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"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.

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DIE SCHELL

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Sommer 1948 - „Der Engel mit der Posaune"

Im Sommer 1948 ist in Wien und Salzburg der erste große österreichische Nachkriegsfilm gedreht worden „Der Engel mit der Posaune" mit Paula Wessely in der Hauptrolle.

Es handelt sich um eine österreichische Kavalkade, in der unter anderem dargetan wurde, daß der Nationalsozialismus eine rein deutsche Angelegenheit gewesen war und daß die armen Österreicher nicht das Geringste damit zu tun hatten.

Streckenweise also ein geradezu antideutscher Film. Die schlimmsten anti-deutschen Passagen wurden dann herausgenommen, als man den Film später auch in Deutschland herausbrachte - denn man wollte ja Geld mit ihm verdienen.

Sommer 1949 - Jetzt das ganze nochmal - aber in England

Im Sommer 1949 hatte der berühmte Sir Alexander Korda, einst Ungar, jetzt der prominenteste englische Produzent, in seinem Privatvorführraum in London den österreichischen Film „Der Engel mit der Posaune" gesehen.

Er beschloß, diesen Film in England noch einmal zu drehen. Nicht mit der Hauptdarstellerin Paula Wessely, nicht mit irgendeinem österreichischen Schauspieler. Die würde er alle durch Engländer ersetzen.

Nur in einem Falle ist er bereit, eine Ausnahme zu machen. Da ist ein blondes, hübsches Mädchen von einem ganz ungewöhnlichen Zauber. Er hat es noch nie gesehen, weiß nicht einmal, wie es heißt.

Er sagt zu seinem Privatsekretär: „Lassen Sie mal in Wien anfragen, ob diese Österreicherin vielleicht Englisch spricht".

Die Antwort: „Es handelt sich nicht um eine Österreicherin, sondern um eine Schweizerin. Sie spricht perfekt Englisch." „Wir engagieren sie. Am besten, wir geben ihr gleich einen Jahresvertrag ... oder noch besser, wir engagieren sie für sieben Jahre.
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Wie heißt sie eigentlich?" „Maria Schell."

Um diese Zeit kann Maria Schell nicht ein Wort Englisch sprechen. Sie hat, als man sie in Wien fragte, einfach gelogen. Oder vielleicht ist das Wort lügen zu hart.

Denn sie war überzeugt davon, daß sie würde Englisch sprechen können, wenn es erst einmal so weit wäre ... Sie kann es nicht erwarten. Sie kann nicht warten ... So war sie wohl eigentlich immer ... schon als ganz kleines Kind.
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Die Geschichte mit dem „Waldbruder"

Eine der frühesten Erinnerungen:
Maria weilt mit viereinhalb Jahren bei Tante Elise in einem Dorf im Kanton Schwyz zu Besuch. Mit einem Täfelchen, das an einer Halskette befestigt war und auf dem ihr Name und ihr Bestimmungsort standen, ist sie aus Wien gekommen. Dort leben die Eltern - der Vater ist Schweizer, die Mutter Österreicherin.

Sie ist ein wenig traurig, denn sie möchte so gern ein Brüderchen haben. Irgend jemand erzählt ihr, nur der „Waldbruder" könne ihr helfen. Das ist ein alter Mann, der als Eremit im nahen Walde lebt.

Sie pflückt also einen großen Strauß Blumen, geht zu dem Waldbruder und bittet ihn um das Brüderchen. Der alte Mann lächelt und meint, zuerst müßten sie zusammen beten.

Sie gehen also in eine alte Kapelle, deren Fußboden aus Natursteinen besteht, unter denen, wie der Eremit behauptet, die Brüderchen liegen. Aber er könne dem kleinen Mädchen ihr Brüderchen nicht gleich mitgeben. Er würde es nachschicken.

Die Antwort: „Ich bin in drei Wochen wieder in Wien. Das Schicken wird schwierig sein. Und bitte, nur ein Brüderchen! Um Gottes willen kein Schwesterchen!"

Sie fährt also zurück nach Wien - wieder mit dem Täfelchen um den Hals - und findet eine sehr veränderte Mutti vor. Die sagt ihrer Tochter: „Du wirst vielleicht ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen!" Das Mädchen ist keineswegs erstaunt. „Ein Brüderchen natürlich! Ich habe doch die Sache gemacht!"
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Man muß also nur wollen.

Dies ist nicht irgendeine von tausend Anekdoten aus dem Leben eines später berühmten Filmstars. Dies ist eine für die Schell sehr typische Geschichte. Schon als kleines Kind hat sie eben begriffen: Was man stark genug will, das bekommt man auch! Man muß nur wollen.

Sie wächst also in Wien heran bis zum Einmarsch Hitlers. Da nimmt der Vater seine Familie wieder in die Schweiz zurück, und man siedelt sich in Zürich an.

Aber die Wiener Jahre sind nicht ohne Einfluß geblieben. Das Theater hat in dem sehr jungen Mädchen schon seine Spuren hinterlassen. Beide Eltern sind ja dem Theater verhaftet. Die Mutter war früher eine sehr gute Schauspielerin, der Vater schreibt Stücke.

Man verkehrte also mit Schauspielern, ging oft ins Theater, nahm auch die kleine Margarete mit. Ja, sie hieß, wie die Mutter, Margarete - aber alle Welt kennt sie als „Gritli".

Und es ist nur selbstverständlich, daß sie Schauspielerin werden will, obwohl das in der Schweiz wesentlich schwieriger, ja, man möchte fast sagen, ungehörig ist.

Wann sie sich dazu entschlossen hat? „Es war für mich selbstverständlich. Auf einen anderen Gedanken kam ich gar nicht. Es hat mir eigentlich auch niemand abgeraten."
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Irgendeinen Beruf solltest Du schon erlernen ....

Nur meinte der Vater, sie solle irgendeinen Beruf erlernen, damit sie später nicht unbedingt auf die Schauspielerei angewiesen sei.

Sie geht also auf die Handelsschule und bekommt - sie ist noch nicht einmal fünfzehn - das erste Filmangebot. Es handelt sich um den Film „Der Steinbruch", den der aus Deutschland emigrierte UFA-Produzent Günther Stapenhorst machen will.

Ein Schweizer Blut- und Bodenfilm sozusagen. Ein Mann hat von seinem Vater einen Steinbruch geerbt, läßt ihn verkommen, trinkt zu viel, wird bereits im Dorf scheel angesehen und verschwindet eines Tages, ohne das Mädchen zu heiraten, das von ihm ein Kind bekommen hat. Die junge Mutter stirbt.

Ihre Tochter wächst unter Obhut des Gemeindevorstehers auf.
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... und hier beginnt der Film ....

Der Mann kommt dreizehn Jahre später ins Dorf zurück - und hier beginnt der Film. Niemand will etwas mit dem Rückkehrer zu tun haben, denn er hat in Amerika im Gefängnis gesessen - freilich für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat.

Er lebt in dem verlassenen Steinbruch. Niemand kümmert sich um ihn, mit Ausnahme jenes Mädchens, das nicht weiß, daß es sein Vater ist. Er erfährt indessen die Wahrheit; er gibt den Zieheltern recht: es ist besser, er kommt nicht mehr mit dem Kind zusammen.

Aber das Mädel trotzt jedem Verbot, läßt sich nicht wegschicken, obwohl er sehr energisch mit ihm wird. Als die Kleine erfährt, daß es sich um ihren Vater handelt - große Krise! Aber die beiden bleiben schließlich doch zusammen.
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Die erste große Rolle für fünfhundert Franken

Eine ziemlich große Rolle, die Gritli Schell hier zu spielen hat. Sie bekommt dafür fünfhundert Franken. Aber wie spielt sie ihre erste Rolle! Vielleicht kann man von spielen gar nicht sprechen. Sie ist einfach da. Nach Minuten schon hat niemand mehr das Gefühl, daß hier eine Schauspielerin am Werke ist.

Hinzu kommt das entscheidende Talent der Schell. Es ist eigentlich gar kein Talent, einfach etwas, was ihr der liebe Gott mitgegeben hat. Ihr Gesicht ist gewissermaßen durchsichtig.

Man braucht sie bloß anzusehen und spürt, was sie denkt, was sie fühlt, was in ihr vorgeht. Der Film ist ein hübscher Erfolg - freilich nur in der deutschsprachigen Schweiz.

In Deutschland, in Österreich - von Frankreich oder Italien gar nicht zu reden - ahnt man noch nichts von Gritli Schell. Aber die ist schon entschlossen, nicht mehr auf die Handelsschule zu gehen. Sie will keine Stellung als Sekretärin oder Buchhalterin, sie will auf die Schauspielschule.

Die Eltern geben ihr Einverständnis. Aber noch bevor sie die Schauspielschule betritt, bekommt sie ihr erstes Theaterengagement.
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Der ausgezeichnete Schweizer Schauspieler Rudolf Bernhard ....

...., der ein eigenes, nach ihm benanntes Theater in Zürich besitzt - ein Menschengestalter, der sich noch in den albernsten Schwänken durchsetzt, eine Art Schwyzer Max Pallenberg - hat ihren Film gesehen und spürt mit der Nase des geborenen Theatermannes: Da ist etwas!

Er engagiert sie; sie spielt in einem ziemlich dummen Schwank „Drunter und drüber" die Rolle eines Kindes und hat einen durchschlagenden Erfolg. Sie ist selbst erstaunt, wie einfach das ist - mit dem Filmen und jetzt auf der Bühne! Die Worte entströmen ihrem Mund mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als seien es ihre eigenen. Das Stück läuft sechzigmal - ein enormer Erfolg für Zürich, das um diese Zeit knapp dreihunderttausend Einwohner hat.
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Jetzt also eine Hauptrolle .... in „Scampolo"

Infolgedessen bietet ihr Rudolf Bernhard in dem übernächsten Stück die Hauptrolle an. Es ist die italienische Komödie „Scampolo", in der sie eine junge Wäscherin spielen soll.

Auch diese Aufgabe scheint keine Schwierigkeiten zu bereiten. Nicht zuerst. Aber plötzlich, etwa zehn Tage vor der Premiere, wird Gritli Schell geradezu panisch. Sie hat ihren Namen groß auf dem Plakat gesehen. Sie spürt die Verantwortung. Wenn sie versagt, ist alles zu Ende.

Sie grübelt. Was kann sie tun, um nicht zu versagen? Bisher hat sie noch nichts „getan". Jetzt also will sie etwas tun. Sie kann nicht mehr unbewußt fröhlich oder traurig sein. Alles wird bewußt. Hinter allem lauert der Verstand mit der ewigen Frage: Ist es auch richtig so?

Weil sie immer unsicherer wird, verliert sie alles das, was sie schon „gekonnt" hat. Sie wirkt jetzt manchmal wie eine Anfängerin, und nicht einmal eine sehr begabte.

Sie wird von Probe zu Probe schlechter, ja, sie wird geradezu krank. Am liebsten würde sie die Rolle zurückgeben. Aber die Mutter schüttelt den Kopf: „Eine Schauspielerin gibt nicht auf!" Sie gibt also nicht auf. Aber es ist schwer,
unendlich schwer.

Es geht ihr wie dem Tausendfüßler, der von der Fliege gefragt wurde: „Wie kannst du mit deinen tausend Füßen nur gehen?" Bisher hat sich der Tausendfüßler automatisch fortbewegt. Jetzt denkt er nach - und kann keinen Schritt mehr tun!
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Von Zweifeln geplagt - hat sie einen Einfall ....

Gritli hat den Einfall, ihre Rolle zu erarbeiten. Sie spielt in dem Stück eine Wäscherin. Nun gut, sie wird jetzt im realen Leben eine Wäscherin spielen.

Sie besorgt sich einen Wäschekorb, packt ihn voll. Sie zieht in aller Herrgottsfrühe durch die Straßen Zürichs, geht in Häuser, als wolle sie die Wäsche dort abliefern, und kommt schon ziemlich ermattet zu den Proben ins Theater. Sie spürt jetzt schon mehr Boden unter den Füßen.

Aber so gut wie im ersten Stück ist sie in ihrem zweiten nicht. Sie muß eben glauben, was sie sagt, wie die Viereinhalbjährige in Schwyz es tat. Und sie darf sich der Mittel nicht bewußt werden. Es muß unbewußt aus ihr herauskommen.

Daher ist sie eigentlich auch nicht glücklich auf der Schauspielschule. Und die Lehrer sind durchaus nicht zufrieden mit ihr, denn sie will ja alles anders machen, nicht wie vorgeschrieben.

Sie will ja weg von den bewußt angewandten Mitteln. Dafür, daß es sich hier um ein einmaliges Talent handelt, fehlt den Schauspiellehrern offenbar jedes Verständnis. Sie haben viel zu wenig Phantasie, um zu ermessen, welch Übermaß an Phantasie diese junge Schauspielerin besitzt.

Es ist eben ihre Stärke und nicht ihre Schwäche, daß sie die einfachsten Dinge, die jede Soubrette in einem Provinztheater beherrscht, nicht kann.

Sie „kann" überhaupt nur sie selbst sein. Die Abschlußprüfung ist eine Katastrophe. Sie spricht eine Szene des Klärchen aus dem „Egmont". „Wie eine Fahne will ich vor Euch herziehen ..." Sie steht auf der Bühne des Rudolf Bernhard Theaters, streckt ihre Arme in die Luft, läßt sie fallen und sagt: „Entschuldigen Sie bitte, ich bekomme das Gefühl nicht..."

Die Abschlußprüfung wird ein Fiasko

Das geht zweimal so, sehr zum Erstaunen der Schweizer Theaterdirektoren, die jedes Jahr zu dieser Abschlußprüfung kommen. Dann dreht sich Gritli Schell um, stürzt hinaus auf die Straße und beginnt herzzerbrechend zu weinen.

Der alte Leo Delsen, der die Theater von Biel und Solothurn leitet, eilt ihr nach und ruft: „Bei mir können Sie spielen! Sie wirken ja so komisch auf die Leute ..."

Sie beginnt in Biel und Solothurn Theater zu spielen. Sie verdient zweihundert Franken im Monat. Im Sommer zieht sie mit Kollegen auf die Dörfer, spielt in Turnsälen oder in Wirtschaften.

Die Requisiten müssen an Ort und Stelle beschafft werden - und das ist Gritlis Aufgabe - nur die notwendigsten Kulissen sind in Autobussen mitgebracht worden. Die Schauspieler müssen den Vorhang selbst auf- und zuziehen. Hinterher werden sie meist zum Essen eingeladen. „Das war wichtig, man sparte das bißchen Geld, das man verdiente!"

Großer Aufstieg: Sie wird von Biel ans Stadttheater in Bern engagiert. Sie bekommt, anstatt zweihundert Franken, vierhundert Franken monatlich. „Ich kam mir unendlich reich vor. Niemals hat später eine Gagenerhöhung so viel für mich bedeutet wie jene von zweihundert auf vierhundert.
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Ich bin nie wieder so reich gewesen wie damals, als .....

Ich glaube, ich bin nie wieder so reich gewesen wie damals, als ich meine erste Berner Gage in der Tasche hatte ..."

In Bern spielt sie alle nur möglichen Rollen. Dann, als Käthe Gold dort einmal gastiert - Gritli bewundert sie bereits von ihren Gastspielen in Solothurn her - lernen die beiden einander etwas besser kennen. Gritli Schell ist hingerissen.

Wenn sie je eine Schauspielerin werden könnte wie die Gold! Sie spielt eine winzige Rolle in dem Drama „Rose Bernd", in dem die Gold die Titelrolle mimt, nur um die Proben mitmachen zu dürfen. Sie ist unglücklich, als Käthe Gold wieder nach Zürich zurückkehrt. Die ist nämlich um diese Zeit am Zürcher Schauspielhaus engagiert.

Die kleine Schell kann es allerdings nicht erreichen, daß man sie dort engagiert. Sie hat den Flerren schon ein paar Mal vorgesprochen, ist aber immer wieder vertröstet worden. Am Zürcher Schauspielhaus hält man eben von Fräulein Gritli Schell nicht allzu viel.

Dies ist erstaunlich, denn das Zürcher Schauspielhaus ist um diese Zeit vielleicht das beste deutschsprachige Theater überhaupt. Daß man diesem Talent gegenüber so blind ist, beweist, daß auch gute Theaterleute manchmal irren.
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ENTDECKUNG

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April 1945 - Der Krieg ist zu Ende.

Gritli besorgt sich ein tschechisches Visum, um zum Welt Jugendtreffen nach Prag zu fahren. So kommt sie in den Besitz eines österreichischen Durchreisevisums.

Aber sie will gar nicht nach Prag. Sie will in Wien bleiben und Verwandte besuchen. Sie nimmt einen Riesenkorb Lebensmittel für sie mit. Kaum ist sie vierundzwanzig Stunden in Wien, da weiß sie auch schon, daß sie bleiben wird. In Wien Theater spielen!

Sie geht ins „Theater in der Josefstadt", um den Direktor zu sprechen. Da niemand sie kennt, da niemand je von ihr gehört hat, wird sie abgewiesen. „Vielleicht können Sie morgen den Herrn Direktor sprechen!"

Jede andere Schauspielerin würde verstehen, daß man sie nicht wiederzusehen wünscht. Die Schell versteht nicht. Sie kommt morgen wieder. Sie kommt fünf Tage lang jeden Tag wieder und fragt: „Kann ich den Herrn Direktor sprechen?"

Direktor Steinbock empfängt schließlich die Schell und ist beeindruckt. Er engagiert sie. Die Gage ist kaum mit der Lupe sichtbar. Aber was tut's? Sie darf in Wien Theater spielen! Sie hat sich außerdem ein paar hundert Franken erspart, mit denen man in Wien um diese Zeit alles kaufen kann.
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Sie hat wieder einmal durchgesetzt, was sie wollte.

Wie oft wird sie das noch tun ... Durch den Schweizer Schauspieler Paul Hubschmid, der schon seit Jahren in Wien Theater spielt, lernt sie den Agenten Josef Fischer kennen.

Der rät ihr: „Sagen Sie niemandem, daß Sie Schauspielerin sind!" Er nimmt sie in den „Künstlerklub" zum Abendessen mit. Dort sieht sie der Filmregisseur Karl Hartl.

Der ist fasziniert. Dieses Gesicht! Dieses durchsichtige Gesicht, das alles ausdrückt, was in dem Kopf und wahrscheinlich auch in dem Herzen des jungen Mädchens vorgeht, das wie ein unendlich klares Wasser wirkt, durch das man auf den Grund sehen kann.
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Der Filmregisseur Karl Hartl sieht Maria Schell und .....

Er steuert geradewegs auf sie zu: „Was san Sie von Beruf?"
„Ich studiere ..." „Wos studieren's denn?" „Ich studiere ... hm ... hm ... Ich studiere Medizin!" „... Medizin?" „Ja...-
„So ... so ... Sie studieren's Medizin ... Theaterspül'n tun's net? Dann hätt' ich Sie nämlich engagiert ..."

Die Schell wird rot. Betretenes Schweigen. „Kommen's morg'n abend wieder her ... ?" „Ich weiß nicht ..." „Vielleicht kommen's doch ..." Sie kommt doch, und Hartl zieht drei getippte Seiten aus der Tasche und äußert ganz unzeremoniell: „Dös müssen's halt lernen!"
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Das ist ja ein Filmmanuskript.

Sie wirft einen Blick auf die Seiten. Das ist ja ein Filmmanuskript. Sie liest die erste Seite. Da nimmt ihr Hartl das Manuskript schon wieder fort. „Nein, lesen's
lieber das!" Es ist ein Manuskript von dreißig Seiten.

Hartl hat sich entschlossen, Maria Schell - jetzt heißt sie schon Maria, denn unter Gritli könnte man sich in Wien nichts vorstellen - eine wesentlich größere Rolle zu geben.

Es handelt sich um den ersten Nachkriegs-film von Paula Wessely: „Der Engel mit der Posaune".
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Und dann kommt eines Tages jener Anruf aus London ......

..., ob sie Englisch sprechen kann - ein Frage, die sie ungeheuerlicherweise bejaht. Sie fliegt also nach London. Man wird ja sehen! Auf jeden Fall kann man ihr ja den Flug nicht mehr wegnehmen! Und sie hat immer schon einmal fliegen wollen ...

Sie wird mit einem Rolls Royce abgeholt. Sie wird ins Claridge gefahren, dem elegantesten und teuersten Hotel Londons. Sie bekommt ein ganzes Appartement, bestehend aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Badezimmer - das Badezimmer ist doppelt so groß wie das Zimmer, das sie in Wien bewohnt.

Und da sitzt sie nun in ihrem karierten Kleidchen und ihrem Regenmantel, das winzige Köfferchen neben sich. Aber Korda ist ganz entzückt von ihr. Er hat sich also nicht getäuscht, als er auf dieses Gesicht flog, dieses hübsche, wenn auch nicht unbedingt schöne Gesicht.
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Als ob es im Film auf Schönheit ankäme!

Er, der alte Filmhase, weiß das besser. Es kommt darauf an, daß man durch ein Gesicht hindurchsehen kann, daß es einen wissen läßt, was in einem Menschen vorgeht. Und wie sehr ist das bei der kleinen Schell der Fall, die so entwaffnend treuherzig, so selbstverständlich ist, so gar nicht Schauspielerin.

Es wird nicht mehr davon gesprochen, daß sie ihn angeschwindelt hat. Sie bekommt englische Stunden. Sie büffelt zwei Stunden vormittags, zwei Stunden nachmittags. Sie spricht nur noch Englisch, ausgenommen einmal am Tage, wenn sie mit Wien telephoniert. Da sitzt nämlich ein junger Mann, den sie sehr, sehr gern hat. ..... Und ganz geheime Sachen kann sie doch besser auf deutsch sagen.
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Der Vertrag mit Korda läuft sieben Jahre.

Aber das ist nur Theorie. Sie wird schon nach zwei oder drei Filmen nach Deutschland ausgeliehen. Der Regisseur Rudolf Jugert hat die Schell in „Der Engel mit der Posaune" gesehen und möchte sie gern für die weibliche Hauptrolle in dem Film „Es kommt ein Tag" haben, dessen Star Dieter Borsche ist.

Sie fliegt also nach Hamburg. Sie ist nicht glücklich darüber, daß sie nach Deutschland soll. Man hat ihr die entsetzlichsten Sachen über Deutschland erzählt, vor allem während des Krieges. Im Atlantic-Hotel in Hamburg, wo sie Zwischenstation macht, darf sie aufatmend feststellen, daß nicht alle Deutschen Menschenfresser sind und daß sie auch nicht alle in Kellern leben müssen.

Irgend jemand erzählt ihr, daß man sich in Göttingen, wo Jugert seinen Film drehen will, den Kopf zerbreche, wie sie jetzt wohl aussähe; immerhin ist es ja auch schon einige Zeit her, daß sie jenen Film in Wien gedreht hat.
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Maria Schell will Jungert einen Streich spielen

Im Zug nach Göttingen entschließt sie sich, ihrem zukünftigen Regisseur einen Streich zu spielen. Sie bemalt ihr ganzes Gesicht mit Sommersprossen, ändert ihre Frisur dergestalt, daß die Haare ihr fast in die Augen fallen, macht einige Zähne schwarz, so daß es auf den ersten Augenblick aussieht, als sei ihr Mund voller Zahnlücken. Kurz: Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche.

Auf dem Göttinger Bahnhof wartet Jugert mit einem Blumenstrauß. Sie sieht, wie das Lächeln auf seinem Gesicht erfriert, sie kann genau sehen, wie sein Gehirn arbeitet, wie er sich verzweifelt fragt: Was kann man da tun? Wie ist das nur möglich? Ist da noch etwas zu retten?

Beim Abendessen ist Jugert besonders reizend. Anscheinend ist sein Entschluß schon gefaßt. Man muß die Schell ausbooten, koste es, was es wolle. Ja, die häßliche kleine Person tut ihm geradezu leid!

Und dann fährt sie sich wie zufällig über die Zähne, und die werden weißer und weißer. Und dann fährt sie sich mit der Serviette über ihr Gesicht, so daß die Sommersprossen verschwinden, und dann fährt sie sich durch die Haare, und ihre weiße junge Mädchenstirn wird sichtbar. Und dann beginnt sie zu lachen, zu lachen ...

Ihre deutsche Karriere hat begonnen.
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Der Film heißt „Es kommt ein Tag"

Der Film, den sie spielen soll, heißt „Es kommt ein Tag". Rolf Thiele hat sein Buch nach der Novelle „Korporal Mombour" von Ernst Penzoldt geschrieben, und die in der Technik des Films äußerst gewandte Thea von Harbou hat bei der letzten Fassung ein bißchen mitgeholfen.

Der Inhalt: Ein preußischer Korporal Mombour kommt während des Krieges 1870/71 nach Frankreich. Er wird in einem Dorf einquartiert, wo er durch Zufall feststellen kann, daß es unter den Bewohnern Leute gibt, die den gleichen Namen tragen wie er. Er macht die Bekanntschaft der Familie, verliebt sich in die Tochter des Hauses. Er erfährt, daß der Bruder des Mädchens im Krieg getötet worden ist und muß feststellen, daß er selbst an seinem Tode schuld war. Als er dem Mädchen dies mitteilt, bricht sie zusammen, will ihn, den sie geliebt hat - ja, sie liebt ihn noch immer - nie wiedersehen ...

Die Mutter freilich ahnt noch nichts vom Tode ihres Sohnes. Und da sie stirbt, will man sie auch in dem Glauben lassen, daß er jeden Augenblick zurückkommen könnte. Der Deutsche zieht eine französische Uniform an, um der Sterbenden vorzutäuschen, daß ihr Sohn wieder nach Hause gekommen sei, um sie so noch in ihrem letzten Augenblick glücklich zu machen. Sie stirbt. Da ertönt Alarm. Der deutsche Korporal, der ganz vergessen hat, daß er noch französische Uniform trägt, rennt aus dem Haus zur Sammelstelle, wird beobachtet und als scheinbarer Feind niedergeschossen.

Dies ist der Inhalt des Films, der nun in Göttingen gedreht werden soll.
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Dieter Borsche spielt den Korporal Mombour.

Es ist sein dritter Nachkriegsfilm. Ist es nicht erstaunlich, daß er nach dem Riesenerfolg in „Nachtwache" fast zwei Jahre warten muß, bis er wieder eine wirkliche Aufgabe erhält?

Er hätte nicht warten müssen. Seit „Nachtwache" ist wohl kaum eine Woche vergangen, ohne daß man ihm nicht Filmangebote machte. Aber es waren immer die gleichen Rollen. Da er in „Nachtwache" so viel Erfolg als Offizier und Pfarrer hatte, bot man ihm nun immerfort Pfarrer und Offiziere an, am liebsten Figuren, die sowohl Pfarrer als auch Offiziere sind oder das eine oder andere waren.

Da Borsche ein Künstler ist, der seinen Beruf nicht leicht nimmt, schreckte er davor zurück, sich auf einen Typ festlegen zu lassen.
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Die Schell wirkt in diesem Film.

Wenn sie ihre traurigen Szenen spielt, bekommen selbst die ältesten Beleuchter und Bühnenarbeiter, die oft die größten Zyniker sind - es gibt wohl nichts, was sie nicht schon gesehen haben - Tränen in die Augen ...

Sehr oft gelingt ihr etwas schon beim ersten Versuch. Jugert spürt, alle spüren, die im Atelier sind: besser könnte man es gar nicht machen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Schell weint.

Sie hat in diesem ersten deutschen Film viel zu weinen, und sie tut es mit großer Leichtigkeit - eine Kunst, die nur wenige Schauspielerinnen beherrschen. Immer wieder wundern sich die anderen, wie schnell sie Tränen produzieren kann - in jeder beliebigen Menge.

Sie selbst, die ihren eigenen Leistungen gegenüber oft ungläubig und ironisch ist, prägt ein Wort, das bald durch alle deutschen Filmateliers gehen wird:

  • „Niemand weint so schön und schnell
  • wie im Film Maria Schell!"


Dann wieder gibt es Stunden - die sich manchmal unvermittelt an jene des sofortigen Gelingens anschließen - in denen ihr überhaupt nichts gelingen will. Das Seltsame ist, daß sie das deutlicher spürt als die anderen. Es kommt vor, daß Jugert vollständig mit ihr zufrieden ist, sie aber nur den Kopf schüttelt und sagt: „Nein, das war nicht gut!"
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Maria Schell und die Hindernisse der Kleinigkeiten

Sie ist gescheit, sie weiß, daß es ihr an Erfahrung gebricht, sie läßt sich viel sagen, fast alles, aber sie ist selbst ihr schärfster und unerbittlichster Kritiker, völlig unbestechlich, wenn sie sich nicht gut findet.

Dann werden Kleinigkeiten zu unübersteigbaren Hindernissen. Da soll etwa eine sogenannte „Passage" gedreht werden. Maria Schell muß durch eine Tür gehen. Im fertigen Film wird das späterhin vielleicht zwei Sekunden dauern. Aber die Schauspielerin, die weiß, daß jenseits dieser Tür der Mann auf sie wartet, den sie liebt, oder die sterbende Mutter, möchte in ihr Schreiten, in das öffnen der Tür etwas von dem legen, was nun kommen wird: ein wenig Angst, ein wenig Vorfreude, ein wenig Entschlossenheit, sich nichts anmerken zu lassen ...

Man bedenke: hinter der Tür im Filmatelier erwartet sie weder der Geliebte noch die sterbende Mutter, dort befindet sich überhaupt nichts, es sei denn ein Beleuchter, ein Bühnenarbeiter oder eine Garderobenfrau.

Die Szene, die im Film folgt und die im Zimmer spielt, in das jene Tür führt - im Film, nicht im Filmatelier - folgt im Filmatelier nicht. Sie ist vielleicht schon vor einer Woche gedreht worden. Aber für die Schell ist das völlig unerheblich.

Sie stellt sich vor, daß sie jetzt gleich jenes Zimmer betreten wird. Und solange sie sich das nicht intensiv genug vorstellen kann, ist sie nicht zufrieden mit sich selbst.

Wenn Filmleute irgendeinen Typ unerträglich finden, dann ....

Dann wieder erscheint sie im Atelier und bringt ein Bündel engbeschriebener Blätter mit, liest der staunenden Belegschaft vor, wie sie sich die „Auffassung" dieser oder jener Szene vorstellt.

Und die anderen glauben, sie zum ersten Mal zu sehen. Das ist ja gar kein junges Mädchen, wie sie gestern noch zu schwören bereit gewesen wären, das ganz aus plötzlich entstehendem Gefühl heraus spielt. Das ist ja eine Intellektuelle - und wenn Filmleute irgendeinen Typ unerträglich finden, dann die Intellektuellen!

Das ist ja eine, die sich alles vorher überlegt und festlegt, eine eiskalte Macherin. Jetzt ist sie durchschaut! Man wird ihr nichts mehr glauben! Man wird sich von ihr nicht mehr hineinlegen lassen - jawohl, hineinlegen, denn man kommt sich geradezu gefoppt vor. Jetzt wird man keine Tränen mehr über die Schell weinen.

Aber schon eine halbe Stunde später schmelzen sie alle wieder hin, wenn dieses junge hilflose Mädchen ein paar Worte flüstert, eine kleine Geste macht - und wenn es so furchtbar klar wird, daß sie an ihrer tragischen Liebe zerbricht ...

So beginnt die Diskussion über Maria Schell schon in den Wochen ihres ersten deutschen Films - eine Diskussion, die nie wieder ganz abbrechen wird. Freilich, daß der Film ein Erfolg wird, daran zweifelt keiner, der dabei ist, während er entsteht.
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Auch die Kritik ist begeistert.

Sie bezeugt Maria Schell in allen Tonarten, daß diese blutjunge Nachwuchskünstlerin es noch einmal weit bringen wird. Über Nacht werden sie und Dieter Borsche zum neuen deutschen Liebespaar ernannt, zum idealen deutschen Liebespaar.

Dieses Liebespaar wohnt sozusagen ein Stockwerk höher als Sonja Ziemann und Rudolf Prack. Es ist in den Gefilden der Tragödie angesiedelt, während die Hauptdarsteller des „Schwarzwaldmädel" in den Kulissen der Operette zu Hause sind. Bei ihnen muß alles gut ausgehen - bei Dieter Borsche und Maria Schell darf alles traurig enden.

So kommt es auch nicht nur im Film. Der so gepriesene Film spielt trotz der großen Popularität Dieter Borsches, trotz der guten Kritiken - oder vielleicht auch gerade wegen dieser guten Kritiken - sein Geld nicht ein.

Das tut er erst ein halbes Jahr später, als der nächste Film mit dem idealen deutschen Liebespaar herauskommt, der allerdings ein Bombenerfolg wird für Dieter Borsche, für Maria Schell den endgültigen Durchbruch bedeutet und für Heidemarie Hatheyer ein Comeback.
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