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"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.

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SECHZEHNTER TEIL • GROSSE THEMEN • KLEINE FILME

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WAS UNS ANGEHT

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März 1951: Alfred Hugenberg stirbt.

Man hat in den letzten Jahren wenig von diesem fabulösen Mann gehört, dessen Name aus der deutschen Filmgeschichte nicht wegzudenken ist, der bereits während des ersten Weltkrieges den Film zu Propagandazwecken einsetzte und der in den zwanziger Jahren, als die UFA in den letzten Zügen lag, diese aufkaufte und in jedem Sinne - finanziell, künstlerisch - sanierte.

Freilich ist auch nicht aus dem Leben Hugenbergs wegzudenken, daß er etwas Ähnliches zugunsten Adolf Hitlers unternahm, daß er ihm unter die Arme griff, als die Nationalsozialistische Arbeiterpartei bereits in den letzten Zügen lag, daß er ihm Geld besorgte, daß er schließlich, mehr als irgendein anderer, Hitler an die Macht brachte.

Davon freilich sprach Hugenberg in den letzten Jahren nicht mehr. Da Hitler ihn nach einem halben Jahr ausgebootet hatte und später dem ganzen Hugenberg-Konzern - den Zeitungen sowohl wie der UFA - größte Schwierigkeiten bereitete oder durch Goebbels bereiten ließ, fand Hugenberg, auch er sei ein Opfer des Faschismus und meldete nach Kriegsende alle möglichen Schadensersatzansprüche an.

Eine groteske Situation: Der Mann, der eine falsche Rechnung machte, bei der andere Milliarden draufzahlten - von den Millionen Menschenleben gar nicht zu reden - verlangte, daß ihm das Deutsche Reich diese Rechnung bezahle.

Die DEFA verfilmt Heinrich Manns Roman „Der Untertan"

Um die Zeit, da Hugenberg stirbt, verfilmt die DEFA Heinrich Manns Roman „Der Untertan", der eigentlich in der Zeit spielt, in der Hugenberg groß war und den Typ Hugenbergs zur Hauptperson hat: den Mann, der zuerst und zuletzt Untertan ist, der nach oben katzbuckelt, nach unten tritt, der stramm steht, wenn vom Kaiser oder überhaupt von irgendeiner Autorität die Rede ist, den ewigen Korpsstudenten, für den es kein größeres Glück gibt als sich das Gesicht zerschlagen zu lassen.

Den Mann, der prinzipiell keine Frau heiratet, mit der er einmal etwas gehabt hat, auch wenn er der Verführer war; den Mann, der immer oben schwimmt wie das Fett auf der Suppe, immer Geschäfte macht, aber nie von Geschäften spricht, sondern immer nur von Idealen.

Der Regisseur, der diesen Film dreht, ist Wolfgang Staudte, der Schöpfer des ersten deutschen Nachkriegsfilms „Die Mörder sind unter uns", ohne Zweifel neben Käutner der bedeutendste deutsche Filmregisseur.

Gewiß, es gibt noch drei oder vier gescheite, gefällige, liebenswürdige oder auch ernstzunehmende Regisseure in Deutschland, aber doch eben nur zwei, die große zentrale Themen anpacken können, und beide sind um diese Zeit nicht im Rennen - zumindest nicht was Westdeutschland angeht.

Käutner wird noch immer boykottiert und .......

....., Staudtes Aktivität ist auf die östliche DEFA beschränkt. Auch diesmal legitimiert er sich wieder als ein großer Könner, als ein überlegener Führer der Schauspieler, zum Teil recht unbekannter und nicht einmal besonders guter Schauspieler, die unter ihm weit über sich selbst hinauswachsen. Als einer, der Visionen hat.

Ja, Staudte vermag seinen Stoff hinreißend zu gestalten, auch wenn dieser Stoff vielleicht schon etwas überlebt ist - denn das Vorkriegs-Korpsstudententum, das Muckertum, das Untertanentum ist ja wirklich eine Angelegenheit von gestern.

Diese Verfilmung seines Romans hätte die begeisterte Zustimmung Heinrich Manns gefunden, bis auf die letzten paar Meter.
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Der Film endet völlig anders als der Roman ...

Während der Roman nämlich vor dem ersten Weltkrieg endet, endet der Film nach dem zweiten Weltkrieg. Eben haben wir noch einer Denkmalsenthüllung aus dem Jahre 1910 oder 1912 beigewohnt. Ein Gewitter zieht herauf.

Alle, die der Feier beigewohnt haben, flüchten vor dem niederprasselnden Regen: in den nachfolgenden - symbolischen - Sturm, in dessen Verlauf - soweit wir entdecken können - alles weggefegt wird, nicht nur die Hüte und Regenschirme der Flüchtenden, sondern die halbe Stadt.

Denn als der Regen nachläßt, als man wieder sehen kann, was geschehen ist, ist nicht nur der erste, sondern auch der zweite Weltkrieg vorüber und das Dritte Reich dazu - musikalische Zuschauer haben das schon aus der Begleitmusik geschlossen, in der die „Wacht am Rhein" und das „Horst Wessel-Lied" immer wieder, wenn auch stark karikiert, auftauchten und schließlich verhallten.

  • Und die Moral von der Geschicht:
  • „Mach' keine Weltkriege nicht!"

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Ein Kunstwerk hat ja niemals eine Moral !!!

Aber ein Kunstwerk hat ja niemals eine Moral, die verkündet werden muß; die Folgerungen sind aus dem Handlungsablauf spürbar. Ein Kunstwerk will gestaltet werden, es braucht keine zusätzliche Predigt.

Warum also das aufgepappte Ende des „Untertan"-Films?

Eine Frage, die leicht zu beantworten ist. Denn erst im Februar 1951 hat der Präsident der Sektion Film der DEFA, Kurt Maetzig, der Öffentlichkeit mitgeteilt, nach sowjetischer Kunstauffassung sei für die Arbeit der DEFA entscheidend, daß diese künftig keine Filme mehr herstelle, die nicht in Dialog und Bildgestaltung den Prinzipien des Marxismus - Leninismus und dem sozialistischen Realismus entsprächen.

„Wirklichkeitstreue muß sich mit Parteilichkeit paaren!" Damit ist alles erklärt. Es kam also nicht darauf an, einen großen Roman zu verfilmen, ein Stück Welt zu zeigen, ein paar Menschen darzustellen. Es kam darauf an, Partei zu sein.

Worauf hatte sich Wolfgang Staudte da eingelassen ?

Ist Staudte denn ein Kommunist, der dies alles mitmachen muß? Liegt ihm der Kommunismus so sehr am Herzen, daß er nicht auch im Westen arbeiten könnte?

Staudte stand immer links und wird immer links stehen. Vielleicht könnte man ihn am besten einen altmodischen Liberalen nennen, einen Demokraten der guten alten Zeit. Es geht ihm um die Freiheit, sich ausdrücken zu dürfen, zu formen, was ihm am Herzen liegt.

Gegen den Westen hat er - um diese Zeit - wenig mehr, als daß er sich in seine Filme nicht hineinreden lassen will, und glaubt, bessere Filme machen zu können als „Schwarzwaldmädel" oder „Die Dritte von rechts", ja, sogar die Dritte von links.
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Zwei neue Filme behandeln die Probleme der modernen Jugend

Um die gleiche Zeit werden zwei Filme gedreht, die uns ebenfalls angehen - oder angehen sollten. Sie behandeln die Probleme der modernen Jugend.

Der eine, „Sündige Grenze", zeigt die Jugend, die Geld verdienen muß oder Geld verdienen will und, ohne daß sie recht weiß, was sie tut, dem Verbrechen verfällt. Der andere Film behandelt das ewige Thema der erwachenden Triebe. Er heißt „Primanerinnen".

Der Film von der „Sündigen Grenze" wird ein Erfolg durch seine Aktualität. Der Film von den „Primanerinnen" - und natürlich auch von den Primanern - wird ein Erfolg durch seine Menschlichkeit.

Drehbuchautor und Regisseur des Films „Sündige Grenze" ist Robert A. Stemmle. Er gehört zu den geschicktesten, gescheitesten und geschmackvollsten deutschen Drehbuchautoren. Viele, im besten Sinne des Wortes ungewöhnliche Filme sind von ihm verfaßt worden.

Man darf also ein großartiges Drehbuch erwarten - um so mehr, als es sich hier um ein großartiges Thema handelt.
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Hier die (ursprüngliche) Story ....

Die sündige Grenze - das ist die Grenze in der Nähe von Aachen, dort stoßen Deutschland, Belgien, Luxemburg und Holland zusammen. Dort blüht der Schmuggel, insbesondere der Schmuggel mit Kaffee, der in jenen Tagen in Deutschland durch ungeheure Steuern belastet und sehr viel teurer ist als in den Nachbarländern.

Und wer schmuggelt Karfee? Kinder. Es gibt geradezu Banden von Kindern, organisiert durch skrupellose Verbrecher, die im Schatten bleiben und ungeheure Gewinne einstecken, während die Jugendlichen in des Wortes wahrster Bedeutung ihre Haut zu Markte tragen.

Selbst wenn sie durchkommen, nehmen sie Schaden an ihrer Seele, und wenn sie auch mit ihren zwölf, fünfzehn oder achtzehn Jahren nicht als Verbrecher bezeichnet werden können, so ist es fast undenkbar, daß sie später eine andere Laufbahn einschlagen. Ein hochaktuelles Thema.

Ein dramatisches Thema, das eigentlich nur erzählt zu werden braucht - die Tatsachen sprechen ja für sich allein. Stemmle versteht sich auf so etwas vorzüglich.

Er wühlt erregt in den Akten, die man ihm zur Verfügung gestellt hat. Er studiert die Statistiken und erklärt, daß der Film, den er machen will, eigentlich schon vom Leben geschrieben ist. Er braucht nur das Material, das vor ihm auf dem Schreibtisch liegt, in Bilder zu bannen.
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Und dann kommt etwas ganz anderes heraus.

Kein Tatsachenbericht, sondern Kolportage. Was ist geschehen? Irgend jemand hat herausgefunden, daß dieses einmalige Thema nicht genügt, um einen spannenden Film zu machen, daß unbedingt eine Liebesgeschichte hinein müsse, daß auch noch ein Bösewicht fehlt, der das junge Mädchen verführt oder doch beinahe verführt, daß es einen Kriminalkommissar geben muß, der nicht nur das Treiben der Jugendlichen aufspürt, sondern sich dabei auch in besagtes junges Mädchen verliebt; kurz, daß noch zahlreiche Komplikationen geschaffen werden müssen, die nichts mit dem Problem des Schmuggels durch Kinder zu tun haben.

Dieses Problem ist anscheinend nicht gewichtig genug für einen Film von neunzig Minuten Dauer. Die Folge: aus einem Tatsachenfilm wird ein Kolportagefilm, und die ganze Sache hat so viel Wahrscheinlichkeit wie die Schmugglerszene aus dem dritten Akt der Oper „Carmen".

Es ist zum Heulen, wenn man bedenkt, welch großartiges Thema hier vertan wird. Anstatt aufzuzeigen, warum junge Menschen zu Schmugglern werden, zeichnet Stemmle die Seelenqualen einer Räuberbraut, die zwar Boogie-Woogie tanzt, aber doch ein gutes Herz hat.
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Die liebliche Inge Egger ......

Und wie wird das gespielt - und von wem? Wer fällt einem zuletzt ein, wenn man an ein junges Mädchen denkt, das an besagter sündiger Grenze Kaffeeschmuggel betreibt?

Die liebliche Inge Egger. Also wird Inge Egger für die Hauptrolle engagiert. Wer fällt einem zuletzt ein, wenn man an einen hartgesottenen Kriminalbeamten denkt, der an der Grenze Dienst versieht und Jugendliche mit der notwendigen Brutalität bekämpft?

Dieter Borsche. So muß also Dieter Borsche den Kommissar spielen. Was tun Jugendliche, wenn sie Kaffee geschmuggelt haben? Sie veranstalten Orgien.

Im Film von R. A. Stemmle wimmelt es geradezu von solchen Orgien. So wird dieser Film trotz aller Aktualität des Themas, die nur gelegentlich durchschlägt, eine Verfälschung, eine Verniedlichung der Wirklichkeit.
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Die verlogene Karriere des Drehbuchautors R. A. Stemmle

Und mit diesem Film beginnt die neue Karriere des Drehbuchautors R. A. Stemmle, der von nun an in fast jedem seiner Drehbücher seine große Vergangenheit verleugnen wird, um an Stelle der interessanten Wirklichkeit eine völlig uninteressante und kolportagehafte Unwirklichkeit zu setzen.

Um nur ein Beispiel zu erwähnen: einer der nächsten Filme R. A. Stemmles ist „Toxi". Das Problem ist das der Besatzungskinder, der kleinen Schwarzen, die von ihren ledigen Müttern in Deutschland aufgezogen werden.

Ein brennendes Problem, sollte man denken. Material ist in Hülle und Fülle da. Aber was dabei herauskommt, hat wenig mehr mit dem Problem, nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun.
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Warum? Warum vertut Stemmle seine große Begabung?

Warum will er, der einmal bessere Tage gesehen - und wir sahen sie mit ihm und durch ihn - nun durchaus sogenannte Geschäftsfilme machen, die natürlich keineswegs alle Geschäfte werden?

Weil dies ja das ewige Schicksal der Filmleute ist: daß sie gerade dann Geld verlieren, wenn sie ganz sicher gehen wollen, und dann das ganz große Geschäft machen, wenn sie bereit sind, etwas zu riskieren, ja, sogar bereit, Geld zu verlieren.
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Der andere Jugendfilm - „Primanerinnen" - zeigt, .....

..... wie der Film von der „Sündigen Grenze" hätte gemacht werden können. Im Grunde genommen sprach alles gegen die Verfilmung dieser Geschichte von der erwachenden Liebe.

Der Stoff ist nicht nur nicht aktuell, er ist geradezu altmodisch. Es handelt sich nämlich um eine Art Selbstbekenntnis in Novellenform, das unter dem Titel „Ursula" Mitte der dreißiger Jahre erschien.

Eine bittersüße Liebesgeschichte aus dem kleinen verträumten Städtchen Hersfeld, die insbesondere während des Krieges in zahllosen Feldpostausgaben - es heißt, daß die Auflage schließlich vierhunderttausend betragen habe - vermutlich Millionen Landsern die Zeit ver- und die Tränen in die Augen getrieben hat.

Der Erzähler Klaus E. Börner, der in „Ursula" seine Jugendliebe schilderte, hielt diese, wie das Primaner nun einmal tun, offenbar für die wichtigste Geschichte der Welt.
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Und als ihr Geliebter einer anderen sein Herz schenkt ......

Seine Ursula tat es auch, und als ihr Geliebter einer anderen sein Herz schenkt, geht sie selbstverständlich aus der Welt. Selbstverständlich - so sind Primanerinnen nun einmal.

Sind sie wirklich so? Vielleicht waren sie noch so 1935, denken die Filmproduzenten 1952. Vermutlich dachte man 1935 ähnlich über 1920 oder 1915.
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So kann man 1952 die Novelle „Ursula" nicht verfilmen ....

Jedenfalls ist es den Filmproduzenten klar, daß sie die Novelle „Ursula" nicht so verfilmen können, wie sie geschrieben worden ist. Wenn es überhaupt noch notwendig ist, sie in diesem Beschluß zu bestärken, dann erfolgt diese Bestärkung durch die sogenannte „Suchaktion", die die Junge Film-Union anstellt, um eine Schauspielerin für die Rolle der Ursula zu bekommen.
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  • Anmerkung : Die Junge Film-Union war von 1974 bis 1951 eine Filmfirma in Bendestorf südlich von Hamburg, die nach dem Konkurs 1951 mit Michael Jary bereits Ende 1952 wieder auflebte.

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Ursprünglich sollte Maria Schell sie spielen, aber sie lehnte ab - und es ist nicht unamüsant festzustellen, warum.

Sie erklärte, sie wolle nur noch mit Dieter Borsche filmen und er könne doch nun beim besten Willen keinen Primaner mehr darstellen.
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Nochmal zurück zur „Suchaktion" ....

Um aber auf die „Suchaktion" zurückzukommen: es melden sich keineswegs blonde Seelchen, sondern sehr handfeste junge Damen, die die recht gesunde Anschauung vertreten, daß man irgendwie leben muß - und sei es dadurch, daß man Filme macht.

Da schreibt zum Beispiel ein Mädchen der Jungen Film-Union: „Ich fasse Schnecken mit und ohne Haut mit Vergnügen an, esse sie auch, wenn es sein muß, roh auf, trage meinen Freund mit Leichtigkeit Huckepack, setze bei der Entdeckung einer Untat die unschuldigste Miene auf ..."

Das Letztere offenbar, um zu beweisen, daß sie schauspielerische Talente besitzt. Oder eine andere: „Bei mir ist es ein seltsamer Drang, den ich mit keinem Mittel unterdrücken kann ..."

So hätte Ursula nicht geschrieben. Die Junge Film-Union gibt es auf, durch die Zeitungen eine Ursula zu finden.
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Und findet sie trotzdem in der jungen Ingrid Andree

Und findet sie trotzdem durch die Zeitungen - nämlich durch ein Bild der jungen Schauspielerin Ingrid Andree. Ingrid Andree soll demnächst im Hamburger Thalia-Theater auftreten. Nicht gerade eine Hauptrolle soll sie bekommen, sie ist nicht der Star, sie ist nur eine - allerdings begabte - Nachwuchsschauspielerin.

Ingrid Andree, die natürlich nicht ganz so poetisch heißt, wie sie sich nennt, sondern Ingrid Unverhau, hat erst vor kurzem den Entschluß gefaßt, Schauspielerin zu werden, hat die Schauspielschule besucht.

Die Eltern, guter Mittelstand, bestanden darauf, daß sie den problematischen Beruf, den sie ergreifen will, wenigstens erlerne - und nun steht sie vor ihrer ersten Premiere. Ihr Herz gehört dem Theater. Nichts könnte ihr gleichgültiger sein als der Film. Das ist ja gar keine Kunst!
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Als der Produzent anruft, bekommt er einen Kraftausdruck

In diesem Augenblick telephoniert der Produzent, der sich für sie interessiert. Er möchte sie sofort sprechen. Noch heute. „Aber heute abend habe ich doch Premiere! Jetzt muß ich mich hinlegen, um für heute abend frisch zu sein." „Aber Ihre große Chance, der Film ..." „Der Film ..." Und dann sagt Ingrid Andree etwas, das nicht gedruckt werden kann.

Würde Ursula so sprechen? Niemals!

Aber Ursula und Ingrid Andree sind überhaupt grundverschiedene Geschöpfe. Ingrid Andree ist weder blond noch verträumt, sie wirkt, obwohl zart und klein, durchaus nicht wie ein schmales Reh, sie ist schwarzhaarig und sehr resolut, sie steht mit beiden, übrigens hübsch geformten Beinchen sehr fest im Leben.

Die Tatsache, daß der Film sie haben will, daß man ihr gleich eine Hauptrolle gibt, spricht sehr für die Phantasie der Männer von der Göttinger Filmaufbau GmbH.

Sie haben, noch bevor die erste Klappe gefallen ist, diese 1935 spielende Geschichte ins Jahr 1952 transponiert, indem sie, anstatt ein blondes Seelchen zu suchen, sich zur resoluten Ingrid Andree bekannt haben.
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Der jugendliche Held wird der unbekannte Walter Giller

Das gleiche gilt von dem Darsteller des jugendlichen Helden, der keiner ist. Die Filmleute holen einen in weiten Kreisen unbekannten Walter Giller.

Der ist nun auch kein dichtender Primaner von gestern. Er ist vielmehr ein junger Mann von heute oder von morgen, einer, den das Leben nicht unterkriegen kann, den nicht einmal Krieg und Kriegsgefangenschaft in seinen Lebensplänen irremachen konnten, der dies und das war, bis er sich entschloß, Schauspieler zu werden, der kleine und kleinste Rollen spielte, statierte und schließlich eine Chance im Film bekam.

Auf den ersten Blick scheint der lange schlaksige Bursche der geborene Filmkomiker zu sein. Und der soll einen tragikumwitterten jungen Mann spielen, einen, für den sich Mädchen umbringen?

Einen, der Sätze zu sagen hat, die Klaus E. Börner in einer ganz anderen Zeit schrieb? Als Giller die Novelle „Ursula" liest, ist er entsetzt.

Sowas kann man doch nicht spielen, solche Sätze kann man doch nicht sagen! Das würde er nie über die Lippen bringen.
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Einst war die Story tränentriefend und sentimental ....

Muß er ja auch nicht! Denn ganz so tränentriefend und sentimental, wie die Story einst war, bleibt sie nicht.

Ernst ist sie auch jetzt noch, und es fällt einem jungen, so modernen Menschen wie Giller recht schwer zu sagen, was er zu sagen hat. Aber gerade das gibt seinen Sätzen eine gewisse innere Wahrhaftigkeit, die ein glatter Schauspieler ihnen nie zu verleihen vermöchte.

Gerade die Tatsache, daß Ingrid Andree wie ein Mädchen wirkt, das längst bevor der betreffende junge Mann es überhaupt weiß, sich entschlossen hat, seine Freundin zu werden - gerade das läßt die Szenen, in denen sie scheu und zurückhaltend sein muß, so erschütternd werden.

Denn wir erleben, daß die jungen Menschen von heute, die so schnoddrig, so brutal, so gleichgültig zu sein scheinen, in Wirklichkeit auch ihre Hemmungen haben.

Kein Gefühl bleibt ungebrochen. Ingrid Andree lächelt noch unter Tränen und weint, wenn sie lachen soll. Walter Giller wirkt niemals pathetisch, sondern allenfalls nervös, verliert allenfalls seine guten Manieren, niemals seine Fassung.

So wirkt dieser Film von der erwachenden Liebe junger Menschen überzeugend und wird schließlich ein außerordentlicher Erfolg.
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Zwei Filmkarrieren nehmen ihren Anfang:

Walter Giller und Ingrid Andree stellen sich fast über Nacht an die Spitze der langen Liste aussichtsreicher Nachwuchsschauspieler. Man wird noch viel von ihnen hören, wenn sie auch in den nächsten Jahren nicht wieder das Glück haben werden, gegen ihren Typ spielen zu müssen, sondern das problematische „Glück", immer jenen Typ zu verkörpern, auf den die Branche sie festgelegt hat.
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Erich Pommer hat sein Versprechen wahrgemacht.

Er ist nach Deutschland zurückgekehrt, nicht mehr als amerikanischer Filmoffizier, sondern als deutscher Produzent.

Sein erster Film: „Nachts auf den Straßen". Es scheint, als habe Pommer in den vielen Jahren, in denen er Behörde spielen mußte, sein Talent als Produzent nicht verloren, als habe er in den vielen Jahren, die er in Hollywood, New York und London weilte, die Nase dafür behalten, was in Deutschland interessieren muß.
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„Nachts auf den Straßen" ist geboren aus unserer Zeit.

Und zum Unterschied von der „Sündigen Grenze" thematisch nicht verwässert.

Die Ähnlichkeit zwischen diesen Filmen liegt auf der Hand. In beiden Fällen spielt die Landschaft eine Hauptrolle. Sie ist nicht nur Kulisse, sie wird Schicksal.

Bei der „Sündigen Grenze" war es eben die Grenze. In „Nachts auf den Straßen" ist es die Autobahn. Der Held, ein Überlandfahrer, verbringt den größten Teil seines Lebens und vor allem seiner Nächte auf den Straßen.

Dabei erlebt er manches, was einen daran zweifeln läßt, daß er jemals wieder nach Hause kommt. Aber zuletzt findet er doch zurück ...
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Fritz Rotter und „Ich küsse Ihre Hand, Madame!"

Ursprünglich gab es noch eine riesige Schmuggel- und Gangstergeschichte, die in den Film eingebaut war.

Es spricht für den Produzenten Erich Pommer, es spricht für die Drehbuchautoren - Fritz Rotter, der einst europäische Berühmtheit erlangte durch seinen Schlager „Ich küsse Ihre Hand, Madame!" und aus Hollywood zurückgekehrt ist, und Helmut Käutner, der um diese Zeit zwar noch Drehbücher schreiben, aber keine mehr verfilmen darf - es spricht für alle, die an diesem Film mitwirken, daß die Gangstergeschichte schließlich nur noch Anlaß, nur noch Aufhänger wird und daß das Schicksalhafte der Landstraße zum Hauptmotiv aufrückt.

Erich Pommer hat verschiedene Gründe dafür, diesen Film zu produzieren. Einer davon ist, daß man in ein Vorhaben, dessen wesentlichste Dekoration die Autobahn ist, nicht allzu viel Geld hineinstecken muß.

Der zweite und wichtigere ist Hans Albers. Pommer hat viele Filme mit Hans Albers gemacht, bevor er nach Amerika ging. Er hat immer an diesen großen Schauspieler geglaubt, und auch die relativ mittelmäßigen Kassen, die der blonde oder nicht mehr so blonde Hans in den letzten Jahren erzielte, können ihn nicht irremachen.

Hier zeigt Pommer wieder einmal, daß er, im Gegensatz zu vielen angeblichen Produzenten, wirklich einer ist.
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Pommer versucht, Stars aufzubauen .....

Pommer versucht, Stars nicht abzubauen, wie die anderen Produzenten es oft tun, er versucht Stars aufzubauen.

Er erklärt nicht, daß Albers sich überlebt habe - in der Hoffnung, ihn billiger zu bekommen; er weist nicht darauf hin, daß die Kassen der Albers-Filme in den letzten Jahren nicht gerade welterschütternd waren.

Er meint, alles was Albers fehle, sei die richtige Rolle. Und er beweist es durch seinen ersten deutschen Film.

Ja, Albers war seit vielen, vielen Jahren nicht mehr so gut und hat auch nicht mehr so viel Menschen ins Kino gelockt wie zu diesem Autobahnfilm.
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Hans Albers und Hilde Knef - Ein Riesenerfolg.

Er darf einen Mann seines Alters spielen, aber einen, der doch noch für Frauen in Frage kommt. Er ist mit einem Wort "noch da".

Neben ihm als die lockere Dame im Solde der Gangster Hilde Knef, nun schon als „Sünderin" etabliert, auch sie wesentlich stärker als in ihren letzten Filmen, weil erdgebundener, weil sie nicht in der Phantasie-, Dirnen- und Bar-Welt Willi Forsts leben und sündigen muß, sondern in einer wirklichen Welt, weil sie nicht die mondäne Dirne sein muß, an der sozusagen sämtliche Männer der Welt zugrunde gehen, sondern nur ein kleines dummes Mädchen, das allenfalls geschickt genug dazu ist, einem alternden Mann ein paar Tage und Nächte den Kopf zu verdrehen.

Ein Riesenerfolg. Und ein kollektives Aufatmen der Presse: endlich ein Film, der wieder etwas mit uns zu tun hat - schreiben die Kritiker. Wirklich, das deutsche Publikum hat genug von dem, was in den letzten Jahren an Schund, Klamauk und Schmuddel geboten worden ist.
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