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"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.

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NEUNTER TEIL • WAS WILL DAS PUBLIKUM ?

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SIND ADAM UND EVA NACKT GEWESEN?

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Mitte 1948 - Ein Film mit dem Titel „Der Apfel ist ab".

Mitte 1948 dreht Helmut Käutner in München einen Film, betitelt „Der Apfel ist ab".
Käutner hat vor Kriegsende bewiesen, daß er zugkräftige Filme machen kann. Er hat es nach dem Kriege bewiesen. Nun will er einmal etwas ganz anderes machen. Ein Experiment.

Er will wissen: wie weit kann man im Film gehen? Was ist im Film noch möglich und was nicht mehr? Geld spielt ja keine Rolle. Als Käutner die Idee des neuen Films hat, sind wir noch mitten in der Reichsmarkzeit. Käutner kommt wie Neumann vom Kabarett.

Er wurde zuerst bekannt als einer von der Gruppe der "Vier Nachrichter". Und die "Vier Nachrichter" führten unter anderem ein Stück auf: „Der Apfel ist ab". Es hatte nichts mit dem Dritten Reich zu tun, nichts mit dem Krieg, nichts mit der Nachkriegszeit. Es war ein surrealistisches Stück.

Es spielte im Himmel, in der Hölle und gelegentlich auf der Erde. Es spielte zwischen Adam und Eva, der Schlange, Petrus und dem Teufel.

Und es gibt ein "Sanatorium" im Himmel

Der Inhalt: Adam Schmidt, ein Apfelsaft-Fabrikant, ist nicht sehr glücklich mit seiner Frau Lilith (der Schlange) und glaubt, seine Sekretärin Eva zu lieben, die ein wenig dumm ist. Er macht einen Selbstmordversuch und landet im Sanatorium des Dr. Petri (Petrus).

Das Sanatorium heißt Himmel. Dort schläft er ein und träumt, daß er im Himmel ist, wo es recht surrealistisch zugeht. Dann wird Eva geboren. Vorerst ist sie ein Kind, und Adam spielt mit ihr und den Sternen. Er will nicht mehr als mit ihr spielen.

Aber da ist die Schlange und die Sache mit dem Apfel. Und nachher will Adam eben doch etwas von Eva. Dann wacht er auf und ist nicht klüger als zuvor. Doch, er ist es. Er weiß, daß er weder Eva noch Lilith mag.

Ja, eine Frau, die die Vorzüge beider Damen in sich vereinigte, die wäre etwas für ihn. Aber so etwas gibt es ja nicht.
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So etwas gibt es nicht?

Dr. Petri schafft das schon. Die Damen Eva und Lilith kommen in eine gläserne Retorte, werden dort gekocht und vermischt und heraus kommt die Idealfrau Elly. Mit der wird Adam Schmidt glücklich werden - vielleicht wird er auch nicht so glücklich werden - wer weiß das schon so genau?

Wer will das schon so genau wissen? Denn wie man sieht, eine Handlung in dem Sinne, wie Filmproduzenten und Filmbesucher das Wort verstehen, gibt es nicht. Das Ganze ist, was es früher einmal war: Kabarett.

Es vergeht keine Minute ohne einen guten Gag, ohne einen Einfall, ohne eine Pointe. Ironie, Parodie, Satire, Persiflage, Karikatur - alles ist da, nur keine Handlung.

Es wird Cancan getanzt, es wird geboxt, es wird zum Badenweiler Marsch marschiert. Es geht toll zu im Himmel und in der Hölle. Aber was bleibt von dem allen? Eben das, was einem bleibt, wenn man in einem guten Kabarett gewesen ist. Man schmunzelt über diesen Witz, über jene gewagte Pointe - und das ist alles.
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Das ist, wie sich bald herausstellen wird, viel zu wenig.

Zudem wird Käutner von Mißgeschick verfolgt. Die Besetzung ist dankbar unglücklich. Den Dr. Petri sollte ursprünglich der Schauspieler Fritz Odemar spielen. Aber der wird krank. Dann bekommt der dicke Will Dohm die Rolle. Aber der muß ebenfalls ins Krankenhaus und stirbt bald darauf.

So übernimmt Käutner die Rolle selbst. Das macht ihm zwar ungeheuren Spaß - Käutner spielt, wie alle Regisseure, für sein Leben gern selbst mit - aber so viel Spaß, wie es ihm bereitet, macht das dem Zuschauer nicht. Manche Kritiker finden sogar, daß ihnen Käutner als Schauspieler gar keinen Spaß macht ...

Die Hauptrolle soll Bobby Todd spielen, ein alter Nachrichter, der nach dem Kriege aus dem Ausland zurückgekehrt und nach wie vor ein ausgezeichneter Kabarettist ist - aber eben kein Schauspieler, auf den man einen Film stellen kann.

Die Schlange: Joana Maria Gorvin. Während des Krieges von Jürgen Fehimg entdeckt, wurde sie nach dem Kriege sehr schnell eine der führenden Schauspielerinnen Berlins. Ein starkes Talent. Ein sehr eigenwilliges Talent. Dunkel, schmal, glasklar, manchmal fast zu bewußt, von der Eleganz einer Fechterin sowohl in der Bewegung als auch in der Sprache, müßte sie eigentlich die ideale Schlange sein.
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Ein Talent, das nicht „von der Leinwand herunter kommt" .....

Seltsamerweise gehört sie zu jenen Schauspielerinnen, die nicht „von der Leinwand herunterkommen" - wie man das in der Filmindustrie nennt.

Sie interessiert immer, aber sie ergreift nie. Sie amüsiert, aber sie vermag nicht zu erschüttern. Man wird es noch ein-, zweimal mit ihr im Film versuchen - aber es wird nicht besser gehen.

Eva: Bettina Moissi, die bereits „In jenen Tagen" mit Käutner gedreht hat. Ebenfalls eine Fehlbesetzung. Denn Bettina Moissi ist durchaus nicht das kindhafte Geschöpf, das die Eva sein soll, nicht die dumme Unschuld, sondern eine sehr interessante junge Frau, der man die Ahnungslosigkeit und Naivität nicht zu glauben vermag.

Und da ist noch die Frage: Wie soll man sie - und übrigens auch Adam - sich im Paradies ergehen lassen? Käutner meint nackt.

Nun, ganz nackt kann man die beiden Schauspieler wohl nicht zeigen! Das würde doch gegen alle Regeln verstoßen! Das gäbe ja einen Skandal! Selbst Käutner muß das einsehen.
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"Igelit" ist ähnlich wie später das westdeutsche Cellophan ....

Schließlich kommt er auf die Idee, sie in "Igelit" zu verpacken. Das ist etwas ähnliches (eine Kunststoff-Folie) wie Cellophan, das es damals noch nicht gibt.

"Igelit" gibt es übrigens im Westen oder in West-Berlin nicht zu kaufen. Es muß also auf Schleichwegen aus dem Osten herangeholt werden. Die Igelit-Folie ist theoretisch durchsichtig.

Praktisch sieht man nicht allzuviel, zumindest nicht so viel, wie viele sich erhoffen. Denn Licht und Schatten - Igelit wirft tausend Reflexe zurück - wirken fast wie fester Stoff.

Ein Problem: Die Haut kann durch Igelit nicht atmen, und das bedeutet, daß Bettina Moissi im Atelier vor Hitze fast umkommt in ihren vielen Igelit-Kostümen - sie spielt ja ein Kind, ein junges Mädchen und dann die erwachsene Eva; in der Hölle trägt sie sogar ein großes Abendkleid aus Igelit.

Nach jeder Aufnahme muß man ihr die Kleider förmlich vom Leibe reißen. Blitzschnell spricht es sich in München herum: Käutner dreht einen unsittlichen Film! Einen Film mit einer nackten Frau und einem nackten Mann. Das ist ja ...

Das ist ja sehr interessant! - Später nannte man das senstionsgeil ....
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Natürlich will die Presse Details.

Kann man Photos bekommen? Käutner schüttelt den Kopf. Vorläufig nicht. Kann man wenigstens ins Atelier kommen und bei den Aufnahmen zusehen? Das ist doch sonst immer üblich.

Aber auch hier legt Käutner ein Veto ein. Das Atelier, in dem er dreht, wird gesperrt. Niemand, der nicht einen Ausweis besitzt, der von ihm selbst unterschrieben worden ist, darf herein.

Findige Journalisten versuchen diesen und jenen Dreh. Vergebens. Die Presse schließt daraus, daß der Film noch unanständiger ist, als man gehofft hat. Es erscheinen die ersten Zeitungsnotizen mit Andeutungen unmißverständlicher Natur.

Käutner lächelt. Warum nicht? Das alles ist ausgezeichnete Reklame. Soll man nur über seinen Film schreiben und reden!
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KIRCHE CONTRA KÄUTNER

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Und wieder droht die katholische Moral mit dem Knüppel

Dann greift die katholische Kirche ein. Und die ist ein nicht zu unterschätzender Gegner.

Wie die Sache eigentlich begonnen hat, wird nachher von "verschiedenen" Seiten "verschieden" berichtet werden. Tatsache ist, daß der Leiter des „Katholischen Filmbüros", der Jesuitenpater Max Gritschneder, eines Tages das Drehbuch in Händen hält. Er läßt es (Anmerkung : illegal wegen!!!! des auch damals schon existierenden Copyrights) vervielfältigen und schickt es an zuständige und vielleicht auch nicht so zuständige Stellen.
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Jedenfalls ist nun der Teufel los.

Die katholische Kirche fordert, wenn auch nicht offiziell, so doch durch prominente Vertreter und durchaus unmißverständlich, daß der Film nicht zu Ende gedreht oder zumindest nicht gezeigt werde.
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Die Katholiken versuchen Käutner zu unterminieren

Käutner kann sich nicht mehr hinter seiner geheimnisvollen Miene verschanzen. Käutner muß Farbe bekennen. Bisher hat er abgelehnt, der Presse irgend etwas von seinem neuen Film zu erzählen. Jetzt beruft er eine Pressekonferenz ein. Da geht es hoch her, denn die Reporter wollen alles ganz genau wissen. Sie wollen vor allem wissen, wie der Pater zu dem Drehbuch gekommen ist.

Käutner erklärt: „Der Pater hat das Drehbuch gestohlen!"

Am nächsten Morgen steht das natürlich in allen Zeitungen. Daraufhin klagt der Pater und gewinnt den Prozeß. Denn von Diebstahl kann natürlich keine Rede sein.
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  • Anmerkung : Also dieser Pater hatte es ja nicht gestohlen, das war eine anderere Person. Er hatte es nur illegal vervielfältigt und das war nicht Thema der Bezichtigungsklage wegen des bezichtigten Diebstahls.

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Im übrigen steht ja fest, daß der Pater nur unternommen hat, was er für seine Pflicht hielt. Wie man auch immer zu den Zensurbestrebungen kirchlicher Behörden stehen mag: Die Anständigkeit und die Sauberkeit des Paters stehen außer Frage.
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Die Kirche sieht den Einfluß auf die Kontrolle des Films schwinden

Das alles könnte noch Propaganda sein. In einem späteren Fall - dem der „Sünderin" - wird der Protest der Kirche Millionen dazu veranlassen, sich den Film anzusehen.

Hier kommt es ganz anders. Der Kampf wird mit ungeheurer Intensität geführt. Käutner ist überzeugt davon, daß ihn die katholische Kirche erledigen will, nicht so sehr des unsittlichen oder unanständigen Films wegen, sondern weil er an der Aufstellung der Statuten der „Freiwilligen Selbstkontrolle" beteiligt ist und dadurch verhindert hat, daß die Kirche den Einfluß auf die Kontrolle des Films (über ihre jetzt aber verhinderte Mehrheit) gewinnen konnte. Es war also die Rache Gottes im Spiel.
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Die katholischen Pfarrer auf den Kanzeln wettern heuchlerisch

Kaum ist der Film angelaufen, da stehen überall in Deutschland, in den großen und kleinen Städchen, ja, in den winzigsten Dörfern die katholischen Pfarrer auf den Kanzeln und wettern gegen „Der Apfel ist ab".

Sie beklagen nicht so sehr, daß Adam und Eva unbekleidet sind, sie äußern ihre Empörung an der Verdrehung der biblischen Geschichte. Sie erklären, man könne aus der Bibel keinen Film machen oder zumindest keinen realistischen Film.

Sie sagen, die Tatsache, daß dieser Film überhaupt gedreht werden konnte, beweise, daß der Filmindustrie die Qualifikation fehle, wirksame Selbstzensur auszuüben. Sie fordern von ihren Gemeinden die Ablehnung eines so anstößigen und „religionsfeindlichen" Films.

Niemand dürfe ihn besuchen! Die Kirche gewinnt ihren Kampf gegen Käutner haushoch.

  • Anmerkung : Das war 1948. In 2020 kam ziemlich spät heraus, daß die katholische (und auch die evangelische) Kirche weltweit mehr "Dreck am Stecken" hatte und hat, als alle Pornos dieser Erde. Auch kam heraus, daß in der katolischen Kirche geheuchelt, vertuscht und gelogen wurde, was das Zeug hielt und daß selbst in 2021 immer noch kein echter Wille zur Aufklärung des Mißbrauchs und der Kinderschändung bei den oberen Popen und in den kirchlichen Heimen bestand. Auch die evangelischen Kinderheime waren eher Straflager als Kinderheime.

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Am Ende ein geschäftlicher Mißerfolg ...... obwohl ....

So ist es von Anfang an klar, daß der Film ein geschäftlicher Mißerfolg werden muß. Aber auch in den großen Städten geht er nicht annähernd so gut wie man erwartete. Denn das Publikum fühlt sich enttäuscht.

"Das Volk" hat einen "unanständigen" Film erwartet. Und es bekommt einen Film zu sehen, der (leider) keineswegs unanständig ist. Käutner hat ein Experiment machen wollen, und das ist mißlungen. Er hat versucht, herauszufinden, wie weit man im Film gehen kann - und ist zu weit gegangen. Er hat sich ausgetobt.

Nie hat es in einem Film so viele Tricks, so viele Gags, so viele Witze gegeben! Niemals hat man sich bei den Aufnahmen so gut amüsiert wie bei diesem Film, und selten so wenig, als der Film gezeigt wurde.
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Fazit : Der Himmel ist langweilig; die Hölle ist es auch.

Da stinkt es nicht nach Schwefel, es riecht nach "Pappmache". Der Film fällt durch. Das ist der Anfang des Endes der CAMERA-Filmgesellschaft von Heinz Rühmann und Partnern, die mit „In jenen Tagen" und mit dem „Film ohne Titel" so großartig begonnen hatte. Aber dies scheint auch der Anfang vom Ende der Karriere Helmut Käutners zu sein.

Vorläufig geschieht etwas sehr Seltsames. Über Nacht, ja, innerhalb von wenigen Minuten, brennt das Haus Helmut Käutners in Geiselgasteig ab. Als die Feuerwehr erscheint, ist schon alles vorbei. Wie kann so etwas geschehen?

Häuser brennen doch nicht so blitzschnell ab! Da hat doch einer dran gedreht! - wie die Berliner zu sagen pflegen.

Es stellt sich heraus, daß in der Dachrinne des Hauses Filmrollen lagen. Zelluloid brennt besonders gut und besonders schnell. Wer hat die Filmrollen in die Dachrinne gelegt?

Die Angelegenheit wird nie geklärt werden. Die Münchner Polizei untersucht lange und sorgfältig und kommt zu keinem Resultat. Darüber, daß Brandstiftung vorgelegen hat, dürfte wohl kein Zweifel sein ....... die bayerischen fanatischen Katholiken kommen natürlich nicht in Verdacht ......
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Die Merkwürdigkeiten summieren sich ....

Es dürfte übertrieben sein zu behaupten, daß ein Mann wie Käutner jetzt ruiniert ist! Ist er nicht Deutschlands erster Filmregisseur?

Wird er, der so viele gute Filme gemacht hat - und Filme, die gute Geschäfte wurden - nicht sogleich wieder einen neuen Auftrag erhalten?

Das Unwahrscheinliche geschieht. Es wird ruhig um Käutner. Es wird allzu ruhig um ihn, als daß man an einen Zufall zu glauben vermöchte. Das sieht schon mehr nach Boykott aus.

Vielleicht hat die Kirche damit zu tun. Vielleicht sind es die Männer der (Film-) Industrie, die meinen, daß man einem „so verrückten Kerl", wie Käutner es ist, einen Film nicht anvertrauen darf.

Wie dem auch sei: Käutner wird in den nächsten Jahren sehr wenige Filme machen, keiner dieser Filme wird viel taugen, kaum einer wird ein Geschäft werden. Käutner wird tausend Schwierigkeiten überwinden müssen, wird, um überhaupt sein Leben zu fristen, wieder zum Theater zurückkehren und einige Stücke inszenieren - übrigens glänzend inszenieren.
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WIR SIND JA SO EXOTISCH!

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Eine Publikumsbefragung im Sommer 1948 ......

Es ist um diese Zeit in Deutschland nicht leicht, Filme zu machen. Was wollen die Menschen denn sehen? Im Sommer 1948 ergab eine Publikumsbefragung, daß neunzig Prozent der Kinobesucher gegen die sogenannten Trümmerfilme sind. Man hat so viele Trümmerfilme gesehen - und dazu viele schlechte!

Freilich, „Der dritte Mann", ein englischer Trümmerfilm, in Wien gedreht, wird nicht nur einer der ganz großen internationalen Erfolge werden, sondern auch in Deutschland die Kassen füllen.

Die Filmproduzenten suchen verzweifelt nach Themen. Was käme denn in Frage? Berlin steht im Zeichen der Blockade.
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Die Luftbrücke von 1948

Eine Luftbrücke ist eingerichtet worden, Millionen Menschen werden mittels Flugzeugen ernährt und beheizt.

Bis zum 13. August 1948 - dem fünfzigsten Tag der Blockade - sind insgesamt 90.000 Tonnen Lebensmittel nach Berlin eingeflogen worden. Und nun wird die Luftbrücke immer tragfähiger.

Tag und Nacht, alle fünfundvierzig Sekunden, landet ein Flugzeug in Tempelhof, steigt ein anderes Flugzeug auf. Wäre das kein Filmthema? Die Produzenten schütteln die Köpfe. „Das interessiert keinen Menschen!"

Aber ein knappes Jahr später wird die Twentieth Century Fox aus Hollywood ihre Leute nach Berlin schicken, um dort einen Film über die Luftbrücke und das blockierte Berlin zu drehen - und einen Welterfolg damit erzielen.
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Was will das Publikum?

Die Filmindustrie probiert es mit Exotik. In München dreht der junge Kurt Hoffmann „Das verlorene Gesicht".

Die Hauptrolle spielt Marianne Hoppe. Sie ist schön, seltsam, einfach und selbst dann noch überzeugend, wenn der Stoff keinerlei Überzeugungskraft mehr besitzt.

Man darf nach diesem Film annehmen, daß ihr eine große, zweite Filmkarriere bevorsteht. Aber zu dieser Karriere wird es seltsamerweise nicht kommen. Marianne Hoppe wird nur noch einige wenige Male im Film zu sehen sein, und nur in Filmen, die ihr eigentlich keine Chance geben, ihr Können zu entfalten.
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Es bricht eine Hausse in exotischen Filmen aus.

Das war nach dem ersten Weltkrieg so ähnlich. Die Leute wollten das Leben, das sie leben mußten, vergessen, die triste Realität, obwohl sie nicht annähernd so trist war wie die von 1945 bis 1948.

Auch wünschten sie, die jahrelang in Deutschland eingesperrt waren, wieder fremde Länder zu sehen. Sie wollten reisen, wenn auch nur im Film. Freilich waren die exotischen Filme, die damals gemacht wurden - „Die Herren der Welt", „Das indische Grabmal", „Der müde Tod" - sehr anständige Filme.

Die exotischen Filme nach dem zweiten "Weltkrieg sind sehr schlecht.
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Paul Wegener in „Der große Mandarin"

Das muß auch von dem letzten Film des großen Schauspielers Paul Wegener - „Der große Mandarin" - gesagt werden. Allein schon die Story ist ein Kapitel für sich.

Niemand versteht genau, worum es geht. Das mag zwar sehr „exotisch" sein, ist auf die Dauer aber ermüdend. Wovon handelt der Film? Schon diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten. Es handelt sich vor allen Dingen um sieben kleine Schweine, die von sieben chinesischen Bauern illegal gehortet worden sind, obwohl der große Mandarin das bei Todesstrafe verboten hat.

Ein Metzgermeister will politische Karriere machen und daher seine Tochter dem Amtsdirektor - einem bösen Menschen - zur Frau geben. Der Amtsdirektor soll nach der bevorstehenden Wahl Landesvorsteher werden.

Das junge Mädchen aber mag den politischen Intriganten nicht. Es liebt den hübschen Gehilfen des Metzgermeisters. Dies alles und vieles mehr weiß der große Mandarin. Ihm kann der schurkische Amtsdirektor nichts vormachen, der nun, nach der Art von Diktatoren, alle verhaften läßt, die in dem Film mitwirken.
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Völlig neu : Die Partei der Frauen

Als Gegenmaßnahme gründet die Frau des Metzgermeisters die Partei der Frauen - übrigens auch auf Rat des allwissenden Mandarins. Zur Wahl mobilisieren sie alle Kinder der Stadt und siegen. Und nicht der böse Amtsdirektor, sondern die gute Metzgermeistersfrau wird Landesvorsteher, will sagen Landesvorsteherin.

Nun soll sie die Schuldigen bestrafen: die sieben Bauern und natürlich auch den Metzgermeister. Nur die Todesstrafe sei am Platze. Den Tod für je ein Schwein! Das leuchtet den Frauen nicht ein. Die Gerichtsverhandlung gerät aus den Fugen.

Das ist sehr wirr, obwohl es sich doch - unter dem Deckmantel der Exotik - um sehr aktuelle Tagesfragen handelt, um Hungersnot, Schwarzhandel, Korruption, Diktatur.

Aber der hochbegabte Regisseur Karl Heinz Stroux, um diese Zeit bereits einer der ersten Theatermänner Deutschlands, hat sich einiges ausgedacht, was im Film eben nicht oder zumindest noch nicht durchzuführen ist.

Er beabsichtigt wohl, einen surrealistischen Film zu drehen. Jedenfalls weiß man nie, ob die Schauspieler ihre Rollen spielen oder zu den Zuschauern sprechen. Sie tun nämlich beides. Eben noch haben sie tragisch eine Szene gemimt; plötzlich springen sie sozusagen aus der Leinwand heraus ins Parkett und unterhalten sich mit uns.
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Paul Wegeners letzter Auftritt in „Nathan der Weise"

Schon während der Filmaufnahmen geht es Paul Wegener nicht besonders gut. Er verfällt von Tag zu Tag, er, der ein so unendliches Reservoir an Kräften hatte, wird müde und elend. Im Deutschen Theater spielt er noch immer „Nathan der Weise".

Eines Abends - es ist der 11. Juli 1948 - muß er gleich zu Beginn der Aufführung abbrechen, in der ersten Szene mit dem Derwisch. Es wird ihm schwarz vor den Augen, er verliert das Gleichgewicht, er kann sich der Worte, die er sprechen wollte, nicht mehr entsinnen.

Der Vorhang muß fallen. Dem Publikum wird bedeutet: „Wer sein Eintrittsgeld zurückhaben will, soll an die Kasse gehen." Nur wenige tun es.

Die Berliner haben begriffen, daß sie einer historischen Begebenheit beigewohnt haben, dem letzten Auftreten eines der ganz Großen. Sie werden seinesgleichen nie mehr sehen.

Eine Reise in die Schweiz kann die Gesundheit des schwerkranken Mannes nicht wiederherstellen. Trotzdem erhält er noch im Sommer 1948 Filmangebote. Aber er lehnt ab. „Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig!"
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Der Ast eines riesigen Baumes fällt mit ganzer Kraft ......

Er sitzt viel in seinem Garten, betrachtet die herbstliche Landschaft, läßt sich von der Sonne bescheinen. Am 10. September 1948 zum letzten Male. Als er aufsteht, um sein Bett aufzusuchen, das er nicht mehr verlassen soll, bricht hinter ihm der Ast eines riesigen Baumes herunter. Drei Tage später stirbt Wegener und mit ihm ein Stück Theatergeschichte, ein Stück Filmgeschichte.

Er war es, der zum ersten Mal die Möglichkeiten des künstlerischen Films entdeckte, der die unvergeßlichen Filme vom „Studenten von Prag" und vom „Golem" machte.

Er war vielleicht der einzige von allen, der bewußt eine große kommerzielle Filmkarriere mit Riesengagen ausschlug, um das Gewissen des künstlerischen Films zu werden. Er geht in einem Augenblick, in dem er notwendiger gebraucht wird denn je.
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WAS WOLLEN DIE BRITEN NICHT!

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Wolfgang Liebeneiner und "Der Fall Garbe"

Um diese Zeit dreht Wolfgang Liebeneiner seinen ersten Nachkriegsfilm. Man hat es ihm nicht leicht gemacht. Gewiß, Liebeneiner ist einer der prominenten Filmleute im Dritten Reich gewesen.

Aber wie andere Prominente, wie Wilhelm Furtwängler und Gustaf Gründgens, hat er seine Stellung vor allen Dingen dazu benutzt, das Schlimmste zu verhüten. Er wird nicht weniger als fünfmal durchleuchtet, respektive entnazifiziert: von der British Field Security, vom Hamburger Kulturrat, noch einmal von den Briten, noch einmal von den Deutschen und zu guter Letzt auch von den Amerikanern.

In den Hamburger Kammerspielen durfte er schon im Dezember 1945 inszenieren. Seinen ersten Film darf er erst jetzt vorbereiten. Um was handelt es sich?

Die Story im "Fall Garbe" ....

Es handelt sich um einen ehemaligen Hitlerjugendführer namens Garbe, der im Krieg nach Rußland kam.

Dort sah und hörte er Dinge, die er nicht für möglich gehalten hatte. Vor allem erfuhr er von der Existenz der Vernichtungslager. Er, der als blutjunger Mensch ein begeisterter Nationalsozialist gewesen war, wollte nichts mehr von den Nazis wissen, wollte mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.
Er flüchtete. Er tauchte unter, trieb sich eine Weile illegal herum, wurde aber durch eine Streife gefaßt, vors Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt.
Noch einmal floh er - aus einem zerbombten Militärgefängnis, aber wieder wurde er geschnappt; er erzählte dem Polizisten irgendeine Lüge. Aber er wußte, morgen früh würde alles herauskommen, dann wäre er verloren.

Als der Polizeibeamte, der ihn festgenommen hatte, sich umdrehte, versetzte er ihm einen heftigen Schlag gegen den Kopf und flüchtete abermals. Diesmal gelang es ihm, in die rettende Schweiz zu entkommen.
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Garbe überlebt und kommt 1946 zurück nach Deutschland

Erst 1946 kehrt er zurück - und wird verhaftet. Denn der Polizeibeamte hat durch jenen Schlag schweren Schaden an seiner Gesundheit erlitten. Es kommt zu einem Prozeß, der wie ein schlimmer Traum anmutet.

Das Oberlandesgericht Kiel entscheidet schließlich, daß Garbe „wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung unter Zubilligung mildernder Umstände zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt wird."

Liebeneiner liest die sechzehn eng beschriebenen Seiten der Begründung dieses grotesken Urteils mit wachsendem Erstaunen.
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Wie? Hat Garbe nicht in Notwehr gehandelt?

Ist nicht jeder Mensch berechtigt, sich einer Hinrichtung zu entziehen, besonders wenn er die Gesetze, nach denen er verurteilt worden ist, für falsch, den Staat, der ihn verurteilt hat, für unsittlich hält?

Das Kieler Gericht stellt 1946 fest, daß dem nicht so sei, denn Notwehr ist nur „diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abzuwehren. Voraussetzung der Notwehr war also hier, daß der Vollzugsbeamte rechtswidrig gehandelt hatte."

Rechtswidrig aber konnte er nur handeln, „wenn der ganze Krieg rechtswidrig war." Und zu dieser Feststellung kann das Gericht in Kiel sich wiederum nicht durchringen, obwohl es die Frage über viele Seiten hinweg zu klären versucht. Es kommt schließlich zu dem Entscheid:

„Die verbrecherische Betätigung des Hitlerstaates ist für den vorliegenden Fall unerheblich." Und Garbe ist doch gerade deswegen desertiert, weil er den Hitlerstaat ablehnte. In Kiel gibt man zwar zu: „Hier war das Niederschlagen des Polizeibeamten allerdings das letzte Rettungsmittel. Die Strafkammer hat aber mit Recht bereits darauf hingewiesen, daß die Berufung auf Notstand dort ausgeschlossen ist und nach der Gemeinschaftsordnung dem Täter ein anderes Handeln zuzumuten ist, wenn eine Rechtspflicht zur Duldung der Gefahr besteht: Der Soldat, der Feuerwehrmann, das Kindermädchen können sich zur Verweigerung ihrer Berufspflicht nicht auf den Notstand berufen."
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Der Fall Garbe als Vorwurf ist eines Balzac würdig.

Liebeneiner will darüber seinen ersten Nachkriegsfilm drehen. Aber so einfach ist das nicht. Denn die Briten haben plötzlich ein Haar in der Suppe gefunden.

Natürlich soll Liebeneiner filmen. Aber warum will er ausgerechnet den Fall Garbe verfilmen? "warum ein Thema aufgreifen, das in ganz Deutschland heftigste Diskussionen hervorrufen wird? Liebeneiner antwortet: „Deswegen will ich ja gerade den Film machen!"

Die Briten beharren auf ihrem Veto. Liebeneiner soll einen anderen Film vorschlagen. Vielleicht hoffen sie, daß Liebeneiner einen exotischen Film drehen wird, einen, der in fernen Ländern spielt - und nicht zu einer Stellungnahme verpflichtet.
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Also dan ein Thema wie „Marquise von O." von Kleist

Schon ein paar Stunden später - es geht jetzt wirklich um Stunden, denn alles ist vorbereitet, die Halle ist gemietet, wenn Liebeneiner nicht in kürzester Frist zu drehen beginnt, geht viel Geld verloren - schlägt Liebeneiner den Briten vor, Kleists Novelle von der „Marquise von O." zu verfilmen.

Die Offiziere, mit denen er zu tun hat, kennen natürlich die Erzählung von jener Dame nicht, die im Schlaf von einem Mann besucht wird und eines Tages ein Kind bekommt, obwohl sie der Ansicht ist und sein darf, daß sie ihre Jungfräulichkeit noch nicht verloren hat.

Die Marquise von O. soll - natürlich - Hilde Krahl spielen. Der Partner, der nach jener seltsamen Nacht auf lange Zeit verschwindet, soll Carl John sein, jener junge Mann, den Liebeneiner im Dritten Reich zweimal rettete.
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Carl John kauft ein gefräßiges Pferd - umsonst

John liest die Novelle Kleists, stellt fest, daß der Verführer der schlafenden Dame beritten ist und kauft sich sogleich ein Pferd. Es heißt Uschi und zeichnet sich durch ungeheure Gefräßigkeit aus. John weiß gar nicht, woher er das Futter für Uschi nehmen soll.

Bald stellt sich heraus, daß der Kauf Uschis höchst überflüssig war, denn die Briten haben auch etwas gegen den Film über die Marquise von O. Sie finden, vermutlich zu Recht, ein solcher Film sei nicht genügend „educational",zu deutsch erzieherisch. Erzieherisch aber sollen die Nachkriegsfil-me sein! Das deutsche Volk braucht so was doch!

Was nun? Soll Liebeneiner aufgeben? Ober Nacht kommt ihm ein dritter Einfall - und obwohl die Briten keineswegs begeistert sind, sagen sie diesmal: „In Gottes Namen!" Was will Liebeneiner nun - in Gottes Namen - verfilmen? Das erste bedeutende deutsche Nachkriegsdrama - oder, wie sich später herausstellen wird, das einzige.

Der Hamburger Wolfgang Borchert

Der Verfasser ist der Hamburger Wolfgang Borchert, 1921 geboren. Ursprünglich wollte er Buchhändler werden. Dann ging er in Lüneburg zum Theater, wurde eingezogen, kam zwanzigjährig an die Ostfront, erlitt eine schwere Verwundung, wurde halbwegs gesund - und verhaftet.

Denn er war in seinen Briefen sehr unvorsichtig gewesen. Er hatte erzählt, was er von Hitler hielt und vom Tausendjährigen Reich. Acht Monate verbrachte er in einem Militärgefängnis in Nürnberg. Dann kam das Todesurteil.

Tage vergingen. Wochen vergingen. Jede Stunde mußte Bordiert damit rechnen, daß sie seine letzte sein würde, Dann kam die Begnadigung. Er wurde zur Bewährung wieder an die Ostfront geschickt. Aber seine Gesundheit war schon unterminiert.

Als untauglich entlassen, ging er nach Hamburg, trat in Kabaretts mit eigenen Gedichten auf - und wurde wieder verhaftet. Denn auch das, was er dort vortrug, wurde als staatsgefährdend angesehen. Ein paar Monate Gefängnis in Berlin. Dann war der Krieg zu Ende. Borchert kam noch einmal nach Hamburg, schrieb ein bißchen, arbeitete an einem Theater als Regieassistent.

Aber schon hatte er ständig Fieber, schon wußten die Ärzte: es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es zu Ende gehen würde. Er selbst wußte es.
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Und er schrieb, er dichtete mit dem Tod um die Wette.

Knapp zwei Jahre blieben ihm noch, bis er in Basel, wohin Freunde ihn, den Todkranken gebracht hatten, die Augen für immer schloß.

Am Tage darauf wurde sein einziges Drama: „Draußen vor der Tür" in den Hamburger Kammerspielen zum ersten Mal aufgeführt. Und dieses Drama will Wolfgang Liebeneiner jetzt verfilmen. Er bleibt damit sich selbst treu. Denn hat er nicht immer nach jungen Menschen gesucht, nach Dichtern, die den Film durch neue Stoffe bereichern könnten?

Hat er nicht noch wenige Jahre vor Kriegsende alles unternommen, um die Dichter von morgen zu ermutigen? Ist nicht Borchert so ein Dichter von morgen, auch
wenn er dieses Morgen nicht mehr erleben durfte?

Eines ist sicher: „Draußen vor der Tür" kann kein Erfolg werden. Denn dieses schmale Stück - seine Aufführung dauert kaum zwei Stunden - enthält alles, was das Publikum nicht mehr sehen will, und nichts von dem, was das Publikum zu sehen und zu hören wünscht.
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Der Inhalt?

Es gibt ja kaum einen Inhalt! Ein Mann kommt aus russischer Kriegsgefangenschaft, nach Hamburg zurück. Er geht in seine Wohnung. Aber seine Frau, die ihn seit langem für tot hält, liegt mit einem anderen Mann im Bett.

Der Heimkehrer springt in die Elbe - aber die mag ihn nicht. Sie meint, er solle es noch einmal mit dem Leben versuchen. Er solle sich den Wind um die Nase wehen lassen. Die Elbe speit ihn wieder aus.

Beckmann, so heißt der Heimkehrer, hat einen ständigen Begleiter. Der besitzt keinen Namen. Beckmann nennt ihn den Anderen. Der Andere ist immer da, wenn Beckmann genug vom Leben hat und Schluß machen will.

Der Andere redet ihm zu, es doch noch einmal zu versuchen. Da ist ein Mädchen, das nimmt Beckmann mit nach Hause. Das wäre bereit, mit ihm das Leben wieder zu beginnen. Aber dieses Mädchen hat auch einmal einen Mann gehabt. Der ist in Rußland verschollen.

Wenn er zurückkäme - würde Beckmann nicht wie ein Dieb vor ihm stehen? Nein, er kann einem abwesenden Mann die Frau nicht stehlen.

Beckmann besucht seinen ehemaligen Obersten. Der hat ihm einmal die Verantwortung für zwanzig Mann übertragen - und nur elf kamen aus der Feuerlinie zurück. Beckmann möchte dem Obersten die Verantwortung zurückgeben, unter der er noch jetzt so schwer leidet.

Der Oberst, der im Kreise seiner Familie sitzt, versteht gar nicht, wovon Beckmann redet ...
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Beckmann geht in ein Kabarett.

Will ihn der Direktor nicht ein Lied vortragen lassen? Er singt von seiner Frau, die ihn betrogen hat. Und der Direktor erklärt :

„Damit machen Sie sich nur unbeliebt! Wo kämen wir hin, wenn alle Leute plötzlich die Wahrheit sagen wollten? Wer will denn heute etwas von der Wahrheit wissen?"

Also weiter. Beckmann wandert zu dem Haus, in dem seine Eltern wohnten. Aber jetzt wohnen ganz fremde Leute dort. Die Eltern haben sich umgebracht, als der Krieg verloren war. Sie waren nämlich Nazis. Sie haben den Gashahn aufgedreht. Die jetzigen Mieter bedauern: „Von dem Gas hätten wir einen ganzen Monat kochen können!"

Weiter. Beckmann hat ein langes Gespräch mit dem Anderen. Immer wieder will er seinem Leben ein Ende machen. Immer wieder hält ihn der Andere vom Selbstmord zurück.

Warum? Was gibt es denn noch im Leben, das wert wäre, gelebt zu werden?

„Das ist das Leben! Ein Mensch ist da, und der Mensch kommt nach Deutschland. Der Mensch friert. Er hungert und er humpelt. Ein Mensch kommt nach Deutschland ... Eine Tür schlägt zu und er steht draußen!"
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Es ist ein erschütterndes Drama.

Es hat Töne, die an Büchner und Lenz gemahnen. Aber ist es auch ein Film?

Liebeneiner muß wissen, daß der Stoff, den er gewählt hat, nicht gerade filmisch ist; muß wissen, daß dieser Stoff alles gegen sich hat, daß es ein Wunder wäre, wenn die Leute einen solchen Film sehen wollten. Und trotzdem macht er diesen Film. Er macht ihn ohne alle Kompromisse.

Beckmann ist in dem Theaterstück einer, den die Russen kahl geschoren haben, der ein steifes Bein hat und eine Gasmaskenbrille trägt - ein Ungetüm von einer Brille; eine richtige Brille kann er sich nämlich nicht leisten, und ohne Brille kann er nichts sehen.

Mit einer Gasmaskenbrille kann er zwar sehen, aber er selbst sieht lächerlich aus. Keiner vermutet, daß die Augen, die hinter der Gasmaskenbrille kaum sichtbar werden, auch weinen können.

Einen, der so komisch aussieht, nimmt keiner ernst. Die Gefahr läge nahe - und neun von zehn Regisseuren wären ihr verfallen - das alles ein bißchen zu mildern.
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Karl John muß für den Mann "herhalten" .....

Liebeneiner hat ja in Karl John einen sehr gut aussehenden Schauspieler. Aber er läßt ihn kahl scheren, er erspart ihm auch die Gasmaskenbrille nicht. Liebeneiner photographiert Hamburg dort, wo es am trostlosesten ist.

Liebeneiner hat in Hilde Krahl eine ungewöhnlich reizvolle Frau. Aber er zieht sie so entsetzlich an, wie nach Kriegsende Frauen eben angezogen waren. Auch diese würde lieber heute als morgen sterben.

Auch sie ist an die Elbe gekommen, um sich das Leben zu nehmen. Aber sie wird zusammen mit Beckmann weiterleben. Das ist keine große Liebe, die da vor unseren Augen erblüht - wenn man überhaupt von Blühen sprechen kann.

Wer hat in einer Zeit, in der man hungert und friert, schon die Kraft zu einer großen Liebe? Es ist, wie schon der Titel des Films sagt, die „Liebe 47" - nicht mehr, nicht weniger.
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Erschütternd die Szene im Kabarett.

Bei Borchiert singt Beckmann nur dem Kabarettdirektor vor; im Film darf er sich vor dem Publikum produzieren. Und das reagiert genauso wie im Stück der Direktor. Zuerst ein wenig erschreckt und dann angewidert. „Wer will denn heute etwas von der Wahrheit wissen?"

Und da dem so ist, will auch niemand etwas von dem Film wissen. Es wird ein großartiger Film, er steht künstlerisch auf sehr hoher Stufe - und bei den Filmfestspielen in Locarno erhält er den ersten Preis.

Aber die deutschen Kinos, in denen er läuft, bleiben leer. Die Kritiken sind gut, zum Teil sogar hervorragend - aber auch das hilft nichts.

Ein schwerer Schlag für Liebeneiner. Ein vielleicht noch schwererer für Karl John.

Seine Anhängerinnen sind entsetzt. Wie? War dieser John nicht ein sonniger Junge, ein bildhübscher Kerl? Und nun dieses graue Etwas mit der Gasmaskenbrille, dieser kahlgeschorene, schlecht gekleidete Selbstmordkandidat? Nein, den wollten sie nicht sehen!
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Aber es soll noch schlimmer kommen.

Der nächste Film von Karl John heißt „Die letzte Nacht". Die Geschichte spielt kurz vor Kriegsende in Frankreich. Das deutsche Heer ist bereits dabei, sich abzusetzen. Renee Meurier, eine schöne Französin, die für den Maquis arbeitet, sprengt eine Talsperre, um den Deutschen den Rückzug zu erschweren. Sie wird als Saboteurin zum Tode verurteilt.

Oberleutnant Harald Buchner bekommt den Auftrag, den nunmehr fast unmöglich gewordenen Rückzug der Deutschen zu decken. Er wie die Französin wissen: morgen werden sie nicht mehr leben. Und so verleben sie eine letzte Nacht.

Der Deutsche erfährt: Die Französin hat ihre Tat vor allem begangen, um den Krieg abzukürzen und Menschenleben zu retten. Er gibt zu, daß sie recht hat. Er läßt sie laufen.

Gewiß, er muß mit dem Leben dafür bezahlen. Aber ist dieses Leben nicht auch so verwirkt, da er doch kaum hoffen darf, von seinem Himmelfahrtskommando zurückzukommen? Ein erschütterndes Thema - allerdings kein ganz neues.
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Das Thema gab es schon einmal als Theaterstück

Nach dem ersten Weltkrieg gab es ein Theaterstück, in dem eine russische Spionin auf ähnliche Weise durch einen deutschen Feldwebel gerettet wurde.

Regisseur Eugen York macht den Film klar und doch zart, einfach und doch mit tausend psychologischen Lichtern. Die Französin: Sibylle Schmitz, wie immer ungemein erotisch, mit maskenhaftem Gesicht, die geborene Agentin.

Freilich ist es schon nicht mehr ganz leicht, mit ihr zu arbeiten. Sie trinkt. Sie trinkt viel zu viel. Sie trinkt Wassergläser voll Cognac. Die Tragik ihres Untergangs beginnt sich abzuzeichnen.

Der Oberleutnant: Karl John. Mit dieser Rolle, die er mit großer Überzeugungskraft spielt, erledigt er sich fast selbst. Das Publikum verwechselt, wie so oft, Rolle und Schauspieler. Als Beckmann mit der unmöglichen Gasmaskenbrille hat John schon den Frauen nicht gefallen.

Als Oberleutnant, der Verrat begeht - schließlich ist es ja Verrat - verabscheuen ihn die Männer. Er wird von ehemaligen Soldaten auf der Straße angehalten und zur Rede gestellt. Er muß erfahren, daß er „das Ritterkreuz lächerlich gemacht hat". Er hört Sätze wie: „Nein, das dürfen Sie uns alten Landsern nicht antun! Wir haben schließlich unsere Haut zu Markte getragen ..."
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Verwechslung von Film und Wirklichkeit? Natürlich!

Davon lebt ja der Film. Aber in diesem Film wirkt es sich höchst negativ für Karl John aus. Es wird Jahre dauern, bis er sich von diesen beiden Filmen erholt.
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