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DIE VORWELT DES FILMS

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EINE ALTE SEHNSUCHT DER MENSCHHEIT

Ein geistreiches Buch, „Das Zeitalter des Films" von Joseph Gregor, beginnt mit dem ebenso lapidaren wie verblüffenden Satz: „Der Film ist so alt wie die Menschheit."

Man wird diese kühne Behauptung vielleicht ein wenig übertrieben finden. Eines aber mag stimmen, daß die Sehnsucht des Menschen nach Wiedergabe des bewegten Lebens so alt ist wie seine künstlerische Betätigung überhaupt. Denn wenn Bewegung und Leben auch nicht identisch sind, so scheint es doch zumindest dem primitiven Beobachter kein Leben ohne sichtbare Bewegung zu geben. Die Nachbildung lebender Wesen in starrer Ruhe konnte daher nur die unvollkommene Erfüllung eines primitiv-künstlerischen Gestaltungstriebes bedeuten.

Mit Recht weist Gregor darauf hin, daß schon die Höhlenbilder der ältesten Steinzeit, so die Tierfresken von Altamira, die auf ein Alter von etwa zwanzigtausend Jahren zurückblicken, „den Willen des Künstlers zur Darstellung von Phasen zeigen", also einen Versuch darstellen, zeitlich Verschiedenes, Steinplatten des Kivik-Monuments in schönen Zustands- oder Bewegungsphasen, durch lineare Wiederholung, das heißt „durch bloße Aneinanderreihung ohne Bindung als Gesamtbild auszudrücken und er findet diese „erkenntnistheoretische Urzelle des Films" in schwedischen Felsbildern der Bronzezeit etwa 2000 v.Chr. und in den berühmten Steinplatten des Kivik-Monuments in Schonen „in einer wohl unbestreitbaren Weise" bestätigt.
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Das Studium eines altägyptischer Reliefs

Noch klarer werden diese Eindrücke beim Studium altägyptischer Reliefs. Die gleiche Person oder das gleiche Tier werden immer wiederholt, um den Eindruck der Bewegung hervorzurufen. Im Grabe des Menne (westliches Theben XVIII. Dyn.) gibt es eine Schnittergruppe, wo Arbeiter mit der Sichel sich sukzessive neigen, das heißt, eine Figur immer gebeugter erscheint als die vorhergehende, es muß also aus dieser Bilderfolge notwendig der Eindruck des Mähens mit der Sichel entstehen.

„Das Bild, in dem nichts verhindert, die erste filmische Darstellung zu sehen (um 1400 v. Chr.), wendete also eine modifizierte Rekurrenz an; wohl gleichen sich die Arbeiter aufs Haar, aber das Bewegungsstadium ist verändert."
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Bild
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1617

Würde man die Figuren des Maurers einzeln auf einen Filmstreifen photographieren und dann abrollen lassen, müßte der Eindruck einer Bewegung, des Niederbeugens, entstehen und wir hätten einen dreitausend Jahre alten Trickfilm vor uns. Auch der moderne Film ist ja nicht Bewegung, sondern er täuscht diese durch ratsche Aufeinanderfolge an sich unbewegter Bilder vor.

Unter solchen Gesichtspunkten fällt es dann schon leichter, auch in der weiteren Entwicklung künstlerischer Gestaltung fast bei allen Völkern ähnliche Motive aufzufinden, so auf den Friesen der griechischen Tempel, auf etruskischen Vasen, Triumphbögen der Cäsaren, byzantinischen Mosaiken, gotischen Buchmalereien, in der Biblia pauperum, den berühmten Hungertüchern und barocken Kupferstichfolgen von Prunkfesten und Leichenzügen.

Greifen wir aus diesen Beispielen jene, manchmal aus Dutzenden von Querfoliostücken bestehenden, kunstvollen Festschilderungen der Barockzeit heraus. Sie sind eigentlich, als Einzelblätter betrachtet, durch ständige Wiederholung der Motive, langweilig und monoton.

Die Sache bekommt aber ein anderes Gesicht, wenn wir die Gebrauchsanweisung lesen, die der Künstler hierzu gibt, etwa jene zum größten Festzugsdenkmal der Barockzeit, der im Jahre 1617 stattgefundenen Trauerfeier für Karl III. von Lothringen.

Es heißt da: „Die achtundvierzig Tafeln dieses Leichenzuges können, wenn man sie von der ersten bis zur letzten Nummer nach den Zahlen, mit denen sie versehen sind, zusammenheftet, in ein einziges Band (,Rouleau') gebracht werden."

Gregor sagt hierzu: „Würde jemand auf den Gedanken verfallen sein - bei der Vorliebe des Zeitalters für derartige Spielereien ist es durchaus nicht ausgeschlossen -, das nach der Anweisung des Künstlers hergestellte Band (Rouleau) auch wirklich, wie dieser Ausdruck gewählt ist, abrollen zu lassen, so würde man nichts anderes erhalten haben als eine Art von Film, der das Leichenbegängnis Karls III. von Lothringen festhält."

1515

Übrigens gehört auch der berühmte Festzug Kaiser Maximilians von Albrecht Dürer aus dem Jahre 1515 und als späterer Nachfahre der Jubiläumsfestzug vor Kaiser Franz Joseph I. von Hans Makart hierher. Dem Filmprinzip am nächsten aber kommen die genialen Illustrationen von Wilhelm Busch, dessen einzelne Bewegungsphasen an Trickfilmzeichnungen erinnern.

Vielleicht mag es als eine Spielerei erscheinen, Jahrtausende zurückzugehen, wenn vom Film die Rede ist. Aber der ernste Beobachter, der nicht nur Wirkungen, sondern auch Ursachen erforschen will, kann an der Tatsache nicht vorübergehen, daß ein so fulminanter Einbruch des Films in das menschliche Erlebnis unmöglich gewesen wäre, wenn er in der Psyche des Menschen nicht eine Empfänglichkeit vorgefunden hätte, die geradezu an die Befriedigung eines Urtriebes gemahnt.

Dieser kann aber nicht von gestern auf heute im Menschen erwachsen sein, sondern er muß seit jeher in seiner Natur latent vorhanden gewesen sein. Es ist, wie Gregor sagt: „Das Ringen der Menschheit um ein gestaltendes Prinzip", hervorgerufen aus dem Wunsche, Bewegungen nicht mittelbar (in ihren Phasen), sondern unmittelbar (raumzeitlich) darzustellen.

Es ist klar, daß die darstellende Kunst dieses Prinzip nur andeuten kann, das übrige aber der Phantasie des Menschen überlassen muß. Der Mensch will aber mehr, er will die Wirklichkeit und, falls er sie nicht erreichen kann, zumindestens die Illusion. Er erfindet hierzu technische Apparate, beginnt die Gesetze der Optik zu erforschen, die Effekte der Spiegelung zu gebrauchen, mit Hilfe des Lichtes Schattenbilder zu werfen. Seine Freude am Spielzeug mengt sich mit seiner Empfänglichkeit für das Übersinnliche. Er konstruiert das mechanische Theater, um zu täuschen, und lernt zaubern, um zu betrügen.
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MERKWÜRDIGES AUS DEM ALTERTUM

Die Forschungen Will Days haben es wahrscheinlich gemacht, daß die Chinesen, die ja auch sonst vieles früher wußten und kannten als wir Europäer, schon vor etwa siebentausend Jahren die Kunst verstanden haben, Schattenbilder aus Büffelhaut (wirklich Büffelhaut .... in China ???) geschnittener Figuren auf weißem Pergament erscheinen zu lassen, die allerlei Bewegungen ausführten.

Wenn man sich nun vorstellt, daß diesen Schattenspielen eine Handlung zugrunde lag, und die Vorführer vielleicht noch Dialoge hierzu sprachen, so finden wir darin einen Vorläufer des Tonfilms, wobei sogar schon das Prinzip der Projektion Anwendung gefunden haben könnte.

Diese chinesischen Schattenspiele sind durch die Jahrtausende lebendig geblieben und haben sich über die ganze Welt verbreitet. Sie wurden unter anderem noch 1842 in Algier vorgeführt, wie ein zeitgenössischer Stich beweist.

Ob die Antike optische Apparate zur Bilddarstellung gekannt hat, ist eine alte Streitfrage. Mancherlei merkwürdige Begebenheiten, worüber die alten Schriftsteller berichten und die man als optische Illusionen auslegt, so die Göttererscheinungen in den heiligen Tempeln, scheinen auf die Kenntnis solcher Vorrichtungen hinzudeuten.

Um die Lösung dieser Fragen bemühte sich um 1830 der Physiker Brewster, und P. Liesegang hat sie hundert Jahre später in einem Vortrag „Vom Geisterspiegel zum Kino" zusammengefaßt.

Die ebenen und hohlen Spiegel im Altertum

Es ist eine Tatsche, daß man im Altertum die Kunst verstand, ebene und hohle Spiegel zu verfertigen. Mit Hilfe solcher Hohlspiegel kann man von Gegenständen ein reelles schwebendes Bild in die Luft zaubern.

Wir wissen nicht, wie weit man solche Methoden im Altertum angewandt hat, das einzige Zuverlässige, das uns überliefert wurde, betrifft eine aus zwei ebenen Spiegeln bestehende Vorrichtung, die Heron von Alexandrien um 100 v. Chr. beschreibt.

In diesem sogenannten Geisterspiegel erblickt der Beschauer das Bild einer verborgen aufgestellten Figur, „um den Eindruck zu erhöhen", sagte Heron, „baue man die Spiegelvorrichtung in einen aus Holz gefertigten Tempel ein, wo nun die darzustellende Figur über dem Altar erscheint".

Mit diesem Holztempel ist wohl nur ein kleines Modell gemeint. Ob dieser Geisterspiegel auch zu größeren, auf Täuschung des Volkes angelegten Darbietungen benützt wurde, ist nicht überliefert.
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Die Vermutung von Täuschung bei den Griechen

Aber die geheimnisvollen Vorgänge bei manchen griechischen Orakeln lassen die Vermutung solcher Täuschung aufkommen. Vielleicht haben die Priester die Kunst der Spiegelschrift gekannt, auf die wir später noch zu sprechen kommen, und mit ihrer Hilfe jene Wundererscheinungen hervorgerufen, von denen vielfach berichtet wird.

Ein verblüffendes Zeugnis aber, wie nahe die Menschheit schon vor Jahrtausenden der Idee des Films war, stellen die Aufzeichnungen des Titus Lucretius Carus dar, die folgendermaßen lauten:

„Übrigens wundere dich nicht, daß Bilder sich zu regen scheinen, regelmäßig auch die Arme und die anderen Glieder werfen, eines verschwindet, ein anderes in anderer Stellung tritt an den Platz, und das erstere scheint die Gebärde zu wechseln, denn wie man wohl einsieht, vollzieht sich dies äußerst geschwind."
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"Filmvorführungen" bei dem Römern um 99 bis 65 v. Chr ?

Hier stockt man unwillkürlich vor Verwunderung, und die Frage drängt sich auf, ob dieser alte Römer, der von 99 bis 65 v. Chr. lebte, etwa wirklich schon einer Filmvorführung beigewohnt, vielleicht im Hause eines befreundeten Erfinders, der sein Geheimnis mit sich ins Grab nahm oder dessen Entdeckung durch einen verhängnisvollen Zufall verlorengegangen, verloren wie das griechische Feuer, das die Byzantiner besaßen, das unter Wasser brannte, von dessen gefährlicher Wirkung wir wissen, dessen Zusammensetzung wir aber bis heute nicht wieder entdecken konnten.

Sachers hat aus dieser Mitteilung den Schluß gezogen, daß Lucretius Carus „zumindest die Grundsätze der Wiedervereinigung von Reihenbildern kannte, wenn er nicht sogar einen Apparat besaß, um diesen Versuch durchzuführen".
Auf überaus feinen, durchsichtigen Lederblättchen sollen Bildchen gezeichnet und mittels einer sinnreichen Vorrichtung so rasch weiterbewegt worden sein, daß sie im Auge den Eindruck eines lebendigen Bewegungsvorganges zurückließen.

Es läßt sich heute nicht mehr feststellen, ob dieser Apparat Wirklichkeit war oder ein Produkt unserer allzu kühnen Phantasie ist, ob sich die Stelle bei Lucretius Carus nicht auf kinematische Dinge, sondern auf die Gestaltung von Träumen durch die Aufeinanderfolge verschiedener Phantasien bezog, wie O. Kalbus meint.

Wir haben Zentralheizung und Zahnprothesen auch für Errungenschaften der Neuzeit gehalten, bis wir dahinterkamen, daß die alten Römer fast ebensoviel davon verstanden wie wir. Und wenn man die neuesten Ausgrabungen in Pompeji, Herkulanum oder den Palast des Hadrian durchwandert und staunend merkt, was alles in Rom an technischen und zivilisatorischen Behelfen vorhanden war, so ist man gern geneigt, der Mitteilung des Lucretius Carus einen realen Hintergrund zuzubilligen.
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Die rasche Aufeinanderfolge unbewegter Bilder = Bewegung

Eines aber, und ein Entscheidendes, scheint er jedenfalls gewußt zu haben: daß die rasche Aufeinanderfolge unbewegter Bilder, die Bewegungsphasen darstellen, dem Auge eine zusammenhängende Bewegung vortäuschen können. Dieses Grundphänomen, auf dem das ganze Geheimnis des Films beruht, nennen wir stroboskopisches Prinzip, und es hat genau 1885 Jahre gedauert, bis es nach seinem Tode wieder wissenschaftlich erkannt worden ist, weitere siebzig Jahre, bis das erste Filmband durch einen Projektionsapparat lief.

Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Zu den vielen Erfindungen, Apparaten und Impulsen, aus denen zuletzt der Kinematograph entstand, gehört das mechanische Theater, das ebenfalls schon dem Altertum bekannt war. So führte Heron auf seiner schon genannten Miniaturbühne folgendes mechanische Drama auf, das er wörtlich wie folgt beschreibt:

  • „Zu Anfang öffnete sich die Bühne, dann erschienen zwölf Figuren im Bild, diese waren auf drei Reihen verteilt. Sie waren als Danaer dargestellt, welche die Schiffe ausbessern und Vorbereitungen treffen, um sie ins Meer zu ziehen. Diese Figuren bewegten sich, indem die einen sägten, die anderen mit Beilen zimmerten, andere hämmerten. Sie verursachten ein der Wirklichkeit entsprechendes lautes Geräusch. Dann wurden die Schiffe von den Achaiern ins Meer gezogen. Dann sah man nichts auf der Bühne als gemalte Luft und Meer. Bald darauf segelten die Schiffe vorbei. Während die einen verschwanden, kamen andere zum Vorschein. Oft schwammen Delphine daneben, die bald im Meere untertauchten, bald sichtbar wurden wie in Wirklichkeit. Allmählich wurde das Meer stürmisch und die Schiffe segelten dicht zusammengedrängt. Dann wurde über der Bühne Feuer angezündet, wie wenn oben die Fackel mit ihrer Flamme leuchtete. Dann sah man den Schiffbruch und wie Ajax schwamm. Athene wurde auf eine Schwebebühne emporgehoben, Donner krachten, ein Blitzstrahl traf den Ajax und seine Figur verschwand. So hatte das Stück ein Ende."


(J. Gregor.)

Die einzelnen Szenen waren durch Auf- und Zumachen des Vorhanges geteilt. Zu beachten ist, daß all diese Szenen mechanisch, mittels künstlich bewegter Figuren, dargestellt waren.
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Der Guckkasten der Rokokozeit

In der Barockzeit hat dieses Spielzeug für Erwachsene dann seine Blütezeit erlebt, um als Guckkasten der Rokokozeit in keinem vornehmen Hause zu fehlen. Endlich landete es, wie später die Laterna magica, auf den Jahrmärkten, auf denen Hausierer einen Kasten auf einem Wagen mit sich führten, in dem man durch ein Guckloch die Heiligen- oder Weltgeschichte an sich vorüberziehen sehen konnte.

Wichtig ist hierbei, was Gregor betont, daß diese Guckkasten nach dem Prinzip gestaltet waren, den Blick an einer Stelle festzuhalten, wie es im Kino durch die Leinwand geschieht. Er erinnert sich, als Kind selbst noch eine Afrikareise gesehen zu haben, wo ein dramatischer Ritt durch die Wüste dargestellt war; man sah die Landung in Port Said, begleitete die Afrikaforscher durch einen Samum und erreichte mit ihnen wohlbehalten die Oase.

Alles Versuche, das bewegte Leben durch mechanische Erfindungen nachzuahmen.

CAMERA OBSCURA, SPIEGELSCHRIFT UND ZAUBERKUNST

Haben wir in der darstellenden Kunst, in antiken Kuriositäten und im mechanischen Theater sozusagen auf Nebengeleisen Spuren des filmischen Prinzips gesucht, so führt nun der Weg an jene Erscheinungen heran, die die unmittelbare Voraussetzung der Kinematographie bilden.

Mit dem Untergang der antiken Welt hört für ein Jahrtausend die menschliche Forschung auf. Nur die Kunst zur Ehrung Gottes bleibt lebendig. Der Geist des Menschen, einer jenseitigen Hoffnung zugewandt, vergaß des faustischen Dranges nach Erkenntnis. Erst mit dem Beginn der Renaissance setzt jene neue Entwicklung ein, deren Krönung die großen Erfindungen des 19. Jahrhunderts darstellen.
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Es war nie ein Einzelner mit dem Genieblitz

Die Kinematographie ist nicht dem Genieblitz eines einzigen zu danken, sondern der Schlußstein vieler Erfindungen. Schon im Altertum vorgeahnt, beruht sie, seitdem die moderne Wissenschaft eingesetzt hat, auf der Vereinigung dreier Erfindungen:

  1. der Laterna magica,
  2. des Lebensrades und
  3. der Photographie.


Aus der Vereinigung von Zauberlaterne und Lebensrad entsteht das Projektionslebensrad, aus der Vereinigung von Lebensrad und Photographie die Reihenaufnahmen, aus Projektionslebensrad und Reihenaufnahmen endlich die Kinematographie.

Aber dieser Stammbaum enthält nur die wichtigsten Merksteine, in Wahrheit hat jede dieser Erfindungen zahllose Zwischenglieder. Eine Unzahl von technischen, chemischen und optischen Bausteinen mußte zusammengetragen werden, und es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, sie alle anzuführen.

Nur ein kleiner Teil, nur eine bescheidene Auslese soll hier den Leser nachdenklich stimmen und zur Erkenntnis bringen, daß viele Generationen ihren Geist, ihre Kraft und ihren Schweiß daransetzen mußten, das zu erschaffen, was der heutige Mensch als selbstverständlich ansieht.
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Ibn al Haitam, der um das Jahr 1000 lebte

Es ist bezeichnend für den Schlaf des Abendlandes, daß die erste Nachricht über einen Apparat, der eine objektive Bilddarstellung gibt, von einem Araber, Ibn al Haitam, genannt Alhazen, stammt, der um das Jahr 1000 lebte. Damals waren die Araber führend in der Astronomie, und seit AI Mansur, dem Vater Harun al Raschids, waren die Kalifen eifrige Förderer dieser „vornehmsten Wissenschaft".

Ibn al Haitam beschreibt nun als erster das Prinzip der Camera obscura, der Vorläuferin der Laterna magica in ihrer einfachsten Form, mit feiner Lochöffnung und ohne Linse. Als Kamera dient ein verdunkeltes Zimmer, das Loch befindet sich im Fensterladen, durch das auf die gegenüberliegende Wand ein schwaches Bild projiziert wird.

Wie wichtig die Camera obscura für uns ist, erhellt die einfache Tatsache, daß jeder Photoapparat und jeder Filmapparat im Prinzip eine Camera obscura darstellt. Man kann ihre Entdeckung also zugleich als Geburtsstunde der jetzigen Photographie bezeichnen.

Der Versuch des Arabers geriet in Vergessenheit oder blieb dem Abendland unbekannt, und volle 500 Jahre mußten vergehen, bis das Universalgenie eines Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) ihn wieder entdeckte. In seinen Schriften fand sich eine genaue Beschreibung, die dann der Neapolitaner Giovanni Battista Della Porta in seinem berühmten Werk „Magia naturalis" benutzte, auf Grund dessen er lange Zeit als Entdecker galt.
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Erasmus Reinhold in Wittenberg - 1540 - eine Beobachtung

1540 hatte unabhängig davon ein Deutscher, Erasmus Reinhold in Wittenberg, zur Beobachtung einer Sonnenfinsternis eine optische Vorrichtung erfunden, bestehend aus einem dunklen Kasten, in dem die Lichtstrahlen durch die kleine Öffnung das umgekehrte Bild des äußeren Gegenstandes in natürlichen Farben erzeugten: also ebenfalls eine Camera obscura.

1568 berichtet dann Daniele Barbaro bereits von der Einführung einer Sammellinse. Ein wichtiger Fortschritt. Charakteristisch für die damalige Zeit ist die Tatsache, daß Porta in seinem Werk der Camera obscura keine übermäßige Bedeutung beilegt; viel wichtiger sind ihm alchimistische und nekromantische Mitteilungen (die Heraufbeschwörung der Toten).

So hatte die Camera obscura zunächst keinen anderen Zweck, als solchen und ähnlichen Zaubereien zu dienen.

Wie Aguilonius Anfang des 17. Jahrhunderts erzählt, „brüsteten sich die Gaukler, so sie mit der Camera obscura umherzogen, sie könnten Teufelsgespenster aus der Hölle heraufbeschwören. Während dann die Neugierigen in dem dunklen Gemach den prahlerischen Reden lauschten und mit Angst und Bangen das Kommende erwarteten, schritt draußen der Gesellen einer daher, in Teufelslarve, mit Hörnern auf dem Kopf, mit Wolfsfell und Schwanz und klauichten Ärmel, dessen Bild gar schrecklich anzusehen, sich nun auf der Papiertafel der Camera obscura abzeichnete und dem abergläubischen Volk für ihr gut Geld gar höllische Angst einjagte."

1646 „Ars magna lucis et umbrae"

Athanasius Kircher, mit dem wir uns noch später beschäftigen werden, beschreibt in seinem optischen Werk „Ars magna lucis et umbrae", das 1646 zu Rom erschien, eine transportable Maschine (so nannte er das Ding), womit ein bedeutender Künstler in Deutschland Schaustellungen aller Art in wundervollster Weise ausgeführt habe.

Es ist die Camera obscura, in der mit Hilfe von ausgeschnittenen und bemalten Pappfiguren, die man draußen anordnete, alle möglichen Szenen wiedergegeben wurden. Kircher selbst sah, wie er berichtete, die Kreuzigung Christi „aufs Allergenaueste" dargestellt, und wie ihm ein Augenzeuge erzählte, wurden auf diese Weise am Hofe Rudolfs II (1576-1612) durch einen trefflichen Weiskünstler alle früheren Kaiser von Julius Cäsar bis auf Karl V. so leibhaftig vorgestellt, daß sämtliche Teilnehmer an Schwarzkunst glaubten. (Liesegang.)

Die Spiegelschreibkunst

Alle diese Anordnungen und Versuche gehen von einer alten Erfindung aus: der Spiegelschreibkunst.

Man malt auf einen ebenen oder, besser, hohlen Spiegel verkehrt in groben Buchstaben die zu entwerfende Schrift und hält den Spiegel gegen die Sonne derart, daß die Strahlen nach einer im Schatten liegenden Wand zurückgeworfen werden, auf der dann die Schrift als Schattenbild erscheint.

Von einer klugen Anwendung erzählt Daniel Schwenter aus dem Jahre 1605. Als Camillo Borghese als Paul V. zum Papst gewählt wurde, mußte er durch ein Tor hindurchreiten. Wie er nun nahe herankam, zeigte sich an einer schattigen Stelle oberhalb des Tores sein Name, dann verschwand er wieder, um darauf nochmals zu erscheinen, welches der Papst, wie es heißt, „mit Verwunderung angesehen, eine ziemliche Zeit stille gehalten und das Abenteuer abgewartet".

Eigentlich eine ganz moderne Art von Fürstenhuldigung.

Auch bei der Krönung der Königin Christine von Schweden, die 1650 stattfand, sollen die Buchstaben C. R. (Christina Regina) unter einer Krone spiegelbildlich dargestellt worden sein.
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Der Deutsche Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim

Ein Meister dieser Kunst aber war der Deutsche Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, geboren 1486 zu Köln, gestorben 1535 zu Grenoble, der sich schon lange vorher der Spiegelschreibkunst zu magischen Seancen bediente.

Schriftsteller, Arzt, Philosoph und berühmter Schwarzkünstler, ein zweiter Doktor Faust, hat er ein Leben voll Abenteuer geführt und ist so recht ein Typus jener Vollnaturen, an denen die Renaissance so reich ist. Wegen religiöser Streitigkeiten verfolgt, diente er später im Heere Kaiser Maximilians des letzten Ritters, einer Grüblernatur gleich ihm, als Hauptmann und Ritter, wurde in Pavia zum Doktor der Rechte und der Medizin promoviert und erhielt schließlich bei der Mutter des Königs Franz I. von Frankreich die Stellung eines Leibarztes, wurde jedoch, weil er Luthers Partei ergriffen hatte, zur Flucht genötigt.

Nach seinem Hauptwerk „De occulta philosophia" (1533) hat Gott drei Welten aus dem Nichts geschaffen. Das irdische Reich der Elemente, das himmlische Reich der Gestirne und das intelligible Reich der Engel, die untereinander in solchem Zusammenhang stehen, daß die höhere von der niederen abgebildet und diese durch die Kraft der allen gemeinsamen und alles durchdringenden Weltseele, des Spiritus mundi, von jener beherrscht werde.

Magie oder vollkommenste Wissenschaft

In der Kunst, sich in den Besitz der Kräfte der höheren Welt zu setzen, besteht die Magie oder die vollkommenste Wissenschaft, welche als Herrschaft über die irdischen Dinge natürliche, über die Gestirnwelt himmlische und über die Geister- und Dämonenwelt religiöse Magie ist.

Ich erwähne mit Absicht diese Gedankengänge, die uns heute so seltsam anmuten, denn die Mischung von Mystik und echter Sehnsucht nach Wahrheit, von spekulativer Zauberei und exakter Forschung, von kühnem Gedankenflug und tiefem Aberglauben ist charakteristisch für alle großen Geister jener Zeit, für Nettesheim, Porta, Kircher, für Paracelsus und Cagliostro.

Aus ihrer Verschmelzung ist jenes Bild des Doktors Faust entstanden, aus dem Goethe die Inkarnation des forschenden nordischen Menschen schuf. Aus jener Sehnsucht nach Magie und Forschung erwuchs der Erfolg all dieser Zaubereien, der Spiegelschrift, der Camera obscura, der Laterna magica.

Sie haben in ihrem Publikum geneigte Gefühle gefunden und, was den abergläubischen Menschen der Renaissance und des Barocks mit übersinnlichem Interesse lockte, das ist für den aufgeklärten Menschen unserer Zeit im Grunde dasselbe, die Sehnsucht nach einer irrealen Welt-, die er im Schattenspiel des Kinos im verdunkelten Raum erlebt.

Es sind Instinkte der Seele, die im Menschen erwachen, sonst wäre es unverständlich, daß der Film die Welt beherrscht. Und noch eines: jener Typus des faustischen Menschen, der damals entstand, so sehr er noch von übersinnlichem Beiwerk überwuchert war, er ist in seinem rastlosen Forscherdrang das Fundament aller Errungenschaften und Erfindungen, auf denen unsere moderne Welt mit ihrem Wissen und Können steht.
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Aber zurück zu Agrippa von Nettesheim.

Er bringt in seinen Werken einen der großen Weisen des Altertums, Pythagoras, mit der Kunst der Spiegelschrift in Verbindung und erzählt, dieser habe das, was er seinen Freunden zu verstehen geben wollte, mit Blut auf einen Spiegel geschrieben, den er dann gegen die Strahlen des Vollmondes hielt, so daß die Schrift, nach oben zurückgespiegelt, auf der Mondscheibe lesbar erschienen sei. Nettesheim meint, mit dieser Mondbeschriftung könne man auf größte Entfernungen hin seine Meinung zu verstehen geben; vor allem sei dies ein nützliches Kunststück, um belagerten Städten und Burgen Geheimnisse zu verkünden. Also eine optische Telegraphie!

Ein richtiger Gedanke, aber praktisch unausführbar. Er ist charakteristisch. So eng wohnten damals wissenschaftliche Erkenntnis und phantastische Hirngespinste nebeneinander.
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