühle, es sei denn ein gewisses Behagen über das gebratene Huhn.

„Hast Du denn ein Herz von Stein?" Mainz wischt sich die Lippen ab. „Ach, es kommt ja nicht auf mich an! Eine Frau mehr oder weniger, die Du verführt hast ... Nein, ich werde aus Deinem Leben verschwinden!"

Die Männer im Lokal machen böse Gesichter. So ein Verführer! Na, das ist ja allerhand!
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Die "Szene" geht so weit, daß das ganze Lokal weint ....

„Aber denkst Du nicht an das kleine Wurm? An das kleine Kind? Was soll denn aus meinem Kind werden? Aus unserm Kind?"
Die Damen im Lokal fühlen, daß auch ihnen die Tränen kommen.

Gewiß, es hat da etwas stattgefunden, was nicht hätte sein dürfen. In der Schweiz schon gar nicht. Dieses junge Mädchen hätte von dem Mann verlangen müssen, daß er sie heiratet, be-
vor sie ...

Nun ja, aber wahrscheinlich ist der Mann schon verheiratet. Jedenfalls sieht er sehr verheiratet aus. Wie dem auch sei - für solche Überlegungen ist es jetzt zu spät. Aber daß dieser Mann, der Sekt hat auffahren lassen und dem es doch offenbar ausgezeichnet geht, überhaupt nichts für sein Kind tun will, ist einfach empörend!
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Die Männer im Lokal machen drohende Miene.

Offenbar ein Ausländer, dieser Verführer, der in die Schweiz gekommen ist, um ein Mädchen zugrunde zu richten, und jetzt überhaupt nichts bezahlen will! Der Geschäftsführer macht ein paar Schritte auf den Tisch von Mainz zu.

Die Kellnerinnen haben aufgehört zu bedienen. Das Fräulein am Büffet ist außer sich darüber, daß sie, so weit entfernt, nur die Hälfte versteht.

Alles blickt zu Mainz hin. Und der läßt sich wie folgt vernehmen: „Beruhige Dich, mein Kind! Beruhige Dich, meine Liebe! Ich werde alles tun ..." „Was wirst Du tun?" will die Pulver wissen.

Und der Chor der Gäste fällt jetzt ein: „Das sagen sie immer - vorher! Nachher . . . !" Ein Gast am Nebentisch gibt der Pulver den Rat: „Lassen Sie sich jetzt nicht mit Redensarten abspeisen!" Die Pulver wiederholt: „Was willst Du tun?"

„Probeaufnahmen in München machen!" sagt der hartherzige Verführer kalt und trinkt sein Sektglas aus. Dann fällt sein Blick auf die Anwesenden. Er verbessert sich schnell: „Ich meine, ich werde selbstverständlich Alimente für das Kind zahlen ... Ich werde alles für das arme Wurm tun!"

Ein allgemeines kollektives Aufatmen im Lokal. Na, dann ist ja alles gut, dann kann man ja sein Hühnchen weiter essen. Für Lilo war das die Szene ihres Lebens.
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Freilich, noch ist eine Klippe zu umschiffen

Zwei Tage später fährt die Pulver nach München und macht Probeaufnahmen. Mainz ist hochbefriedigt. „Sie kommt großartig; wenn mich nicht alles täuscht ..." - und er ist ein Produzent, der sich selten irrt - „dann steht dieses junge Mädchen am Beginn einer großen Karriere!"

Freilich, noch ist eine Klippe zu umschiffen. Die heißt Hans Albers. Albers spielt nicht mit jeder beliebigen Partnerin. Und er ist anfangs gar nicht angetan, als er hört, daß seine Partnerin ein junges Mädchen sein soll, von dem man noch nie gehört hat, und das mit gutem Grund, weil sie eben noch nie gefilmt hat.

Er wünscht Liselotte Pulver kennenzulernen. Er ist von ihr beeindruckt, er ist noch mehr beeindruckt von den Probeaufnahmen, die er sich mehrmals vorführen läßt.

Liselotte bekommt ihren Vertrag. Dann sagt ihr der Regisseur Rolf Hansen: „Wir fahren schon in den nächsten Tagen zu Außenaufnahmen ... ins Ausland!"

Liselotte ist einigermaßen gespannt, wohin die Reise gehen soll. Sie fragt Mainz. „In die Schweiz natürlich!" So beginnt Liselotte Pulvers Filmkarriere im Ausland - das heißt in dem Lande, in dem sie geboren und aufgewachsen ist.

DR. HOLL UND DIE HATHEYER

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Große Erfolge im Filmgeschäft kommen oft von Zufällen

Die großen Erfolge im Filmgeschäft kommen auf die merkwürdigste Art und Weise zustande. Alles, was späterhin, wenn der Film erst einmal aufgeführt worden ist, wie weise Planung wirkt, ist oft nichts als das Ergebnis von Zufällen, Kämpfen hinter den Kulissen und Ereignissen, die niemand im voraus ahnen konnte.

Dies gilt im besonderen Maße von dem Film „Dr. Holl". Ursprünglich war an eine ganz andere Besetzung gedacht als diejenige, die dann zustande kam. Ursprünglich sollten andere Schauspieler mitwirken als diejenigen, die den Triumph brachten. Ursprünglich ... ja, dieser Film hat eine Geschichte, die mindestens ebenso spannend und abwechslungsreich ist wie die Filmstory selbst.
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Die unermüdliche Thea von Harbou, ex-Frau von Fritz Lang ...

Die unermüdliche Thea von Harbou, die ja auch an der letzten Fassung des Drehbuchs „Es kommt ein Tag" mitarbeitete, hat „Dr. Holl" geschrieben. Es handelt sich um eine etwas altmodische, aber wohl bewußt altmodische Geschichte.

Sie hätte auch in den zwanziger Jahren verfilmt werden können - und die Erinnerung an jene Zeit ist eine der nicht zufälligen Wirkungen des Films. Sie war erwünscht, ja geplant.
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Die Story .... eine lange Story ....

Da ist also ein reicher Industrieller. Er hat eine Tochter, Angelika, die ist ebenso schwerkrank wie er schwerreich ist. Die Ärzte haben sie längst aufgegeben. Sie sich übrigens auch.

Nur ihr Vater kämpft noch und findet eine Verbündete in der Krankenschwester Helga, die Medizinstudentin ist. Helga hat einen Verlobten, den jungen Dr. Holl. Der arbeitet seit langer Zeit an der Herstellung eines Mittels, mit dem er jene furchtbare Krankheit besiegen könnte. Freilich, die Experimente dauern noch, und Gott allein weiß, ob je etwas dabei herauskommt ...

Helga, fest auf das Genie ihres Verlobten vertrauend, überredet diesen, mit ihr zusammen in das Schloß des schwerreichen Mannes zu ziehen, der sich bereiterklärt hat, ihm ein Laboratorium einzurichten, um die Fertigstellung jenes Wundermittels zu beschleunigen.

Das wird dann auch fertig - gerade noch zur rechten Zeit, um Angelika den Krallen des Todes zu entreißen. Ein paar Tage später - und das Mittel könnte Angelika nicht mehr retten.

Auch den Film nicht. Aber Dr. Holl hat es noch
geschafft, die Heldin sowie den Film zu retten. Er hat noch etwas geschafft, was er gar nicht beabsichtigte. Die durchaus nicht eingeplante Nebenwirkung des Mittels und die Anwesenheit Dr. Holls: Angelika verliebt sich in ihn. Sie weiß ja nicht, daß er der anderen gehört.

Ihr Vater, der, wie übrigens auch alle anderen, davon überzeugt ist, daß die Tage seiner Tochter gezählt sind, möchte, daß sie noch einige glückliche verlebt.

Er überredet Dr. Holl, sie zu heiraten - ein Risiko geht der gute Doktor dabei nicht ein; er wird ja doch bald Witwer sein. Auch Helga ist dafür; umso mehr als die Hochzeit bei der Zeremonie ihr Bewenden haben wird, denn Angelika ist ja, ach, so schwach . ..

Das ändert sich aber mit bestürzender Schnelligkeit. Angelika wird von Filmmeter zu Filmmeter gesünder und sieht gar nicht ein, warum ihr Mann nicht wirklich ihr Mann werden sollte.

Sie läßt die Möbel ein wenig umstellen, so daß aus den getrennten Schlafzimmern ein gemeinsames Schlafgemach wird, wie man es in den besten Familien vorfindet. Am folgenden Morgen fühlt sie sich noch gesünder.

Dies kann man nicht von Schwester Helga behaupten. Wie die sprichwörtlichen Schuppen fällt es ihr von den Augen! Und nun legt sie los. Sie war bereit, einer Todgeweihten ihren Verlobten zu leihen, nicht einer, die boshafterweise im Eiltempo gesundet.

Jetzt fühlt sie sich hintergangen - vom Schicksal, von Angelika, von Dr. Holl, von dem schwerreichen Mann ... Dabei kann doch zumindest Angelika gar nichts dafür, weder dafür, daß sie gesund geworden ist, noch dafür, daß Dr.Holl ...

Eigentlich trifft nur ihn die Schuld. Dr. Holl zieht die Konsequenzen und will verschwinden. Helga will ebenfalls verschwinden. Aber da zeigt sich wieder einmal, wozu Geld taugt, wenn davon nur genug da ist.

Helga, die ihren Holl gar nicht zurücknehmen würde - denn stolz ist sie, das muß der Neid ihr lassen - bekommt als Pflaster von dem Vater Angelikas ein Krankenhaus geschenkt, damit ihr Leben einen Sinn bekomme ...

Sie muß zwar auf Dr. Holl verzichten, aber dafür wird sie auf andere Weise ausgefüllt sein. Angelika und Dr. Holl aber heiraten nun, und zwar kirchlich, und wenn sie nicht gestorben sind ...

Und warum sollten sie denn gestorben sein ... ?
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Ursprünglich sogar eine Doppelhochzeit ......

Ursprünglich hatte Thea von Harbou sogar eine Doppelhochzeit vorgesehen. Der schwerreiche Industrielle heiratete nämlich in der ersten Fassung des Buches Helga, die auf diese Weise nicht nur ein komplett eingerichtetes Krankenhaus, sondern auch einen Mann bekommen hätte.

Dieser großzügige Plan scheiterte aber an Helga oder, um genau zu sein, an der Schauspielerin Heidemarie Hatheyer, die sie spielte und erklärte, ein Krankenhaus sei schon genug des Guten ...

Die Rolle des Dr. Holl ist wie geschaffen für Dieter Borsche. Bei ihm wirkt Passivität als Selbstlosigkeit, Unfähigkeit zu handeln als Edelmut. Alles Negative des Manuskripts wird bei ihm zu etwas Liebenswertem umgefälscht oder hinaufgespielt.

Nicht ohne Hilfe des Regisseurs Rolf Hansen, der Dieter Borsche unendlich lockert, ihm alles Verkrampfte nimmt, ihn noch die gefährlichsten Szenen mit solcher Selbstverständlichkeit spielen läßt, daß die Zuschauer das Gefühl haben, es handle sich um etwas Selbstverständliches ...
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Die Angelika soll Liselotte Pulver spielen.

Seit jener Affäre in dem Zürcher Restaurant hat der Produzent F. A. Mainz sie unter Vertrag. Im „Föhn" enttäuschte sie ihn nicht, und jetzt will er sie ganz groß herausstellen.

Sie unterschreibt begeistert den neuen Kontrakt - und fährt in die Schweiz. Denn während der ersten Drehwochen wird sie nicht gebraucht. Hansen fährt erst einmal mit Dieter Borsche, Carl Wery, der den schwerreichen Industriellen spielt, und Heidemarie Hatheyer zu Außenaufnahmen nach Italien.

In den Szenen, die dort gedreht werden, kommt Angelika nur einmal vor. Sie schreitet durch den Garten, Pardon, den Park, der das Schloß ihres Vaters umgibt. In dieser Szene ersetzt Frau Borsche als Double die Pulver, das heißt, Frau Borsche wird von hinten aufgenommen, während sie durch den Park schreitet; sie hat glücklicherweise die gleiche Figur wie Liselotte Pulver. Im Atelier wird man dann eine Großaufnahme der Pulver in die betreffende Szene hineinschneiden. Aber im Atelier erscheint Liselotte Pulver nicht. Sondern ...
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Hier nur eine kleine Korrektur der Wahrheit .....

In den offiziellen Biographien Liselotte Pulvers ist zu lesen, daß sie die Rolle im „Dr. Holl" nicht spielen konnte, da sie um diese Zeit einen Theatervertrag zu erfüllen hatte. Aber hier handelt es sich um eine kleine Korrektur der Wahrheit.

Liselotte besitzt um diese Zeit keinen Theatervertrag. Sie hat allerdings, wie F. A. Mainz, soeben aus Italien zurückgekehrt, mit Entsetzen feststellen muß, auch keinen Filmvertrag.

Sie ist nämlich noch nicht mündig - und infolgedessen ist ihre Unterschrift unter dem Vertrag mit Mainz nichts wert. Ein Anwalt ist es, der dem Produzenten Mainz dies mitteilt. Ferner teilt er mit, daß Fräulein Pulver trotz allem bereit ist, den Kontrakt, den es gar nicht gibt, zu erfüllen.

Er müsse allerdings ein wenig geändert werden. Der Produzent brauche sich nur zu entschließen, zehntausend D-Mark zu zahlen.
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F.A.Mainz läßt sich von dem Anwalt nicht übertölpeln

Neun von zehn Produzenten würden in den sauren Apfel beißen. F.A.Mainz denkt nicht daran. Er ist ein reizender Mensch, er kann sehr großzügig sein, insbesondere wenn er von Schauspielern etwas hält. Aber niemand soll glauben, daß man ihn an der Nase herumführen darf.

Dies ist der bedauerliche Irrtum jenes Schweizer Anwalts, der postwendend erfährt, daß Mainz auf die weiteren Dienste Fräulein Pulvers verzichtet. Zwar ist man schon mitten im Film drin. Mainz telephoniert in der Welt umher. Wer könnte die Rolle der Pulver übernehmen? Wer ist frei? Wer könnte ein junges, dem Tod geweihtes Mädchen darstellen?

Später werden sich mindestens zwanzig Personen melden und behaupten, sie hätten Maria Schell vorgeschlagen. Vermutlich war es Borsche selbst, der ja eben erst mit ihr gefilmt hat.
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So ist die Lilo raus und die Maria Schell ist drinnen

Wie dem auch sei: Maria Schell ist frei. Maria Schell kommt sofort angefahren. Sie weiß nicht, daß sie diese Rolle einer Kollegin und einer Landsmännin wegspielt, sonst würde sie es ablehnen. Schon am nächsten Tag steht sie im Atelier und spielt die Angelika so, daß man sich später keine andere Schauspielerin in der Rolle wird vorstellen können.

Von diesem Augenblick an ist ihr steiler Aufstieg durch nichts mehr aufzuhalten. Die große Karriere der Liselotte Pulver wird sich aber um genau fünf Jahre verzögern, ein Beweis dafür, was ein guter Anwalt alles erreichen kann.

Aber wie war das doch? Gibt es da nicht eine Szene, in der die Pulver bereits - wenn auch nur von hinten - vorkommt? Hat ihr Anwalt vielleicht gerade im Hinblick auf diese Szene vermutet, daß der Produzent mit den zusätzlichen zehntausend Mark herausrücken würde, schon damit er nicht noch einmal eine Expedition nach Italien ausrüsten muß?

Ja, die Frau Dieter Borsches war in jener Szene zu sehen, die, zumindest was die Figur angeht, der Pulver sehr ähnlich ist - und einen guten halben Kopf größer ist als die Schell, der sie in jeder Beziehung ganz unähnlich ist.

Jene Szene aber bleibt im Film - und keiner merkt etwas. Illusion ist alles, besonders im Film. Man glaubt die Schell zu sehen, und niemand sieht, wie sehr sie gewachsen ist, wie sportlich sie ausschreitet, wie breit ihre Schultern sind, wie so gar nicht hilflos von hinten die von vorn so hilflose Angelika wirkt.
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Die Rolle der Helga spielt Heidemarie Hatheyer

Die Rolle der teils edlen, teils gar nicht so edlen Medizinstudentin und Krankenschwester Helga, der Verlobten des Dr. Holl, die ihn, wie ein Manager seinen Boxer, zu allen möglichen Aktionen antreibt und ihn auf diese Weise verliert, spielt, wie gesagt, Heidemarie Hatheyer.

Das hat zwar gewisse Schwierigkeiten, denn der Produzent F. A. Mainz möchte diese Schauspielerin auf gar keinen Fall engagieren. Er sagt - und durchaus zu Recht - „Was wollen wir mit der Hatheyer? Eine gute Schauspielerin, aber ihre Filmkarriere ist längst vorüber!"

Das glaubt übrigens die Hatheyer selbst. Nur einer glaubt es nicht - und das ist der Regisseur Rolf Hansen. Er kämpft verzweifelt um die Besetzung dieser so wichtigen - vielleicht der wichtigsten Rolle mit der österreichischen Schauspielerin.

Hatheyer und Hansen kennen sich seit langem

Die beiden kennen einander seit Kriegsende. Die Hatheyer hat ihren letzten Film „Mathilde Möhring" nach dem Roman von Fontane wenige Wochen vor der Eroberung Berlins in Berlin und Umgegend abgedreht; die Regie führte Hansen.

Der Film wurde gerade noch fertig. Das heißt, ganz fertig wurde er nicht mehr. Der Film fiel in die Hände der Russen, die sich später mit der Hatheyer in Verbindung setzten - das war schon zwei Jahre nach Kriegsende.

Die DEFA fragte an, ob die Hatheyer zu einigen Nachaufnahmen nach Berlin kommen würde. Das lehnte sie ab. Die Russen brachten den Film dann doch heraus, allerdings nur in der Ostzone, wo er als „Beutegut" lief.

Offenbar gefiel er, obwohl Fontane doch nichts vom historischen Materialismus, Marxismus, Leninismus und Stalinismus ahnte. Vielleicht war das auch ein großer Vorteil in den Augen der Bevölkerung der Ostzone. Jedenfalls bekam Heidemarie Hatheyer unzählige Briefe aus dem Osten, richtiggehende Autogrammpost von Leuten, die um diese Zeit hungern mußten, um wenigstens die erforderlichen Briefmarken aufzutreiben.

In den Monaten nach den Krieg platzen viele Projekte

Um diese Zeit spielt Heidemarie Hatheyer Theater in München, weil Paul Verhoeven Leiter des Staatstheaters geworden ist. In München wird vorläufig nicht gefilmt. Es werden von den verschiedenen amerikanischen Filmoffizieren nur Filme mit der Hatheyer geplant, aus denen dann doch nichts wird.

Filme in Berlin und Hamburg, für die die Schauspieler verpflichtet werden, platzen im letzten Augenblick - das tun um diese Zeit Filme mit Vorliebe.
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„Wohin die Züge fahren!"

Und dann kommt es doch zu einem Abschluß. Die Hatheyer soll zusammen mit Carl Raddatz in einem Film spielen mit dem Titel „Wohin die Züge fahren!" Das Drehbuch stammt von Walter Ulbrich (das ist nicht der ostzonlae Tiefflieger der SED), jenem Mann, der das Buch zu „Unter den Brücken" geschrieben hat. Auch diesmal ist ihm ein ausgezeichnetes Buch gelungen.

Der Inhalt:
Fanny hat im badischen Freiburg, direkt im Trümmerzentrum, in einer baupolizeilich längst gesperrten Wohnung eine Bleibe gefunden mit einem kleinen Mädchen namens Hannele, das sie im Bombenschutt auflas. Nächtlicherweise trifft sie auf dem Güterbahnhof zwei Heimkehrer, Max und Gustav. Die drei beschließen: es soll so aussehen, als seien Fanny und Max verheiratet und das Kind ihr Kind. Max hat noch einen besonderen Grund, in Freiburg zu bleiben. Er hofft dort seine entschwundene Braut Marta wiederzufinden. Er ahnt nicht, daß Fanny ihn liebt und bereit ist, auch in Wirklichkeit seine Frau zu werden. Das dämmert ihm erst, als er die lange gesuchte Marta als Fräulein wiederfindet, das nur noch Interesse hat für Besatzungssoldaten; nur sie können ihr die Nahrungsmittel und Seidenstrümpfe besorgen. Nun finden sich Fanny und Max und bleiben auch immer zusammen.
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Schon wieder ein Nichts von einer Handlung .....

Ein Nichts von einer Handlung, ganz wie damals die Story von „Unter den Brücken" war. Aber wie Ulbrich die Menschen in seinem Film führt, wie er die psychologischen Entwicklungen vorbereitet, motiviert und langsam, fast unmerklich durchführt, das alles hat nichts mehr von den miserablen Durchschnittsdrehbüchern, wie sie gerade um diese Zeit in Deutschland in rauhen Mengen entstehen. Das ist schon Dichtung.
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Wo soll der Film gedreht werden?

Nicht in München, nicht in Berlin, nicht in Hamburg, sondern - in Freiburg. Weil dort einige französische Offiziere sitzen, die nicht einsehen, warum sie in Freiburg nicht zum Wiederaufbau der deutschen Kultur beitragen sollten.

Wohlgemerkt: es gibt in Freiburg kein Filmatelier. Es gibt in Freiburg nur ein paar Schauspieler, die schlecht und recht in einem Freiburger Behelfstheater spielen.

Es gibt in Freiburg keinen Menschen, der auch nur das Geringste vom Film versteht, und es gibt keinen Meter Rohfilm. Grund genug für die kulturbeflisse-nen französischen Offiziere zu entscheiden, daß nun endlich auch einmal in Freiburg ein Film gedreht werde.

Und deshalb bekommt Ulbrich eine Lizenz nicht nur als Autor des Films, sondern auch als sein Regisseur. Denn daß einer, der schöne Filme schreibt, nicht unbedingt Filme inszenieren kann, das wissen die filmunkundigen Franzosen nicht. Ulbrich engagiert Heidemarie Hatheyer, Carl Raddatz und Gunnar Möller für die Hauptrollen des Films.
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Und dann kommt - Juni 1948 - die Währungsreform

Dann geschieht vorläufig einmal gar nichts. Oder es geschieht doch etwas, was jeder voraussah, aber was jedem dann doch eine große Überraschung ist: die Währungsreform kommt.

Das bedeutet, daß die Schauspieler je vierzig Mark bekommen wie alle übrigen Deutschen und daß der ganze Film in Frage gestellt ist - denn auch die Franzosen verfügen ja, wenigstens im Augenblick, nicht über beträchtliche Mengen der neuen Mark.

Aber dann kommt alles in Ordnung, die Schauspieler bekommen einen anständigen Vorschuß, und die Dreherei soll beginnen. Aber sie beginnt nicht. Denn es stellt sich heraus, daß in den vielen Wochen und Monaten, in denen der Film geplant wurde, keinerlei praktische Vorarbeit geleistet worden ist.

Als die Schauspieler in Freiburg eintreffen, ist noch immer kein Meter Rohfilm da. Auch weiß man nicht, wo man drehen soll, es gibt keine Lampen und Apparaturen; die, die französische Offiziere irgendwo beschlagnahmt haben, drohen jeden Augenblick aus Altersschwäche zusammenzubrechen.

Dabei möchten die Franzosen doch so gern, daß dieser Film zustande kommt. Ein Film, in Freiburg gedreht, wird ihr Prestige in Paris gewaltig heben! Ja, sogar das Prestige der ganzen französischen Nation - das denken sie unaufhörlich, das sagen sie unaufhörlich, aber sonst tun sie nichts.

Sie lächeln, sind charmant und bringen den Schauspielern unaufhörlich herrliche französische Weine und allerlei Leckerbissen ins Hotel. Und sie sagen, die Filmarbeit würde sicher demnächst beginnen. Aber wann „demnächst" ist, darüber äußern sie sich nicht ...
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Neue Schwierigkeiten tauchen auf.

Ulbrich, der ausgesprochene Liebling der französischen Militärregierung, fällt in Ungnade, weil mit seinen Papieren irgend etwas nicht in Ordnung ist. Zudem ist es den Schauspielern unmöglich, mit ihm zu arbeiten.

Ultimatum der Schauspieler an die Franzosen: entweder es wird gedreht - oder sie fahren ab! Die französischen Offiziere lächeln verlegen. Warum haben es die deutschen Schauspieler so eilig? Schließlich geht es ihnen doch gut! Sie bekommen genug zu essen, sind anständig untergebracht - was wollen sie mehr?

Aber da die Schauspieler fest bleiben, muß nun wohl doch etwas geschehen. Bevor der Film gestartet werden kann, müßte man wissen, wer Regie führt. Wer ist bereit, die Regie sozusagen über Nacht zu übernehmen, nachdem Ulbrich ausgebootet ist?

Die Franzosen fragen überall an: in München, in Hamburg, in Berlin, aber niemand hat Lust oder Zeit. Schließlich findet sich doch einer. Es handelt sich um Boleslav Barlog, den Chef des Steglitzer Schloßpark-Theaters in Berlin.
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Rückblick auf Boleslav Barlog nach Berlin

Wir erinnern uns - in den letzten Jahren vor Kriegsende stellte er einige bemerkenswerte Filme her. Nach 1945 kam er nicht mehr dazu.

Sein Theater nahm ihn völlig in Anspruch, und die ungeheure Arbeit, die er dort leistete, lohnte sich, denn es entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten und künstlerisch hochstehenden Theater Deutschlands.

Nun kommt er also über Nacht nach Freiburg gefahren, denn der Stoff sagt ihm zu. Er möchte gern mit Raddatz und der Hatheyer arbeiten, der Film wird nun relativ schnell abgedreht und nach Ansicht aller Beteiligten sehr schön.

Sie alle glauben, vor einem ganz großen Erfolg zu stehen. Mag sein, daß der Film wirklich ein Erfolg würde, käme er sofort heraus und nicht erst nach einem jahr im Juni 1949. Aber das ist aus vielen Gründen nicht möglich, schon deswegen, weil - als er endlich fertig ist - auch die letzte D-Mark verschwunden ist.
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Das Geld - die neue DM-West - ist alle ... der Erfolg bleibt aus

Es ist auch kein Geld mehr für Propaganda da. Der Film muß sozusagen „kalt" gestartet werden in zweit- und drittklassigen Kinos. Die Kritiken sind übrigens ausgezeichnet. Regie und Darsteller werden ungemein gelobt.

Es wird besonders hervorgehoben, daß der Film, selbst noch wenn er in Ruinen spielt, „aufmunternd" wirke und daß er, selbst in den tragischsten Momenten, noch die Überzeugung vermittle, alles werde gut ausgehen.

So die Kritik. Das Publikum aber wünscht nicht, sich aufmuntern zu lassen, jedenfalls nicht so. Die Menschen haben die Ruinen satt, die sie ja an ihre eigenen schlimmsten Tage und Nächte erinnern, an den Hunger, unter dem sie jahrelang litten, an die Verzweiflung, die sie im Juni 1949 nun endlich überwunden haben.
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Warum funktionierte das Konzept nicht mehr ?

Als die Menschen in Deutschland noch hungerten und froren, waren die Theater überfüllt - besonders wenn man Klassiker spielte. Also mußte doch ein Klassiker im Film auch ziehen ...

Bisher wurden wenig Klassiker verfilmt, vielleicht weil Filmproduzenten keine Klassiker lesen. Wie dem auch sei: jetzt wird ein Klassiker verfilmt. Es handelt sich um einen Goethe-Film, den einzigen von zahllosen für das Goethe-Jahr geplanten Goethe-Filmen, der wirklich zustande kommt.

Wieder spielt die Hatheyer die weibliche Hauptrolle - und kommt damit von den Trümmern in die Traufe.
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Der Film heißt „Begegnung mit Werther".

Als Werther soll der Schauspieler Horst Caspar mitwirken, der um diese Zeit auf der deutschen Bühne die Spitzenposition hält, aber im Film kaum hervorgetreten ist. Der Dialog stammt von einem gewissen Goethe.

Und hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn natürlich will man keines der kostbaren Worte des großen Goethe streichen. Also ist das Drehbuch mit Dialogen förmlich überladen. Und jeder Fachmann sieht, daß dieser Film viel zu geschwätzig ist, um überhaupt wirken zu können, und tausend Meter zu lang, wenn auch jeder einzelne Satz eine Kostbarkeit bleibt.

Aber dieser Film wird eben nicht von Fachleuten gemacht. Regie führt Karl Heinz Stroux, bereits um diese Zeit einer der ersten deutschen Theaterregisseure. Und der Regiestuhl wird unter seiner gewichtigen Persönlichkeit zum Sessel des Diktators.

Er, der im Theater immer seinen Kopf durchsetzte und damit fast immer ungewöhnliche Leistungen zu schaffen vermochte, will nun auch im Film seinen Kopf durchsetzen, obwohl er von der Technik des Films nichts weiß. Er läßt sich nicht beraten. Er verfällt in den Fehler so vieler Theaterregisseure, nämlich Theater zu verfilmen.

Er läßt seine Schauspieler deklamieren, er läßt sie sich völlig ausspielen. Besonders schlimm ist dies im Falle Horst Caspar. Der kennt den Begriff des Unterspielens - so wichtig im Film - überhaupt nicht. Alles ist bei ihm Aussage, Schrei, jedes Wort wird mit besonderer Konzentration und größter Lautstärke sozusagen ins Weltall hinausgeschleudert.

Er könnte im Film vielleicht eine entscheidende Position erringen, fände er einen Regisseur, der besser als er selbst die Gesetze des Films kennt, ihn dämpft, ihm - wie man in der Filmindustrie sagt - „alles wegnimmt".

Der großartige Theaterregisseur Stroux ist so von dem großartigen Theaterschauspieler Caspar fasziniert, daß beide einander nur noch steigern, und es kommt etwas dabei heraus, das mit Film überhaupt nichts zu tun hat.
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Protestiert niemand im Atelier in Geiselgasteig ?

Da werden Außenszenen im Atelier gedreht, da wird ein künstlicher Moosteppich auf dem Atelierboden ausgebreitet, mit künstlichen Blumen bespickt. Dieser Film entsteht überhaupt - sowohl vorn Optischen wie auch vom Wort her - als hätten die letzten fünfundzwanzig Jahre Filmentwicklung nicht stattgefunden.

Protestiert niemand im Atelier? Es gibt doch genug Fachleute in Geiselgasteig. Jeder Beleuchter, jeder Bühnenarbeiter bei der BAVARIA ist ja ein Fachmann! Nein, niemand erhebt Einspruch.

Hingegen geschieht sehr Seltsames. Die Persönlichkeit von Stroux - und wohl auch die Worte des großen Goethe - wirken so stark, daß keiner von den Anwesenden spürt, welch Anti-Film hier entsteht. Die Beleuchter haben an den entscheidenden Stellen echte Tränen in den Augen, die Bühnenarbeiter bleiben auch dann, wenn sie nichts zu tun haben, in der Kulisse stehen, anstatt sich in die Kantine zu verfügen.

Und auch die Tatsache, daß vorübergehend das Atelier brennt, die Aufnahmen unterbrochen und später unter sehr schwierigen Bedingungen wieder aufgenommen werden müssen, ändert nichts daran. Mit ganz wenigen Ausnahmen glauben alle, daß hier etwas Großes, ganz Einmaliges entsteht.
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Etwas ganz Einmaliges entsteht - nämlich ein einmaliger Durchfall

Es entsteht etwas ganz Ungewöhnliches, etwas ganz Einmaliges, nämlich ein einmaliger Durchfall von ganz ungewöhnlichem Ausmaß.

Das liegt an vielem. Es liegt vor allem daran, daß dieser um tausend Meter zu lange Film zuletzt von Leuten zusammengeschnitten wird, die wenig von dem wissen, was Stroux wollte, und gar nichts von dem, was Goethe wollte, die zu wenig Respekt besitzen, wo Stroux und seine Schauspieler zu viel hatten.

Als der Film vorführungsbereit ist, erkennen ihn diejenigen nicht wieder, die in ihm spielten. Der Film verschwindet schon nach wenigen Tagen vom Spielplan. Und das Urteil der Filmindustrie über Stroux, Horst Caspar und die Hatheyer ist damit gefällt.

Der Regisseur und der Schauspieler waren ja auch vorher Außenseiter des Films. Die Hatheyer, noch vor ein paar Jahren ein Star, wird abgeschrieben. Zwei so enorme Durchfälle darf sich auch ein Star nicht leisten. Zumindest nicht in einer Zeit, in der Geld noch so knapp ist wie in den ersten Jahren nach der Währungsreform.
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Das war also der wirkliche Grund für die Ablehnung

Deshalb hat Rolf Hansen es so schwer, seinen Produzenten Mainz zu überzeugen, daß die Hatheyer die entscheidende Rolle der Helga in „Dr. Holl" spielen muß.

Und dann wird er ein großer Erfolg. Ein Riesenerfolg! Er übertrifft nicht gerade den des „Schwarzwaldmädel", aber er kommt ihm doch sehr nahe, obwohl es in ihm doch um Leben und Tod geht und weder gesungen noch getanzt wird ...

Dieter Borsche und Maria Schell sind als das ideale deutsche Liebespaar etabliert - aber sie werden keinen Film mehr zusammen machen. Das hat allerdings auch mit Privatem zu tun.

Aber beide werden in den nächsten Jahren die entscheidenden Rollen in den großen deutschen Filmen spielen. Auch die Hatheyer ist wieder da. Und Rolf Hansen ist mit diesem Film zu einem der ersten deutschen Regisseure geworden, Mainz zu einem der erfolgreichsten Produzenten.
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Es gab noch weitere Kuriositäten - mit dem Geld ....

Kurz bevor der Film fertiggestellt und es viel zu spät für Mainz war, hatte sich auch Bonn wieder gemeldet. Mainz sollte doch die Bundesbürgschaft bekommen. Jetzt wollte er freilich die Bürgschaft nicht mehr - warum sollte Bonn an diesem Film mitverdienen?

Aber Bonn, das manchmal so entschieden Bundesbürgschaften verweigerte, verlangte jetzt ebenso entschieden, daß die Bundesbürgschaft nachträglich akzeptiert werde. Mainz mußte sie nehmen ... fast schon lächerlich ....
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