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"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.

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DRITTER TEIL • HUNGER

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HAT DIE DEFA GELD?

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Die Gerüchteküche über die DEFA brodelt ......

Um die kommerziellen Belange der DEFA kursieren seltsame Gerüchte. Die DEFA soll angeblich bereits sechzehn Millionen Reichsmark verbuttert haben ...

Stimmt das? Stimmt das nicht? Lindemann denkt gar nicht daran, die absurde Angelegenheit mit den sechzehn Millionen zu dementieren, folgert vielmehr, ein Unternehmen, von dem man erzählt, es habe so viel Geld verloren, müsse für sehr reich gehalten werden und werde also über schier unbegrenzten Kredit verfügen.

Nun, das stellt sich als ein Irrtum heraus. Die DEFA hätte noch andere Verdienstmöglichkeiten. Sie könnte nicht nur Geld verdienen. Sie könnte sich gleichzeitig moralische Verdienste erwerben.

Da kam nämlich ein Herr Lazarus Wechsler aus der Schweiz

Und das hängt wie folgt zusammen: Eines Tages, im Februar 1946, läßt sich ein gewisser Lazarus Wechsler bei der Direktion der DEFA melden. Herr Wechsler ist Filmproduzent in der Schweiz, Direktor der "PRAESENS Film AG" in Zürich, die in den Kriegsjahren einige erstaunlich gute Filme gemacht hat, die sogar nach Amerika verkauft wurden.

Wechsler ist nach Berlin gekommen, um ein sehr interessantes Angebot zu machen.

Der gesamte Ertrag für die DEFA und die Verfolgten .....

Er sagt: „Wir haben in den letzten Jahren einige Filme in der Schweiz produziert, die für Sie von Interesse sein könnten. Erst vor wenigen Monaten ist 'Die letzte Chance' herausgekommen. Wir werden Ihnen diesen Film und noch einige andere zur Verfügung stellen. Wir werden kein Geld dafür verlangen. Was eingespielt wird, soll dazu verwandt werden, den Verfolgten des Naziregimes zu helfen!"

Die DEFA führt dann 'Die letzte Chance' doch nicht auf. Die Russen sind dagegen. Und das ist sehr seltsam. Denn eigentlich müßte dieser Schweizer Film überall in Deutschland gezeigt werden.

Er ist ja ein Protest gegen den Krieg, ein Protest gegen all das Furchtbare, was sich im Dritten Reich ereignet hat, gegen alles, wogegen die Russen gekämpft haben.
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Im Gegenteil, die Amerikaner sagen ja zu dem Film

Wechsler hat sich inzwischen an die Amerikaner und die Engländer gewandt. Seine Bedingungen sind die gleichen geblieben: keinen Pfennig für die Schweizer Firma, alles für die Verfolgten, für die Flüchtlinge, für die ehemaligen Konzentrationslager-Insassen.

Die Amerikaner und die Engländer sagen sofort zu, nachdem sie den Film gesehen haben. Der ist nach ihrer Ansicht in diesem Augenblick gerade das Richtige für Deutschland.

Und es scheint ihnen viel besser, daß er aus der neutralen Schweiz kommt, als daß er von den Engländern oder Amerikanern geliefert würde, die für viele Deutsche ja noch immer 'Feinde' sind.

Worum handelt es sich in diesm Film 'Die letzte Chance' ?

Der Film, von Richard Schweizer geschrieben, geht auf zwei persönliche Erlebnisse des Dichters zurück. Ein befreundeter Arzt in Zürich wurde eines Tages nach Splügen zu einer Patientin geholt, einer alten Frau, die mit aufgeschundenen Beinen im Bett lag.

Die Wunden waren schrecklich. Der Arzt wollte wissen, wie so etwas geschehen konnte ...

Die Patientin, eine deutsche Jüdin, erzählt .....

....., daß sie in den dreißiger Jahren mit ihrem Sohn nach Italien geflüchtet sei und dort jahrelang gelebt habe. Dann, als Hitler von Mussolini die Durchführung judenfeindlicher Gesetze verlangte, die bisher in Italien nur dem Namen nach existiert hatten, mußte sie wieder fliehen.

Ihrem Sohn gelang es, nach Südamerika zu entkommen. Sie selbst hatte auch die Papiere zur Einreise - aber die lagen in Zürich. Und die italienischen Behörden weigerten sich, ihr ein Ausreisevisum in die Schweiz zu gewähren. Ein Katze-und-Maus-Spiel mit der alten Frau begann. Sie beschloß in ihrer Verzweiflung, schwarz über die Grenze zu fliehen. Sie wanderte - meist nachts - zum Splügen-Paß hinauf, kam höher und höher, war bald mitten im Schnee.

Dabei trug sie, da sie ja kein Aufsehen erregen durfte - ganz gewöhnliche Kleidung und Schuhe. Auf der Paßhöhe war der Schnee verharscht. Immer wieder sank die Frau ein, und die scharfen Eisplatten schnitten ihr die Beine bis zu den Knien auf.

Plötzlich erschien ein Grenzsoldat. Sie dachte: Vielleicht hat er ein menschliches Herz! und vertraute sich ihm an. „Lassen Sie mich doch in die Schweiz durchschlüpfen!"

Der Soldat lachte. Denn sie befand sich bereits auf Schweizer Boden, er selbst war Schweizer! Er trug sie huckepack ins Tal hinunter.
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Ein zweites Erlebnis von Frau Schweizer :

Frau Schweizer fährt von Zürich nach St. Moritz. Im Abteil ihr gegenüber sitzt ein junger Mann, rothaarig, offenbar ein Engländer. Man kommt ins Gespräch. Frau Schweizer bietet dem Engländer eine Zigarette an und nimmt sich selbst eine.

Der Engländer bedauert, ihr kein Feuer geben zu können. Frau Schweizer erwidert, sie besitze selbst ein Feuerzeug. Der Engländer: „Es handelt sich nicht um ein Feuerzeug! Es handelt sich um meine Hände. Die sind nämlich erfroren!"

Und dann erzählt er, wie er bei einem furchtbaren Sturm über die italienische Grenze in die Schweiz flüchtete, durch Schnee und Eis, über Pässe und Bergesgipfel ...
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Eine außerordentliche Geschichte mitten im Krieg

Noch außerordentlicher vielleicht, daß der Produzent Wechsler, Richard Schweizer und der junge Regisseur Leopold Lindtberg vom Schauspielhaus Zürich - ein Österreicher übrigens, der am Berliner Staatstheater arbeitete und 1933 emigrierte - es wagen, ein solches Unternehmen inmitten des Krieges in der Schweiz zu starten.

Als der Film begonnen wird, besteht nicht die geringste Aussicht, ihn außerhalb der Schweiz zu zeigen. In Europa herrscht ja Hitler, herrschen diejenigen, die der Film anprangert ...

Also muß der Film billig werden. Es spielen denn auch nur wenige Schauspieler mit, von bekannten eigentlich nur Therese Giehse und Hermann Wlach vom Zürcher Schauspielhaus, sonst Laien.

Der englische Leutnant ist wirklich ein in der Schweiz internierter englischer Leutnant, der tatsächlich aus einem Lager entwichen ist. Ein jüdischer Emigrant wird von einem wirklichen Emigranten gespielt, von einem Zürcher Schneidermeister namens Schachnowski. Der Amerikaner ist ein amerikanischer Flieger, ebenfalls in der Schweiz interniert. Kurz, nicht nur die Story, auch die Akteure sind vom Leben geformt.
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Eine Dreherlaubnis für Schweizer in der Schweiz - schwierig ??

Es ist nicht ganz einfach, Dreherlaubnis für den Film zu erhalten. Noch ist Krieg. Niemand kann wissen, wie lange er dauern wird. In Bern muß man auf Deutschland gewisse Rücksichten nehmen. Schließlich kann Hitler jeden Tag in die Schweiz einmarschieren.

Die Aufnahmen müssen im Tessin stattfinden, nahe der Schweizer Grenze. Aber das ist militärisch besetztes Grenzgebiet, dort gibt es überall Bunker, Stacheldrahtverhaue, denen sich kein Unberufener nähern darf. Bern sagt nein.
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„Wo steht eigentlich etwas von Vorzensur in unserer (Eidgenössischen Schweizer) Verfassung?"

Schließlich schaltet sich der bekannte Großindustrielle Dr. Walter Boveri ein, der den Film mit finanziert hat. Der will wissen: „Wo steht eigentlich etwas von Vorzensur in unserer Verfassung?" Darauf gibt es keine Antwort.

Es darf also im Tessin gedreht werden. Aber selbst nachdem der Film fertiggestellt ist - der Krieg neigt sich nun schon seinem Ende zu - hat man in Bern noch allerlei auszusetzen.

Der Film sei zu negativ, wird den Produzenten bedeutet. „Die Zeit ist zu negativ!" antwortet Schweizer. Die Zensur streicht kein Wort. Die Zürcher Premiere findet am sogenannten VE-Tag statt, dem Tag des Alliierten Sieges in Europa, Anfang Mai 1945. Im Vorprogramm laufen Ausschnitte aus dem Film 'Die Todesmühlen', einem Dokumentarfilm über das Konzentrationslager Buchenwald.
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Ende März 1946 im Luitpold-Theater in München

Im Luitpold-Theater, das zwischen zerbombten Häusern mitten im zerstörten München heil geblieben ist - das Kino selbst ist nur denen erreichbar, die über Schutt und Trümmer steigen - kommt der Film Ende März heraus.

Die Menschen starren noch lange nach der letzten Abblende auf die Leinwand. Niemandem kommt es in den Sinn zu klatschen. Überall in Deutschland, wo der Film hinkommt - der übrigens bald darauf viele Preise erhalten wird, darunter den Großen Preis der Union Internationale des Intellectuels in Frankreich - und in England, Amerika, Schweden, Italien: die gleiche Wirkung.
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Die Menschen schweigen und weinen.

Die meisten deutschen Zuschauer haben ja nicht einmal gewußt, daß sich solche Dinge abspielten, und erfahren es jetzt zum ersten Male. Sie schämen sich, obwohl sie ja nichts dafür konnten.

Dazwischen auch seltsame, fast zynisch anmutende Urteile wie: „Das ist ein furchtbarer Film! Jetzt wird die ganze Welt erfahren, daß wir auf Unschuldige geschossen haben!"

Als ob es darauf ankäme, was die Welt erfährt, und nicht darauf, ob Unschuldige getötet wurden ..........
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Ein Film nicht "in"7 Sprachen sondern mit 7 Sprachen

Was viele Deutsche am tiefsten beeindruckt: Dies ist ein Film, in dem sieben Sprachen gesprochen werden - und man versteht doch jedes Wort, auch ohne Untertitel. Und die Menschen auf der Leinwand verstehen einander.

Die Menschen sind einander doch näher, als man geglaubt hat, gleichgültig, welcher Nationalität sie sind, gleichgültig, wo sie leben, wer sie regiert. Sie haben im Grunde genommen immer das gleiche Gesicht, sie haben die gleichen Wünsche, Hoffnungen ... sie wollen alle den Frieden.
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In Ostberlin und der Ostzone darf der Film nicht gezeigt werden

Nur in Ostberlin, nur in der Ostzone wird der Film nicht gezeigt, darf er nicht gezeigt werden. Eine offizielle Erklärung für die Unterdrückung dieses Werkes, das eigentlich jeder Deutsche gesehen haben müßte - und das auch fast jeder in Deutschland sieht - wird nicht erteilt.

Inoffiziell erzählen die Männer der DEFA, die Sowexport habe schuld an der Unterdrückung des Films; sie sei aus rein kommerziellen, nicht politischen Gründen erfolgt.
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Wer ist nun eigentlich die DEFA - nur eine Marionete ?

Aus kommerziellen Gründen ... Es mehren sich die Fragen neugieriger Reporter, wer nun eigentlich die DEFA sei? Wer steht hinter der DEFA? „Was ist eigentlich die DEFA? Eine Aktiengesellschaft? Eine GmbH?"

Die Antwort Lindemanns ist vage: „Unsere Firma ist in Potsdam eingetragen!" Achtundvierzig Stunden später wissen die Reporter: Die DEFA ist überhaupt nirgends eingetragen. Sie besitzt nicht einmal eine Lizenz. Daran ist - angeblich - wieder einmal die Sowexport schuld. Sie hat wieder einmal intrigiert.

Jedenfalls stellen die Männer der DEFA fest: So geht es nicht weiter! Die Russen müssen endlich eine Lizenz erteilen. Sonst verliert die DEFA ihr Gesicht. Der sowjetische Kulturoffizier, Major Dymschitz, stimmt auch zu. Natürlich soll eine Lizenz erteilt werden!
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17. Mai 1946 - der Gründungstag der DEFA

Der 17. Mai 1946 wird zum offiziellen Gründungstag der DEFA bestimmt. Die Sache soll 'ganz groß' aufgezogen werden ...

Schon, damit niemand auf falsche Ideen komme. Oder vielleicht auf die richtige, nämlich, wie merkwürdig es ist, daß eine Firma, die bereits seit Monaten arbeitet, erst jetzt lizenziert werden soll. In der DEFA wird heftig beraten. Man will eine Aktiengesellschaft gründen und prominente Personen an die Spitze des Unternehmens stellen.

Der greise Schauspieler Paul Wegener soll Vorsitzender des Aufsichtsrats werden. Der Regisseur Gerhard Lamprecht soll den Nachwuchs betreuen. Unter den Autoren, die man fest verpflichten will, werden Hans Fallada, Erich Kästner und Frank Thiess genannt. Aber schon bald werden alle diese Männer abgesagt haben, und die Kommunisten werden unter sich sein ...
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Ein populistisches Gründungsfest mitten im Hunger

Im Augenblick ist das alles gar nicht so wichtig. Im Augenblick ist für die DEFA nur wichtig, den 17. Mai 1946 ganz groß aufzuziehen, ein Fest zu arrangieren, von dem man noch lange sprechen soll. Pompöse Einladungskarten werden gedruckt.

Die entscheidende Frage ist: Wie wird man die Gäste verpflegen ? Denn um diese Zeit ist nichts für die Menschen so wichtig wie: sich sattessen zu können. Alle werden kommen, wenn man ihnen etwas zu essen geben kann.

Sonst .... Die Rote Armee in Potsdam erklärt sich bereit, Butter, Wurst, Käse und Bockwürste zu stiften. Das heißt, diese Lebensmittel werden natürlich 'organisiert', sie kommen nicht etwa aus der Sowjetunion, sondern aus der deutschen Ostzone.
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Eine Bockwurst und vier belegte Brote für jeden

Immerhin, jeder Gast wird eine Bockwurst und vier belegte Brote verspeisen dürfen. Die Firma Garbaty schenkt der DEFA zwanzigtausend Zigaretten. Sensation! Eine "Firma" in Weißensee stiftet Schnaps in rauhen Mengen! Noch eine Sensation!

Aber wie werden die Leute nach Babelsberg kommen? Lindemann hat fünf Autobusse organisiert, die an fünf verschiedenen Stellen der Stadt Berlin warten, um die Gäste hinauszutransportieren. Um drei Uhr nachmittags soll der erste Autobus starten.

17. Mai 1946, drei Uhr nachmittags: in Babelsberg ist alles bereit. Werden die Gäste auch kommen? Oder wird die ganze Sache eine Pleite? Wenn jetzt noch das geringste schiefgeht, dann ist die DEFA für immer erledigt.
Eine telephonische Verbindung zwischen Berlin und Babelsberg gibt es nicht.

Übrigens - wer in der Ostzone besitzt schon ein Telephon? Aber Lindemann hat an alles gedacht. Motorradfahrer sind an strategischen Stellen postiert und bringen ihm von Zeit zu Zeit die neuesten Nachrichten nach Babelsberg hinaus.
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Was Lindemann hört, übertrifft seine kühnsten Erwartungen.

Die Busse werden gestürmt. Alle Prominenten haben sich eingestellt und darüber hinaus noch einige nicht so Prominente, die nicht eingeladen waren. Die Busse setzen sich in Bewegung. Schon rollt der erste in Babelsberg an. Die deutsche Film- und Theaterprominenz steigt aus. Die Herren und Damen sind festlich gekleidet.

Nicht nur die deutsche Film- und Theaterprominenz sowie die sowjetische Militärprominenz ist anwesend, auch die Spitzen der Behörden, die amerikanischen, britischen und französischen Filmoffiziere.

 Es sind Photographen da, Reporter und Rundfunkreporter, um das Ereignis in Wort und Bild festzuhalten. Man sieht unter anderem Winnie Markus und Ernst Legal, Friedel Schuster und Paul Kiinger, Hans Söhnker und Hildegard Knef ...
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Oberst Tulpanow, Diktator für alles .... hält die Rede

Oberst Tulpanow, Diktator für alles, was mit Theater, Film, Presse oder Rundfunk in der Ostzone zu tun hat, sehr intelligent, vielleicht mehr gerissen als intelligent, von etwas gelblicher Gesichtsfarbe - denn er leidet an Gallensteinen und ist auch der einzige Festteilnehmer, der heute abend nichts zu sich nimmt - überreicht die Lizenz der DEFA mit den Worten :

„Die Filmgesellschaft DEFA hat den Kampf für den demokratischen Aufbau Deutschlands und die Ausrottung der Reste des Nazismus und Militarismus aus dem Gewissen eines jeden Deutschen zu unterstützen. Sie muß um die Erziehung des deutschen Volkes, insbesondere der Jugend, ringen im Sinne der echten Demokratie und Humanität um so Achtung zu wecken für andere Völker und Länder!"
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Niemand lacht. Niemand würde es wagen.

Man erfährt dann noch, daß die DEFA ein wirklich großes Programm hat. 1946 sollen nicht weniger als sechzehn Spielfilme gedreht werden. 1947 verspricht die DEFA, „mindestens zwanzig Spielfilme, sechzig Kulturfilme, zweiundfünfzig Wochenschauen und vierzig bis fünfzig politische Propaganda-Kurz-Filme herzustellen".

Dieses Programm wird allerdings nicht ganz realisiert werden, nicht einmal zur Hälfte, nicht einmal zum vierten Teil ... Aber das wissen sie noch nicht, die das Althoff-Atelier in Babelsberg am 17. Mai füllen; die immer besserer Laune werden, da der aus Weißensee stammende Schnaps zumindest quantitativ alles in letzter Zeit Dagewesene in den Schatten stellt.

Wie rosig sieht sich das Leben an, wenn man sich endlich wieder einmal sattessen darf, endlich einmal wieder rauchen kann, und wenn das Glas nie leer wird.
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Und dann nach dem Fest .....

Kurz nach dem Fest in Babelsberg, das fast sechzigtausend Reichsmark gekostet hat, wendet sich die DEFA mit einem Hilfeschrei an die Russen. Sie braucht Geld. Das wäre an sich nicht einmal etwas besonders Erstaunliches.

Seit es einen Film gibt, brauchen Filmgesellschaften Geld. Aber, wie bereits erwähnt, es wird in gut informierten Kreisen gemunkelt, die DEFA gebe viel zuviel Geld aus.

Bösartige Mäuler behaupten sogar, es gäbe am Dönhoffplatz überhaupt nur „Direktoren und Botenjungen - und zwar mehr Direktoren als Botenjungen!" Das dürfte nicht ganz stimmen, denn es gibt sehr viele Botenjungen!
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Heute würde man das "kreative Buchhaltung" nennen

Die Buchhaltung freilich ist ein bißchen verwirrend. Da gibt es zum Beispiel drei Kulturfilme, die im Auftrage der Russen gedreht worden sind. Die Unkosten sind ordnungsgemäß verbucht. Von den Einnahmen aber findet man keine Spur.

Desgleichen herrscht eine gewisse Konfusion in der Abteilung „Produktion". Ursprünglich sollten sechzehn Filme im ersten Jahr gedreht werden. Acht Filme wurden davon vorbereitet, fünf gehen wirklich ins Atelier, aber die meisten werden erst Mitte oder Ende des zweiten Jahres fertig.

Das alles ist beunruhigend. Was hilft es, daß in den Büros und den Ateliers dauernd neue Kräfte engagiert werden, wobei diejenigen, die es wissen müssen, behaupten, daß dreißig Prozent mehr Personal da ist, als überhaupt beschäftigt werden kann.

Sollte auch da wieder die Sowexport ihre Finger im Spiel haben? Was ist nun die Sowexport eigentlich? Konkurrenz oder Inhaberin der Majorität der DEFA-Aktien?
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Die Stars, die Regisseure, die Kameramänner hungern .....

Der Film hungert. Die Stars, die Regisseure, die Kameramänner hungern - von den Statisten ganz zu schweigen, von den Beleuchtern und den Maskenbildnern, den Bühnenarbeitern und den Tontechnikern. Film bedeutete einmal für die Großen nicht nur Ruhm, sondern auch Luxus.

Wo wurden solche Gagen gezahlt wie im Film? Wer fuhr so teure Wagen wie die Filmstars? Wer bewohnte die Luxushotels? Wer baute sich schloßartige Villen? Vorbei ... Vorbei ...
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Der Film hungert.

Jeder kleine Schieber auf dem Schwarzmarkt, jeder, der irgend etwas besitzt, womit er handeln kann, etwas zum Verkaufen oder besser zum Vertauschen, Holz oder Holzwolle, Papier oder Pappe, kann sich sattessen.

Der Film aber hungert. Auch die wenigen hungern, die bereits wieder tätig sind. Da ist zum Beispiel der Regisseur Gerhard Lamprecht, schon in normalen Zeiten kein besonders kräftiger, geschweige denn wohlbeleibter Mann.

Er muß vierzehn Stunden arbeiten und bekommt dafür nicht einmal die Lebensmittelkarte I, wie sie jedem Schwerarbeiter zusteht. Das gleiche gilt von seinen Mitarbeitern und vor allem von den Schauspielern.

Da beschließt Lamprecht, in Streik zu treten. Zwei Wochen nach dem Fest in Babelsberg schreibt er der DEFA einen Brief, der in jeder Hinsicht als wahrhaft erschütterndes Dokument gelten darf :

Lamprecht schreibt eine langen Brief :

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  • „Trotz der Bescheinigung der DEFA, daß mir gemäß Umfang und Verantwortung meiner Tätigkeit die Lebensmittelkarte I zusteht, hat die Kartenstelle 12 in Friedenau erklärt, sie könne mir nur die Karte II zubilligen. Man hat dort den Vorschlag gemacht, die DEFA solle ein Schreiben an die Kartenstelle richten, in dem nicht nur aufs genaueste die Art meiner Tätigkeit, tägliche Arbeitszeit, körperliche Beanspruchung usw. angeführt werden, sondern in dem auch auf meinen Namen in der Geschichte des deutschen Films und darüber hinaus meinen Anteil am Neuaufbau einer Produktion hingewiesen wird.
  • Dieses Schreiben wollte die Kartenstelle dann an das Haupternährungssamt weiterleiten. Wie mir Herr Lindemann sagt, erübrigt sich dieser ganze Vorgang, denn er kenne jetzt aus wochenlanger Erfahrung und aus Verhandlungen der DEFA mit dem Haupternährungsamt, daß man dort auf dem Standpunkt steht, mir stehe eine Karte I nicht zu.
  • Es ist nicht der Sinn dieser Zeilen, hier die außergewöhnliche, nicht nur geistig schöpferische, sondern auch im stärksten Maße körperliche Beanspruchung durch meinen Beruf darzulegen; Tatsache ist, daß ich nicht imstande bin, auf der Basis dieser unverständlichen Einstufung meine Arbeit durchzuführen.
  • Es soll ja nicht der Sinn sein, daß man gezwungen ist, sich Lebensmittel auf dem Schwarzen Markt zu verschaffen, wozu mir übrigens auch die Mittel fehlen würden. Als Folge schwerster Unterernährung hat sich eine Herzschwäche eingestellt, die zur Zeit nur durch eine Strophantin-Injektion einigermaßen gelindert werden kann.
  • Ich sehe mich gezwungen, trotzdem ein solcher Schritt meiner grundsätzlichen Arbeitsauffassung widerspricht, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und bitte Sie, davon Kenntnis zu nehmen, daß ich meine Tätigkeit so lange aussetze, bis durch eine neue Oberprüfung und Entscheidung die Einstufung korrigiert ist ..."

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Ruhm allein macht nicht satt, auch nicht im Kommunismus.

Übrigens steht Lamprecht mit seinem Protest keineswegs allein auf weiter Flur. Auch Boleslav Barlog ist über die Ernährung der Schauspieler empört. Nach einer Premiere im Steglitzer Schloßpark-Theater (das liegt in West-Berlin) tritt er an die Rampe und bittet sein Publikum, gegen die ungerechte Einstufung von Künstlern Einspruch zu erheben.

Warum sollen sich gerade Schauspieler nicht satt essen dürfen? Warum sollen gerade sie vor Hunger zusammenbrechen? Zum ersten Male erweist sich die Wahrheit eines alten Sprichworts auf geradezu tragische Art: Ruhm allein macht nicht satt.
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Die einzige Ausnahme bildet - Veit Harlan.

Seine Frau, eine Schwedin, ist vom schwedischen Roten Kreuz ausersehen worden, Nahrungsmittel an die Hungernden Hamburgs zu verteilen. Das Leben ist voll von Ironien!
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Anmerkung : Veit Harlan war nationalsozialist.
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Gerhard Lamprecht gehört zu den Leuten der ersten Stunde .......

......, die sich gemeldet haben, als das „Filmaktiv" in den alten Räumen der UFA gegründet wurde. Um diese Zeit - knapp ein halbes Jahr nach Kriegsende - war sein erster Film im Rohentwurf bereits fertig.

Er hatte ihn zu schreiben begonnen, eine Stunde nachdem die Russen die Straße genommen hatten, wo sich seine Wohnung befand. Ja, es war genau eine Stunde nachher, daß er den Keller verließ, um sich an den Schreibtisch zu setzen. Lamprecht ging also in das zerbombte Haus am Dönhoffplatz und schlug Lindemann und Maetzig einen Filmstoff vor.

Und Lamprecht hat es eilig mit seinem ersten Film .....

Es ist kalt, denn die Fenster haben kaum noch Scheiben. Die Gardinen aus Pappe lassen die Kälte herein. Die Pappgardinen sind übrigens mit Languetten (das sind Rollstempel) verziert, was den erschöpften Lamprecht fast zu Tränen rührt.

Noch mehr rührt ihn oder zumindest erfreut ihn, daß während der Unterhaltung echter Tee serviert wird. Jawohl, echter russischer Tee ...

Warum hat Lamprecht es so eilig mit seinem ersten Film? Er setzt den Männern des Filmaktivs auseinander, es müsse unbedingt verhindert werden, daß die für den Film unersetzlichen Facharbeiter aus Berlin abwandern.
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Wenn die Film-Facharbeiter erstmal aus Berlin weg sind ....

Denn: wenn die erst einmal weg sind, wird es unmöglich werden, in Berlin Filme zu machen! Schauspieler findet man immer. Regisseure auch. Aber die Beleuchter, Bühnenarbeiter, Maskenbildner ... Das ist eine andere Sache!

Der Film, den Lamprecht vorschlägt, heißt „Knoppooge". Es handelt sich um die dunklen Augen eines kleinen Berliner Jungen. Der Titel, nur den Berlinern verständlich, wird abgelehnt. Die Geschichte wird akzeptiert. Der neue Titel heißt: „Irgendwo in Berlin ..."

Ein Zeitfllm also. Aber dieses Mal werden die Probleme nicht so wie bei Staudte in ihrer ganzen Härte und Trostlosigkeit gesehen, sondern verniedlicht. Wenn es um die Kinder allein ginge, würde ein herrlicher Film dabei herauskommen. Aber leider wird versucht, ganz Berlin in diesem Film unterbringen.

Der verbitterte Heimkehrer muß dabei sein, die vereinsamte Frau soll mittun, ein alter weiser Maler darf nicht fehlen, auch nicht ein ernster Kriminalbeamter oder ein böser Schwarzhändler ...
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Dieser Film wird dann überladen werden .....

Es ist zu viel. Man glaubt nichts mehr. Ja, wenn es sich nur um Kinder handeln würde! Denn Gerhard Lamprecht ist ein herrlicher Regisseur für Kinder. Das hat er schon in „Emil und die Detektive" bewiesen.

Auch diesmal ist seine Hauptsorge, gute Kinderdarsteller zu finden. Er geht durch die Straßen auf der Suche nach seinen kleinen Helden. Er geht in Familien, die Kinder haben.

Seinen Hauptdarsteller, einen kleinen elfjährigen Jungen, der erstaunlicherweise Charles Knetschke heißt, erblickt er in der Straßenbahn, spricht ihn an und bestellt ihn in die DEFA. Unzählige Kilometer läuft oder fährt Lamprecht - er läuft mehr als er fährt - quer durch Berlin, um irgendwo in Berlin seine Schauspieler zu finden.
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Nach Charles Knetschke kommen Gisela Trowe und Eva-Ingeborg Scholz, Paul Bildt, Fritz Rasp und Hans Leibelt

Irgendwo findet er die junge Schauspielerin Gisela Trowe und die blutjunge, sehr hübsche Eva-Ingeborg Scholz, die die DEFA gleich auf drei Jahre engagiert und erst einmal zur Schauspielerin ausbilden läßt.

Irgendwo in Berlin findet er die wenigen Schauspieler, die in der Stadt geblieben sind - denn die meisten hatten sich ja abgesetzt - und engagiert Paul Bildt, Fritz Rasp - den Bösewicht aus „Emil und die Detektive" - und Hans Leibelt.

Irgendwo in Berlin treibt der Architekt Otto Erdmann auch das notwendige Material auf. Es grenzt an Wunder, was er schafft. Und wenn ihn Lamprecht fragt, wo er dies oder jenes wieder her habe, lächelt er nur: „Irgendwo in Berlin ..."
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Der Hunger wird immer schlimmer .......

Lamprecht hat noch gar nicht zu drehen begonnen. Aber der Hunger wird immer schlimmer. Anfang März schreibt Lamprecht in sein Tagebuch: „Hunger!! Hunger!! Hunger!!" Er wiegt noch sechsundneunzig Pfund.

Mehrmals bricht er bei der Arbeit ohnmächtig zusammen. Auch seine Mitarbeiter halten sich nur noch mit Mühe auf den Beinen. Und das alles vor dem ersten Drehtag! Wie soll der Film je zu Ende gedreht werden?

Lamprecht schreibt also jenen Brief, mit dem er gewissermaßen in Streik tritt. Lindemann nimmt den Brief und schickt ihn an Marschall Sokolowski mit der Bitte, zu helfen - nicht nur Lamprecht und seinen Leuten, sondern allen Filmschaffenden. Keine Antwort.

Lamprecht ist viel zu sehr Pflichtmensch, als daß er nun den Film abblasen würde. Während er offiziell in Streik getreten ist, arbeitet er inoffiziell weiter. Schließlich stellt man ihm wenigstens ein Auto zur Verfügung, einen winzigen Tempowagen, so daß er und der Kameramann Krien auf Motivsuche fahren können.

Und ganz plötzlich, eine Szene aus dem realen Leben ....

In Lamprechts Film kommt ein Soldat vor, der nach Kriegsende den Verstand verloren hat. Er tritt in einer Szene in seiner Uniform auf den Balkon der Wohnung seiner Mutter und grüßt die Passanten in strammer Haltung. Lamprecht hat das nicht erfunden. Es handelt sich um ein eigenes Erlebnis aus dem ersten Weltkrieg. Lamprecht und Krien suchen nach einem geeigneten Haus für die Szene.

Endlich glauben sie es gefunden zu haben. Während sie es betrachten, stößt Krien Lamprecht an. „Schauen Sie mal nach links!" Auf den Balkon des alten Hauses ist ein Mann getreten in schäbigen Zivilsachen, einen zerbeulten Stahlheim auf dem Kopf, steht stramm und salutiert.

Die beiden Filmmänner stürzen in die Wohnung. Eine alte Frau kommt ihnen entgegen. Weinend erzählt sie, daß ihr Sohn, mit einer schweren Gehirnverwundung aus dem Krieg zurückgekehrt, seither die Gewohnheit habe, von Zeit zu Zeit auf den Balkon zu treten, stramm zu stehen und die Vorübergehenden zu grüßen.
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Das Leben wiederholt sich - und überbietet die phantastischsten Stories ...

......, die sich ein Filmregisseur ausdenken kann ... Der Film „Irgendwo in Berlin" ist längst abgedreht, als die Russen sich wieder melden. Es ist schon November 1946, man geht in den zweiten, in den schlimmsten Nachkriegswinter.

Lindemann wird in das sowjetische Hauptquartier nach Karlshorst gerufen. Man teilt ihm mit, daß auf Befehl Marschall Sokolowskis die sogenannte Pajok-Aktion eingeleitet worden ist.
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Die sogenannte Pajok-Aktion der Russen

Er erfährt: „Die DEFA wird monatlich fünfundachtzig Pajoks erhalten. (Anmerkung : das ist der Name für die russische Verpflegungsration oder Marschverpflegung der Soldaten).

Die sollen an Regisseure, Schauspieler, Tonmeister, Beleuchter, Bühnenarbeiter verteilt werden. Kurz: Jeder, der etwas mit Film zu tun hat, soll einen Pajok erhalten!"

Ein Pajok ist ein Freßpaket. Es enthält: 6 Pfund Fleisch, 4 Pfund Butter, 4 Pfund Wurst, 10 Pfund Mehl, 200 bis 300 Zigaretten, 4 bis 5 Gläser eingemachtes Obst, Bonbons.

Pajok ist nicht irgendein Freßpaket. Pajok ist Manna vom Himmel. Ist der Unterschied zwischen Hunger und Nichthunger.
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Manna vom Himmel

Gewiß, wer Geld hat, könnte sich ein solches Pajokpaket auch auf dem Schwarzen Markt zusammenstellen. Immerhin würde es zwischen dreitausendfünfhundert und sechstausend Reichsmark kosten, also das Doppelte bis Zehnfache von dem, was Schauspieler monatlich verdienen.

Und ein solches Pajokpaket wird Monat für Monat während des nächsten Jahres geliefert. Bald bekommen nicht nur die Künstler der DEFA dieses Paket, sondern auch die Schauspieler und Regisseure des Deutschen Theaters, schließlich sogar auch einige Künstler im westlichen Berlin.

Auf Wochen, ja Monate hinaus bildet das Pajokpaket das Tagesgespräch der Berliner Künstler. Sie bewerten einander nicht mehr nach den letzten Erfolgen oder Mißerfolgen, sondern danach, ob sie ein Pajokpaket bekommen oder nicht.
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Nur der Schauspieler Hans Söhnker lehnt es ab ...

Nur ein einziger lehnt es ab, ein Pajokpaket anzunehmen. Er erklärt: „Ich will lieber hungern, als von den Russen etwas geschenkt bekommen!" Dieser Mann ist der Schauspieler Hans Söhnker.
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