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"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.

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FÜNFTER TEIL • DIE NEUEN PRODUZENTEN

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TRAGÖDIEN AM RANDE

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Heinrich George ist gestorben - nein - elend zugrunde gegangen

Er ist elend zugrunde gegangen im Konzentrationslager Sachsenhausen, das die Russen von den Nazis übernommen haben - an den Folgen einer gewöhnlichen Blinddarmoperation gestorben. Unter normalen Verhältnissen wäre er nach einer Rekonvaleszenz von zwei Wochen wieder gesund geworden. Aber in einem Konzentrationslager läßt man die Leute verrecken. Das war unter Hitler so, und das ist unter Stalin nicht anders.

In Sachsenhausen hatte George zuerst mit zweihundert Häftlingen in einem Saal gelegen, wurde aber dann mit einem anderen Schauspieler in die sogenannte „Artistenbaracke" versetzt. Dann geschieht etwas sehr Seltsames.

Einige Schauspieler in Berlin, vor allem diejenigen, die im sowjetischen Sektor spielen, versuchen, hohe russische Offiziere für George und sein Schicksal zu interessieren, weisen auch auf seine Rolle im „Postmeister" hin. Sie hoffen, daß seine Darstellung eines russischen Menschen auf die Russen Eindruck macht. Sie macht auch Eindruck.

Irgendein General verständigt den Lagerkommandanten von Sachsenhausen. Aber der denkt gar nicht daran, George zu entlassen, sondern befiehlt ihm, den „Postmeister" auf russisch zu spielen. Auf russisch? George versteht kein Wort Russisch.

Wochen- und monatelang arbeitet er mit einem Dolmetscher an der Rolle. Er lernt die Worte, lernt sie wie eine Melodie. Es hilft ihm natürlich, daß er die Rolle vom Film her kennt. Endlich können die Proben beginnen. Jawohl, wieder mal Proben in einem Konzentrationslager.
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Die Russen, die mitmachen, sind fasziniert von George

Erstaunlich, daß ein Deutscher einen Russen so vollendet spielen kann. Premiere im Konzentrationslager. Achthundert Offiziere und Generale sitzen im Parkett. Oben steht George und spielt noch einmal seinen „Postmeister", jenen gutmütigen alten Mann, der nur seine Pferde liebt und seine Tochter, von der er annimmt, sie sei in der Hauptstadt glücklich verheiratet.

Er glaubt infolge eines frommen Betruges, daß es dieser Tochter gut geht, daß sie in Saus und Braus lebt, während sie in Wirklichkeit unter die Räder gekommen und schon tot ist. Als George die Rolle im Film spielte, war er schwer wie ein Elefant. Jetzt ist er zum Skelett abgemagert.

Aber ein hagerer Postmeister, nein, das ginge nicht! Der gute alte Mann muß behäbig wirken. Also läßt George sich mit Tüchern und Kissen ausstopfen. Damals spielte er den Film in einem Atelier, wo alles vor ihm zitterte.

War er nicht auf seinem Gebiet einer der mächtigsten Männer des Dritten Reiches? Jetzt ist er ein armer Gefangener. Jeder, der da unten sitzt, brauchte nur einen Finger zu rühren - und er wäre frei. Wird einer den Finger rühren? Wird er frei kommen?

Der Vorhang fällt. Der Beifall will nicht verebben. Es ist das letzte Mal, daß Beifall an die Ohren des Schauspielers Heinrich George dringt, obwohl er es noch nicht weiß. Eine kurze Frist ist ihm noch vergönnt. Alles scheint sich zum besseren
zu wenden. Sowjetische Offiziere unterhalten sich leutselig mit ihm. Er hat schon neue Pläne. Er will ein zweites Theaterstück inszenieren.

Mitten in der Nacht wacht George mit entsetzlichen Schmerzen auf. Vergebens rufen die Mitgefangenen nach den Wachen. Die kommen erst am Morgen. George wird in die Baracke des Arztes geschafft. Der konstatiert Blinddarmentzündung. Operation unter unsagbaren Umständen. Noch während sie im Gang ist, setzt das Herz aus. Traubenzuckerinjektionen. Die Operation kann zu Ende geführt werden. Aber nach ein paar Tagen kommt Lungenentzündung hinzu. Das ist zu viel für den längst morschen Körper. Jetzt rächt es sich, daß George niemals Maß und Ziel halten konnte; daß er beständig trank. Er atmet nur noch schwer, er röchelt. Dann ist alles zu Ende.
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Jetzt ist es soweit : Heinrich George ist tot. Die Legende lebt ...

Und in der gleichen Sekunde wird die Legende Heinrich George geboren. Schon die Aufschrift der Schleife des Kranzes, den man ihm aufs Grab legt, ist problematisch, nämlich nur nch populistisch : „Dem größten Schauspieler Deutschlands" heißt es da.

Wie? Lebt nicht noch Albert Bassermann? Gab es nicht zu Lebzeiten Georges einen Mann namens Alexander Moissi? Sitzt nicht Emil Jannings am Wolfgangsee und wartet darauf, daß man ihn zurückholt? Ist nicht Gustaf Gründgens gerade aus einem Lager entlassen worden? Gelebte Tragödie - gefilmte Tragödie.
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Roberto Rossellini taucht in Berlin auf

Wahrend George zugrunde ging, taucht in Berlin Roberto Rossellini auf, ein italienischer Regisseur, jenseits der deutschen Grenzen bereits berühmt durch seine antifaschistischen, neorealistischen Filme, die er sofort nach Mussolinis Sturz inszeniert hat.

Er ist kein Neuling im Film. Er ist schon etwa zwölf Jahre dabei, hat auch im faschistischen Italien diesen oder jenen Film gemacht, aber nichts Überdurchschnittliches.

Seine eigentliche Stunde kam, als die meisten italienischen Filmregisseure ausfielen, weil sie gewohnt waren, nur im größten Maßstabe zu arbeiten, in modernen Ateliers, mit guten oder zumindest routinierten Schauspielern.

Rossellini ging mit seiner Kamera durch die Straßen Roms, auf die Plätze Neapels, ans Meer, in die Hütten der Armen. Er brauchte keine Schauspieler. Er nahm Menschen von der Straße, unterernährte Kinder, Frauen, die sich dem Laster verschrieben hatten, Kriegskrüppel - eben Menschen, die das Leben gezeichnet hatte. Er brauchte keine Drehbücher. Hatte das Leben nicht selbst unzählige Drehbücher geschrieben? Es genügte ihm, Szenen zu drehen, die er miterlebte.

„Rom, offene Stadt" und „Paisa"

Die so entstehenden Filme: „Rom, offene Stadt" und „Paisa" erregten ungeheures Aufsehen, wurden zu außergewöhnlichen Preisen nach Amerika verkauft, wo man aufatmete, daß endlich, endlich nach den zahllosen Atelierfabrikaten Hollywoods wieder Filme kamen, die nach Leben rochen und schmeckten.

In Deutschland weiß man fast nichts von Rossellini. Seine Filme sind noch nicht ins Land gekommen, und sie werden auch späterhin nur in großen Städten und auch dort arg verstümmelt aufgeführt werden.

Denn da sie nach Mussolinis Zusammenbruch gedreht worden sind, zu einer Zeit also, da die Deutschen die „Feinde" der Italiener waren, sind sie natürlich antideutsch, zum Teil geradezu vehement antideutsch.
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Er geht nach Ost-Berlin zur DEFA

Nun, Rossellini kommt also jetzt nach Deutschland: er geht zur DEFA und erklärt, er wolle einen Film in Berlin drehen. Er verlangt ein paar Kameras, ein paar Scheinwerfer, technisches Personal. Dafür soll die DEFA den deutschen Vertrieb seines Films bekommen.

Was er denn drehen will, fragt man ihn. Ob man das Drehbuch zu sehen bekommen könne. Rossellini zuckt die Achseln. Nein, ein Drehbuch hat er nicht mitgebracht. Er wird eben drehen, was ihm gerade vor die Kamera kommt, ein Zwischending zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Und seine Schauspieler? Er hat keine. Er wird Menschen von der Straße holen, wie in Italien auch.
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Bei der DEFA ist man skeptisch.

Aber Roberto Rossellini, dunkelhaarig, dämonisch, ungemein selbstbewußt, setzt durch, was er will. Er bekommt seine Kameras, er bekommt seine Techniker, er zieht los. Er ist fasziniert von der Trümmerkulisse Berlins.

Aber schon die Berliner sind ihm völlig unverständlich. Er kann sich ja nicht mit ihnen unterhalten. Seine Phantasie versagt, wenn er sich vorstellen soll, was in ihrem Innern vorgeht, wie sie sich selbst und ihr Schicksal sehen, wie am besten ihr Schicksal darzustellen wäre.

Schließlich engagiert der Regisseur doch ein paar Akteure. Vor allen Dingen holt er den vierzehnjährigen Edmund Meschke aus dem Zirkus Barlay, dessen Vater dort Stallmeister ist.

Edmund ist ungewöhnlich hübsch. Und um ihn herum skizziert jetzt Rossellini eine Handlung, von der er glaubt, daß sie typisch deutsch sei. Es handelt sich um eine Familie, die in Trümmern wohnt. Der Vater ist krank. Die Schwester geht auf die Straße. Edmund müßte für den Vater sorgen. Auf der Suche nach Nahrungsmitteln trifft er seinen Schullehrer. Der lädt ihn in seine Wohnung ein. Dort vergreift er sich an dem Knaben, der es über sich ergehen läßt, weil er doch den Vater nicht verhungern lassen darf. Später kommt alles heraus. Der Lehrer streitet ab, irgend etwas mit dem Jungen getan zu haben, und wirft ihn hinaus. Edmund kann nicht weiterleben ...
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Die Story „aus dem Leben gegriffen" ??

So weit die Story, die, wie man sieht, „typisch für jene Zeit", sozusagen „aus dem Leben gegriffen" ist.

Von Tag zu Tag wird entschieden, was gedreht werden soll. Rossellini ist immer wieder begeistert von den seltsamen Dingen, die sich in Berlin ereignen. Da ist etwa ein Pferd gestürzt. Sofort wird es getötet und an Ort und Stelle zerteilt. Die Hausfrauen stehen schon Schlange, um etwas zu erwischen.

Rossellini ist zufällig dabei und läßt wie wild drehen. Oder eine Ruine stürzt zusammen. Sein Kameramann muß es drehen. Rossellini kann sich an solchen, ja wirklich seltsamen Ereignissen gar nicht sattsehen.

Er jagt mit seiner Mannschaft hierhin und dorthin, ist - um seine eigenen Worte zu gebrauchen - „so überwältigt von der Vielheit der Ereignisse und der fast krankhaften Dissonanz der Stadt, daß es mir unmöglich ist, zu einem grundlegenden Eindruck zu kommen".

„Deutschland im Jahre Null", so heißt der Film, fällt überall durch, wo er gezeigt wird, und das zu einer Zeit, da Rossellini - vermutlich fälschlicherweise - zu den ersten Filmregisseuren der Welt gerechnet wird. Es ist der Beginn eines Abstiegs, dessen Dimensionen erst in den nächsten Jahren deutlich werden sollen.
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DEN NAMEN MEYER MUSS MAN SICH MERKEN!

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Rolf Meyer deht bei Hamburg „Zugvögel"

Um die Zeit, da Rossellini in Berlin erscheint, beginnt ein Mann mit der Produktion eines Films in der Umgebung von Hamburg, der noch nie zuvor einen Film produziert hat. Nur ein paar Dutzend Menschen innerhalb der Filmindustrie kennen ihn.

Der Name des Films: „Zugvögel". Der Name des Mannes: Rolf Meyer. Rolf Meyer, ein geborener Berliner, ist Drehbuchautor. Mittelgroß, blond, gut aussehend, von den Frauen sehr verwöhnt, obwohl mit einer leichten Sprachbehinderung behaftet, daher in der Industrie allgemein „Stottermeyer" genannt, war bis kurz vor Kriegsende in seiner Heimatstadt geblieben, hatte dann das Notwendigste in ein paar Kartons verpackt, auf sein Fahrrad geschnallt und war losgefahren. Er wollte nach Hamburg. Er kam nicht ganz so weit.

In Bendestorf, einem winzigen Flecken am Rande der Lüneburger Heide, brach er einfach zusammen. Es ist wichtig, dies festzuhalten, denn dieser körperliche Zusammenbruch ist aus der Geschichte von Bendestorf - man mag über die Bedeutung dieses Ortes, der doch fast dreihundert Einwohner zählte, denken wie man will - nicht mehr wegzudenken.
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Die Flüchtlinge in Bendestorf erwarteten das Ende

Übrigens auch nicht aus der Geschichte des deutschen Films. In Bendestorf gab es einige Häuser, ein paar Gasthöfe und viele Prominente, die vermuteten - und das zu Recht - daß es einfacher und ungefährlicher sein würde, sich in Bendestorf überrollen zu lassen als in der Großstadt Hamburg. Zu den interessanten Flüchtlingen gehörten unter anderen die Modeschöpferin Bibernell, der Schauspieler Klaus Holm sowie ein relativ unbekannter junger Verleger namens Axel Springer. Der gab die Lokalzeitung heraus - kein weltbewegendes Presseerzeugnis!

Außerdem hatte er in der Umgegend eine Menge früher von ihm verlegter Bücher verlagert, und er wollte in ihrer Nähe bleiben, bis er sie wieder auf den Markt werfen konnte. Dann erschienen die Engländer. Bendestorf verteidigte sich nicht.

Die Engländer suchten einen Mann, mit dem sie sich verständigen konnten. Rolf Meyer sprach Englisch. Infolgedessen wurde er Bürgermeister von Bendestorf. Axel Springer half auch mit. Und dritter im Bunde war der bisherige Bürgermeister des Dörfchens, der natürlich Mitglied der Partei gewesen war und daher nur im Nebenzimmer getarnt weiterarbeiten durfte, mußte: denn er war der einzige, der Bescheid wußte .......
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Rolf Meyer trifft auf Gustav Knuth ....

Das ging alles recht gemütlich zu. Rolf Meyer bekam schließlich einen Lastkraftwagen, um Lebensmittel in der Umgegend einzukaufen. Er mußte ja dafür Sorge tragen, daß seine lieben Bendestorfer nicht verhungerten.

Eines Tages, als er wieder einmal durch die Gegend fuhr - nur in dem erlaubten Umkreis von wenigen Kilometern - kam ihm ein ziemlich schäbiger Radfahrer entgegen. Dieser Radfahrer war der Schauspieler Gustav Knuth, der sich auf dem Wege nach Hamburg befand.

Er erzählte, daß die Schauspielerin Hilde Krahl dort in der Klinik läge. Sie erwartete ihr erstes Kind. Ihr Gatte, Wolfgang Liebeneiner, saß in Bardowiek, wo er zuletzt gedreht hatte, und war recht verzweifelt, da er keine Möglichkeit sah, die vierzig oder fünfzig Kilometer nach Hamburg zurückzulegen. Das war nach den Bestimmungen der Besatzungsmacht verboten.
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Meyer hatte eine Idee, wie man nach Hamburg kommt

Rolf Meyer überlegte: wie konnte er Wolfgang Liebeneiner und seine Frau zusammenbringen? Dazu mußte er selbst erst einmal die Genehmigung haben, nach Hamburg zu fahren.

Der zuständige Kommandant war - das haben zuständige Kommandanten in solchen Fällen so an sich - ziemlich schwierig. Aber er hatte - wie alle zuständigen Kommandanten - eine Achillesferse. Tag und Nacht fürchtete er den Ausbruch einer Seuche in seinem Gebiet.

Also ging Bürgermeister Rolf Meyer zum Kommandanten und erklärte ihm, Bendestorf stehe vor dem Ausbruch einer Kinderseuche. Mehr sagte er nicht. Denn von Seuchen verstand er nicht das geringste. Mehr brauchte er auch nicht zu sagen. Denn der zuständige Kommandant wurde bleich. Was denn da zu tun sei, wollte er wissen. Nun, meinte Rolf Meyer, er werde die nötigen Medikamente schon in Hamburg auftreiben können. Dazu brauche er aber einen Beifahrer.

Er erhielt die nötigen Papiere. Dann fuhr er nach Bardowiek. Dort fand er Liebeneiner, den letzten Produktionschef der UFA beim Bohnenschälen. Liebeneiner erklärte sich sofort bereit, diese "interessante" Tätigkeit einzustellen und nach Hamburg mitzukommen. In Hamburg verschwand Liebeneiner in Richtung Klinik, in der seine Hilde Krahl lag. Meyer kehrte nicht ohne Schwierigkeiten nach Bendestorf zurück, denn an allen Kontrollstellen wollten englische Soldaten wissen, wo denn eigentlich sein Beifahrer geblieben sei.
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Rolf Meyer wollte wieder nach Berlin.

Bendestorf zählte um diese Zeit bereits fast vierhundert Einwohner. Trotzdem dachte Rolf Meyer, es wäre vielleicht ganz schön, anderswohin zu reisen. Er wollte in seine Heimatstadt Berlin.

Zu diesem Zweck mußte er sich ein Auto „organisieren". Er ließ es so streichen, daß es einem britischen Militärwagen ähnlich sah, ließ viele Sterne darauf pinseln, erklärte einem britischen Filmoffizier, er müsse nach Berlin, um Filmmanuskripte zu holen, und fuhr los.

Mit allen Tricks an den Russen vorbei

Unterwegs „organisierte" er noch eine britische Uniform. Die zog er an, als er am letzten britischen Kontrollposten vorbei war und bevor er zum ersten sowjetischen Kontrollposten kam - sozusagen im Niemandsland. Die Russen salutierten vor dem vermeintlichen britischen Offizier.

In Berlin besuchte Meyer alle Filmschaffenden, die es dort noch gab, besuchte alte Freunde, überreichte zahllose Briefe, die ihm mitgegeben worden waren - viele stammten natürlich von Helmut Käutner - und fuhr schließlich nach Hamburg zurück.

Er vergaß auch nicht als Engländer, der er nun einmal war, an britischen Tankstellen zu halten und seinen Wagen vollzutanken. Diese Spritztouren wiederholten sich zahllose Male. Meyer wurde sozusagen der erste inoffizielle Kurier zwischen Hamburg und Berlin.
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Plötzlich stellte er die Fahrten ein.

Es gab drei Gründe dafür. Einmal hatte ihn ein britischer Kulturoffizier wissen lassen, er würde, wenn es so weiterginge, früher oder später von den Briten doch als Hochstapler verhaftet werden. Und zweitens fuktionierte seit dem Frühjahr 1946 die Post schon wieder einigermaßen; die Kurierdienste Meyers wurden also nicht mehr so dringend benötigt.

Entscheidend aber war, daß Meyer seinen Beruf - Filme schreiben - wieder ausüben wollte. Wenn sich niemand fand, der Regie führte, würde er schlimmstenfalls auch Regie führen. Und wenn niemand da war, um die Produktion zu übernehmen, wollte er in Gottes Namen auch den Produzenten spielen.
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Die Engländer wünschen erzieherische Filme

Das Manuskript liegt bereits vor. Er hat es nach Besprechungen mit den Engländern verfaßt. Die wünschen Filme, die zur Umerziehung der Deutschen beitragen.

Der Inhalt: die Jungen einer Schulklasse, die zum Militär einrücken sollen, fahren noch einmal die Weser hoch und lagern in einem Haus ihre Paddelboote ein. Sie beschließen, sich nach dem Krieg wieder in diesem Haus zu treffen und dann gemeinsam nach Bremen zu fahren. Der Krieg ist zu Ende. Die ehemaligen Schüler treffen sich, wie vereinbart, und erzählen einander ihre Schicksale.

Der Film heißt, wie gesagt „Zugvögel". Die Hauptrollen sollen Carl Raddatz und Lotte Koch spielen. Die Engländer sind nach der Lektüre des Manuskripts bereit, Meyer eine Lizenz zu erteilen, ja, sie wollen ihm sogar Rohfilm zur Verfügung stellen, Apparate allerdings nicht. Er soll sehen, wie er zu Apparaten kommt.
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Der Trick mit den weißen Sternchen funktioniert nochmal

Meyer fährt nach Berlin zur DEFA, bei der er alte Freunde aus TOBIS-Tagen trifft. „Ich brauche eine Kamera und Scheinwerfer!" erklärt er.

Die DEFA braucht Autoreifen. Ein Kompensationsgeschäft kommt zustande.

Meyer bemalt wieder einen Lastkraftwagen, mit vielen weißen Sternen natürlich, beschafft sich Autoreifen und bekommt seine Kamera und seine Scheinwerfer.
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Und die Finanzen ?

Aber wie kann er seinen Film finanzieren? Dazu muß er eine Filmfirma gründen. Er findet auch einen Finanzier, nämlich den Wurstfabrikanten Heinz Schulze von der Hamburger Fleischwaren AG.

Wurstfabrikanten sind um diese Zeit Millionäre. Herr Schulze ist bereit 1,3 Millionen zu geben. Und wo sollen die Aufnahmen stattfinden? Es gibt ja keine Ateliers in und um Hamburg.

Und wo sollen die Schauspieler wohnen? Meyer wäre nicht Meyer, wenn er solche Probleme nicht zu lösen vermöchte. Er hat sich auf recht phantastische Weise eine Kamera besorgt und auf eine nicht minder phantastische Weise das nötige Geld.

Jetzt landet er seinen größten Coup, um zu einem Atelier zu kommen. Er hat erfahren, daß in der Weser ein kleiner Vergnügungsdampfer versenkt worden ist. Er liegt nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche.

Meyer beschwatzt die Briten. Die schicken drei Panzer, mit deren Hilfe der Dampfer gehoben wird. Die lecken Stellen sind leicht abzudichten. Meyer hat also sein - allerdings schwimmendes - Atelier. In den Kabinen wohnen die Schauspieler, essen, werden geschminkt.
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Der Film „Zugvögel" kann gedreht werden.

Aber auf einem Schiff kann man nicht alles drehen. Schon hat Meyer neue Pläne. Einige Szenen seines Films dreht er in dem Tanzsaal des Gasthofes Schlangenmeicr - eines anderen Meyer in Bendestorf.

Und weil er dort einmal Bürgermeister war, ist man bereit, alles für ihn zu tun. Meyer wiederum sagt sich, daß er auf die Dauer weder in einem Schiff noch in einem Gasthofsaal wird drehen können. Er muß Ateliers haben. Da es keine gibt, wird er sie bauen; mit Hilfe des Wurstfabrikanten Schulze und einiger Baufirmen.
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Die JUNGE FILMUNION mit Sitz in Bendestorf wird gegründet.

Zwei kleine Ateliers werden in Angriff genommen. Hohe britische Offiziere - insbesondere ein gewisser Major Auten - sind allerdings der Überzeugung, ein neues Babelsberg solle nicht in Bendestorf, sondern ausgerechnet in dem Städchen Vlotho in der britischen Zone entstehen, weil die UFA - zufällig - dorthin eine Menge Material verlagerte.

Ein paar Wochen lang schreiben die britisch lizenzierten Zeitungen, wie herrlich es doch wäre, wenn es erst in Vlotho eine neue Filmproduktion gäbe! Die Chefredakteure und Redakteure solcher Zeitungen haben um diese Zeit längst aufgehört, den britischen Presseofflizieren klarzumachen, was das deutsche Filmpublikum interessiert und was nicht.

Vlotho scheint zu dieser zweiten Kategorie von Themen zu gehören. Das reizende kleine Nest bleibt trotz wildbewegter Pressecampagnen ebenso gottverlassen wie es bisher war. Dann geben es die Zeitungen auf, und niemand hört mehr von Vlotho, übrigens auch nicht von Major Auten, der nach Hollywood geht, wo er schon vorher einmal war.

Der Bau des Ateliers von Bendestorf ist freilich erst im Verlauf des Jahres 1948 beendet. Aber es ist schon ein fest umrissener Plan im Kopf von Rolf Meyer, als er im September 1946 mit dem Film „Zugvögel" begonnen hat.
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A. BRAUNER - EIN JUNGER MANN AUS POLEN

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Der Anfang in Berln 1946

Im Oktober 1946 aber beginnt man in Berlin von einem gewissen Arthur Brauner zu sprechen, der ganz plötzlich aufgetaucht ist. Er will eine Filmgesellschaft gründen, die Central Cinema Company.

Er hat den Namen gewählt, weil er so leicht abzukürzen ist, nämlich mit CCC. Arthur Brauner kommt von Stettin.

  • Anmerkung : Das war leider falsch, er kam nämlich direkt aus Wiesbaden. Dort (also hier bei uns !!!) wollte man ihn aber weder fördern noch unterstützen.


Berlin soll nur eine Zwischenstation zwischen Lodz und New York, wohin Brauner zu fahren gedachte, sein. Die letzten Jahre hat er in Polen verbracht.

Mehr weiß man vorläufig nicht von ihm. Der Vater stammt aus Rumänien. Arthur Brauner hatte sich vor dem Krieg, er muß damals knapp zwanzig gewesen sein, an einer Iran-Expedition beteiligt und einen Kulturfilm gedreht.

Nachher drehte er noch zwei weitere Kulturfilme: „Das tote Meer" und „Schätze des Nahen Ostens". Er war bereits damals dem Film verfallen, obwohl er es noch nicht wußte. In Stettin hatte irgendetwas nicht geklappt. Brauner mußte noch Papiere haben. Stempel, Bescheinigungen - und fuhr nach Berlin. Er wollte nur ein paar Tage bleiben. Er bleibt.
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Hier noch ein Bißchen Brauner - Legende ...

Obwohl er sich kaum verständigen kann, fühlt er sich bald in der großen Stadt zu Hause. Er beschließt, die Reise nach Amerika zu verschieben. Irgendwie kommt er in Berührung mit Filmleuten.

  • Anmerkung : Auch diese Story stimmt nicht, denn Brauner hatte in Wiesbaden mit den Stadtoberen bereits über seine Filmambitionen gesprochen. Mehr steht in dem Buch über die Filmstadt Wiesbaden


Irgendjemand erzählt ihm, daß draußen in Tempelhof der erste Westberliner Film gedreht wird: „Sag' die Wahrheit!" Er fährt hinaus, um sich das einmal anzusehen. Es handelt sich um einen etwas albernen Film, der im wesentlichen in einem Irrenhaus spielt. Dort wird ein Mann eingeliefert, weil er es unternommen hat, vierundzwanzig Stunden lang die Wahrheit zu sagen. Das kann man eben nur im Irrenhaus.
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Der erste Versuch dieses Films in Prag ...

Der Film ist schon einmal gedreht worden oder vielmehr - man hat begonnen, ihn zu drehen. Fertig ist er nicht mehr geworden. Das war vor anderthalb Jahren in Prag.

Ist es schon eineinhalb Jahre her? Ist das erst eineinhalb Jahre her? Jetzt soll er also nochmals gedreht werden. Helmut Weiß hat die Regie. Gustav Fröhlich und Ingeborg von Kusserow spielen die Hauptrollen.

Brauner ist fasziniert. Es ist das erste Mal, daß er einen richtigen Atelierbetrieb kennenlernt. Es ist das erste Mal, daß er richtige Schauspieler vor der Kamera sieht.

Die Schauspieler wiederum fragen sich: „Wer ist dieser junge Mann?" Brauner sieht viel jünger aus als sechsundzwanzig Jahre.

Wer ist dieser ausgesprochen hübsche Mensch, der von früh bis spät im Atelier herumsteht, in diesem kalten, schrecklichen Atelier, der sich über die Komiker Wilhelm Bendow und Max Gülstorff totlachen will?
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Im "Filmstudio 45" wird das Geld knapp .....

Nach ein paar Tagen haben die Schauspieler andere Sorgen als die Identität Brauners. Werden sie ihre Gagen bekommen? Wird der Produzent - es handelt sich um das etwas hastig gegründete Filmstudio 45 - weitermachen können? Denn Geld ist knapp.

Irgendjemnad kommt auf die Idee, mit Arthur Brauner zu sprechen. Und siehe da: der junge Mann aus Lodz ist in der Lage, den Film zu Ende zu finanzieren. Der von Brauner mitfinanzierte Film „Sag' die Wahrheit" wird in der Berliner Filmbühne uraufgeführt.

Die Presse schäumt. So viel Quatsch in einer so ernsten und bedeutungsvollen Zeit!
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Dieser Film sei "unstatthaft "

Die amerikanisch lizenzierte 'Neue Zeitung' läßt sich wie folgt vernehmen: „Protest! Hier kommt deutlicher Protest gegen den ersten Film der 'Studio 45 Film GmbH'. Man reibt sich die Augen und hält es nicht für möglich. Jetzt einen Film machen zu dürfen, sei es einen ernsten, sei es einen heiteren, ist ein verpflichtendes Geschäft.

Diejenigen, denen der knappe Zelluloidstreifen in die Hand gelegt wird, sollten damit in der Kamera vielfach wuchern. Daß wir auf Fixierung der Patsche, in der wir sitzen, humorlos bestehen sollten, wird keiner verlangen. Daß Heiterkeit notwendig ist - darüber kein Wort. Aber was ist dies hier? Menschen bevölkern die Leinwand, die uns fremder sind als die Steinzeitbewohner. Schleiflackgents in Tennisdreß. Klubdamen mit leichten moralischen Webfehlern. Keiner und keine, die auch nur von fern an Arbeit erinnerten."

Und: „... unstatthaft ist es, heute Filme mit teurem Aufwand zu drehen. Vor den glatten Lustspielgesichtern erfaßt uns heute das schlechte Gewissen."

Ein Erfolg - einfach mal eine Stunde lang albern sein

Man sollte denken, daß der Film nach solchen Kritiken - die anderen sind nicht wesentlich anders - ein Durchfall wird. Er wird ein hervorragendes Geschäft. Denn gerade das, was die Kritiker für 'unstatthaft' erklären, ist, was die Menschen zu sehen wünschen.

Sie wollen eine Stunde lang albern sein dürfen, sie wollen lachen. Und dann hat der Erfolg des Films noch zwei besondere Gründe. In Nebenrollen wirken mit: Georg Thomalla und Sonja Ziemann.
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Georg Thomalla

Georg Thomalla ist nicht erst nach dem Krieg zum Film gekommen. Er hat bereits während des Krieges gefilmt und schon lange vor dem Krieg Theater gespielt. Das Debüt erfolgt im Sommertheater von Dömitz in Mecklenburg.

Gewiß, es gibt nicht viele Menschen auf der Welt, die jemals vom Theater in Dömnitz gehört haben. Aber das gleiche kann von allen Theatern gesagt werden, in denen Thomalla in den nächsten Jahren - zwischen 1931 und 1935 - spielt. Es sind keine großen Theater; und selbst sie sind durchaus nicht immer voll.

Noch hat die Welt von Thomalla keine Notiz genommen. Der Theaterdirektor von Gera hat es. Der junge Thomalla durfte ihm vorsprechen, bei ihm auf Probe gastieren und wurde engagiert. Nicht als Liebhaber. Nicht als Held. Nicht als Komiker, sondern als alles zusammen. Damals nennt man das noch im Theaterjargon die "Grande Utilite". Ins moderne Deutsch übersetzt würde das heißen: allgemein verwendbar! Kurz, Georg Thomalla spielt alles, was eben in Gera gespielt wird.
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Heinz Hilpert holt Thomalla nach Salzburg

Gelegentlich kommen Direktoren anderer Theater nach Gera und sehen Thomalla. Heinz Hilpert, der zu dieser Zeit das Deutsche Theater in Berlin leitet, das Theater in der Josefstadt in Wien und das Landestheater in Salzburg - holt ihn, nicht nach Berlin oder Wien, sondern nach Salzburg.

Um diese Zeit holt ihn auch der Film. Er soll eine Rolle in „Ihr erstes Erlebnis" mit Ilse Werner spielen. Einen lustigen Studenten, so zu allerhand Spaßen aufgelegt.

Nicht nur Film und Theater haben für Thomalla Interesse, auch die Wehrmarcht.
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Er muß zum Militär

Er wird nämlich eingezogen, weil inzwischen der Krieg ausgebrochen ist. Thomalla, der auf der Bühne keinen Helden zu spielen vermag, weil er zu klein ist, kann auch in Wirklichkeit keiner sein; unter anderem eben weil er zu klein ist.

Die Militärbehörden wollen das nicht recht einsehen. Aber Thomalla bleibt hartnäckig. Rollen, die ihm nicht liegen, spielt er nun einmal nicht. Seine militärische Laufbahn dauert infolgedessen nur eineinhalb Wochen. Dann bestätigt ihm ein Attest, daß er an einem Leistenbruch leidet. Den hat er zwar nicht - aber das Attest hat er! Darauf kommt es schließlich an.

Er wird entlassen - gerade zur rechten Zeit um seinen letzten Drehtag zu absolvieren. Zurück nach Gera. Die Saison muß er ja noch in Gera abdienen als Grande Utilite. Dann soll er nach Salzburg gehen.
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Da wird er wieder eingezogen

Da wird er wieder eingezogen, Leistenbruch oder nicht Leistenbruch. Dieses Mal muß er eineinhalb Jahre dienen. Plötzlich ist der Krieg zu Ende.

Thomalla ist nicht besonders traurig darüber. Er hat ja schon nach den ersten eineinhalb Wochen beim Militär begriffen, daß er ihn nicht würde gewinnen können ...
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Und dann gabs lustige Kommentare

Wieder Kabarett. Dann spielt er den Puck im „Sommernachtstraum" im Theater am Kurfürstendamm in Berlin. Besucher dieser Vorstellungen denken noch mit Grauen daran. Sie äußern: „Die Bombennächte waren ja gewiß furchtbar, aber dieser Sommernachtstraum ..."

Und dann steht Thomalla wieder vor der Kamera: in dem ersten Westberliner Film „Sag' die Wahrheit". Er braucht nicht auf die Premiere zu warten um zu wissen, daß er Erfolg hat. Er ist einer, der den Bühnenarbeitern, den Beleuchtern, den Maskenbildnern gefällt.

Und den kleinen Mädchen. In ihre Begeisterung für ihn mischt sich auch etwas wie Mitleid. Er ist ja so klein! Er ist ja so mager! Sie schenken ihm keine Blumen. Was kann man denn schon mit Blumen anfangen? Sie schenken ihm - ein Zeichen der Zeit - Lebensmittelkarten.
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Thomalla ist ein Erfolg.

Der Film, den er macht, ist ein Erfolg. Aber dieser Erfolg wird keine Konsequenzen für ihn haben. Er wird viele kleine Rollen zu spielen bekommen, aber keine Hauptrollen. Die Filmleute zucken die Achseln: dieser kleine Mann mag ja ganz komisch sein - ein paar Minuten allenfalls!

Einen Film kann er nie tragen! So äußern sich die Branchekundigen. Sie irren im Falle Thomalla, wie sie oft geirrt haben und wie sie noch oft irren werden.

Bis sie es eingesehen haben, wird Thomalla allerdings insgesamt fünfunddreißig Filme drehen müssen, von denen man kaum einen einzigen auch nur dem Namen nach mehr kennt. Erst dann kommt seine große Chance.
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„SONJA MIT DEN SCHWARZEN HAAREN"

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Die kleine, zierliche charmante Sonja Ziemann

Georg Thomallas Partnerin in jenem ersten Westberliner Nachkriegsfilm: die ebenfalls kleine, zierliche und unendlich charmante Sonja Ziemann. Bei ihr geht es sofort steil aufwärts.

Sie ist in Eichwalde bei Berlin als Tochter eines Bücherrevisors geboren. Warum sie gerade Sonja genannt wird - einen Namen erhält, der so gar nicht zu dem gut bürgerlichen Milieu paßt, aus dem sie kommt, aber der sehr merkwürdig zu der Frau paßt, die sie einmal werden wird?

Ein Zufall! Die Mutter hat gerade ein Buch gelesen, einen sehr traurigen Roman mit dem Titel „Sonja mit den schwarzen Haaren" und hat gesagt: Wenn es ein Mädchen wird, soll das Kind Sonja heißen! Der Beamte auf dem Standesamt in Eichwalde ist nicht dafür. Er meint, Sonja sei doch ein russischer Name! Er holt ein dickes Buch aus dem Schrank und blättert eifrig darin, schlägt einen germanischen Namen vor. „Wie wäre es mit Ursula? Mit Erika? Mit Barbara?" Es bleibt bei Sonja.
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Sonja tanzt gerne

Den Eltern fällt bald auf, daß das Kind sehr musikalisch ist und zu jeder Musik, die es hört, tanzt. Sonja ist auch zweifellos ungemein graziös. Die Eltern stecken die Vierjährige in eine Ballettschule.

Die Lehrerin äußert sich begeistert: „Aus der wird was!" Sie studiert eine Nummer mit ihr ein, die sie „Mädle aus dem schwarzen Wald" nennt. Diese Nummer darf Sonja bei Vereinsveranstaltungen in der Umgegend tanzen, wenn die polizeiliche Genehmigung rechtzeitig eintrifft. Rund zwanzig Jahre später soll ihr Durchbruch mit einem Film „Schwarzwaldmädel" erfolgen.

Die Familie ist nicht arm, aber auch nicht reich. Vater Ziemann muß Überstunden machen, damit sein Sohn Werner Mathematik studieren und Sonja, genannt Sonnie, Ballettstunden nehmen kann.

Schon ahnt er in ihr eine zweite Shirley Temple. Zehnjährig tanzt Sonnie auch eine Shirley Temple-Parodie, kommt zu der großen Tänzerin Tatjana Gsovsky, besteht mit fünfzehn Jahren ihre staatliche Abschlußprüfung mit „sehr gut".
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Nun kann sie auftreten.

Nun kann sie Geld verdienen. Ein Engagement am Variete Plaza. Premiere: i. August 1941. Vor wenigen Wochen hat Hitler der Sowjetunion den Krieg erklärt. Auf der Bühne steht Sonja Ziemann mit einer kleinen Solonummer in dem Bild „Ein Sommerabend in der Puszta". Sie hat Erfolg. Auf der Bühne - und auch sonst.

Sie ist ja ungemein reizvoll, diese kleine Person mit dem Wuschelkopf, den Grübchen und den großen blauen Augen. Die ersten Bewerber stellen sich ein. Der Vater wird besorgt. Jeden Abend erscheint er am Bühneneingang der Plaza, um seine Tochter abzuholen.

  • Anmerkung : Wie unsere Berliner Oma uns Enkelkindern erzählt hatte, ist unser Berliner Opa Schandel in den Jahren um 1936 auch fast jeden Tag seiner bei der UFA arbeitenden 19-jährigen Tocher Valeria (unserer Mutter) zum S-Bahnhof entgegen gegangen, damit die interessierten "Bewerber" sofort sahen, da paßt einer auf.

 
Das wäre gar nicht notwendig, denn Sonja Ziemann - und dies ist vermutlich für ihr ganzes Leben entscheidend - hat nur ein Interesse, hat nur einen Gedanken: Sie will etwas werden!
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Die Voraussetzung jedes Erfolges ist der Schweiß

Und obwohl sie noch so jung ist und ihr die ersten Erfolge in den Schoß fielen, ohne daß sie sehr viel dazu tun mußte, weiß sie, was eben nur wirkliche Künstler wissen: daß die Voraussetzung jedes Erfolges Schweiß ist.

Daß gerade die Leichtigkeit, die Schwerelosigkeit, das, was dem großen Publikum wie selbstverständlich erscheint, durch immer neues, immer härteres Training erkauft werden muß.

Sie ist im Grunde genommen genau das Gegenteil von dem, das das Publikum in ihr zu sehen glaubt. Die Leute äußern entzückt, wie „süß", wie „niedlich" sie sei. Im Grunde genommen ist dieses sehr junge Mädchen sehr hart mit sich selbst. Sie kennt nichts als Arbeit. Die Kolleginnen verstehen das nicht. Warum geht sie niemals mit einem netten Jungen aus? Warum gönnt sie sich nichts? Und trotzdem ist sie immer guter Laune!
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Ich habe meine Eltern und eine glückliche Familie

Sonnie ist erstaunt: „Das Leben macht doch Spaß! Ich habe meine Eltern. Wir sind eine glückliche Familie, und wenn ich es noch zu etwas bringe - Sie glaubt an sich selbst. Auch andere glauben an sie. Vor allem die Eltern. Und dann der schon alte Paul Lincke, den sie in der Plaza trifft. Sie bittet ihn um ein Autogramm.

Er schreibt ihr auf seine Photographie:
„Ich wünsche Dir und tu es gern
 daß Du wirst ein großer Bühnenstern!
Und daß Du einmal wirst berühmt
Wie sich's führ eine Ziemann ziemt!"
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Der erste Film mit Sonja Ziemann „süß" und „niedlich"

Um diese Zeit dreht Sonja Ziemann schon ihren ersten Film. Nein, es sind keine welterschütternden Werke, die da unter ihrer Mitwirkung entstehen. Sie selbst wird sich zehn Jahre später kaum noch der Titel ihrer Filme entsinnen.

Sie heißen: „Lux", „Freunde", „Geliebter Schatz" und „Eine reizende Familie". Die Filmregisseure setzen Sonnie genauso ein wie das große Publikum sie sieht. Sie ist immer „süß", sie ist immer „niedlich". Wesentliche Rollen spielt sie nicht.

Es sind immer nur Episoden: kleine Mädchen, die über die Leinwand huschen und verschwinden, sobald die berühmten Stars sich dort breitmachen. Aber es kann kein Zweifel sein: Selbst die wenigen Minuten, die Sonja Ziemann auf der Leinwand zu sehen ist, genügen, damit das Publikum sich ihrer später erinnert. Man will sie immer wieder sehen.
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Und dann ist der 2. Weltkrieg endlich zu Ende.

Und es gibt überhaupt keinen Film mehr. Sie sitzt mit ihren Eltern in Eichwalde. Mit dem Fahrrad fährt sie in die nahegelegenen Ortschaften, singt und tanzt, um ein paar Eier, ein bißchen Butter, ein paar Kohlen heranzuschaffen.
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Sie kommt nach Berlin zurück, dort ist sie ja schon bekannt. Sie tritt im Kabarett auf, dann in dem Theaterstück „Sophienlund" mit Olga Tschechowa, dann in einer Operette in Pankow. Sie gefällt dem Publikum besser denn je.

Ja, diesen Typ braucht man jetzt in den schweren, grauen Zeiten! Man will ein junges Ding sehen, das immer gut gelaunt ist, immer lustig. Sonja Ziemann bedeutet: Eine halbe Stunde vergessen, wie es in Wirklichkeit aussieht, eine halbe Stunde vergessen, daß man friert, hungert, nicht weiß, ob man morgen oder übermorgen noch lebt.

Da kommt das Angebot einer Filmrolle: sie soll in „Sag' die Wahrheit" spielen. Sie ist bereit dazu, aber sie will das Theater - sie spielt gerade am Nollendorfplatz - nicht aufgeben. Weiß man denn, ob der Film je zu Ende gedreht werden wird?

Sie tritt also allabendlich im Theater am Nollendorfplatz (dem heutigen Metropol) auf, dann - kaum abgeschminkt - fährt sie ins Atelier, dreht die ganze Nacht durch bis sechs Uhr morgens - in dieser Zeit wird nachts gedreht, denn tagsüber gibt es nicht genug Strom. Drei oder vier Stunden Schlaf; sie fährt auf die Probe, spielt, filmt.
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