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Teil einer Lebens-Biografie von Curt Riess

Der Journalist, Reporter, Auslandskorrespondent und Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) hat in dieser in 1956/57 verfassten biografischen Zusammenstellung der Ereignisse in Berlin von 1945 bis 1953 eine Art von Roman-Form gewählt und sehr viele Daten, Personen und Einzelheiten aus der Film- und Kino-Welt untergebracht. Eigentlich ist es eine erweiterte Biografie aus seinem Leben. Sonst ist es ist es leider (im gedruckten Original) eine reine - nicht besonders lesefreundliche - Buchstabenwüste.

Zur Geschichte der Berliner Kinos gehört natürlich auch das Ende des 2. Weltkrieges in Berlin und die politische Entwicklung danach. Die einführende Seite beginnt hier.

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August 1946 - als es kalt wurde in Berlin

SCHON im August 1946 hatten die Zeitungen mitteilen müssen, daß es in diesem Jahr kein Holz geben würde, es war vielmehr bei Strafe verboten, Holz in den Berliner Wäldern zu schlagen. Kohle und Briketts gab es nur im sowjetischen Sektor.

Nun begann es wieder kalt zu werden. Berlin hatte Todesangst vor diesem zweiten Nachkriegswinter. In dieser Atmosphäre kam es zu den ersten Nachkriegswahlen, die auf den 20. Oktober anberaumt waren.

Theoretisch handelte es sich um die Wahl der hundertdreißig Abgeordneten des Berliner Stadtparlaments. In Wahrheit handelte es sich um eine Entscheidung Berlins für den Osten oder den Westen.
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Russische Indoktrination pur

Die Russen versuchten alles, um die Berliner Bevölkerung für sich zu gewinnen. Sie verteilten 30 Millionen Zigaretten, 60.000 Paar Schuhe für Kinder, jeder Mann bekam eine große Flasche Schnaps, jede Berlinerin eine kleine Flasche.

Die Berliner nannten das »Wahlspeck« in Abwandlung des Sprichwortes: »Mit Speck fängt man Mäuse!« Übrigens versuchten es die Russen auch auf andere Weise.

Das elektrische Licht im Westen, dessen Strom aus dem Osten geliefert wurde, verlosch gelegentlich, die kommunistischen Blätter veröffentlichten die Namen von kriegsgefangenen Deutschen in Rußland, die unter Umständen entlassen werden sollten, es fehlte nicht an diesen und jenen Druckmitteln.

Die Amerikaner hielten dagegen

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  • Anmerkung : Hier ist unbedingt zu erwähnen, daß die Engländer und die Franzosen zwar mit auf der Gewinner-Seite standen und zu den vier Mächten gehörten. Doch diese beiden Länder waren durch den Krieg so arm geworden, daß sie sich jahrelang nicht so erholten wie die Deutschen. Von den beiden kamen nur minimalste Hilfen in Berlin an, es war einfach nichts da, das es zu verteilen gab.

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Die Amerikaner beteiligten sich an diesem Kampf um die Berliner Stimmen mit einer Million Streichholzschachteln, 155.000 Paar Schuhen, 16.000 Fahrradreifen, 3000 Automobilreifen, 19.000 Tonnen Zement, 1.200 Quadratmeter Fensterglas, 200 Tonnen Papier, 5.000 Tonnen Baustahl.

Die Propaganda der Russen war gigantisch. Die Plakate, die für die SED warben, nahmen den meisten Platz weg. Damit konnten die anderen Parteien nicht konkurrieren.

Aber auf jedes der Riesen-SED-Plakate wurden während der Nacht Zettel aufgeklebt: »Wurdest du von den Russen vergewaltigt? Wenn ja, dann wähle SED!«

Im amerikanischen Hauptquartier, in welchem man die Berliner Meinung mit den modernen Methoden Gallups erforscht hatte, war das Endergebnis keine große Überraschung.

General Clay hätte in diesen Tagen ein kleines Vermögen mit Wetten gewinnen können. Seine Ratgeber tippten auf Bruchteile von Prozenten richtig.
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Die Überraschung war gelungen

Für die meisten Berliner war das Ergebnis - die Schlappe der SED - ungemein überraschend.

  • Die Sozialdemokratische Partei bekam 47,5 Prozent der abgegebenen Stimmen,
  • die Christlich-Demokratische Union 21,5 Prozent,
  • die Liberal-Demokratische Partei 9 Prozent,
  • die verschmolzene Kommunistisch-Sozialdemokratische Partei, die SED, rangierte mit 19 Prozent vor ihr an dritter Stelle.


Es war eine furchtbare Niederlage der Kommunisten und der Russen.
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Der 20. Oktober 1946 - ein schwarzer Tag für die SED

Karl Schwarz erzählte mir später, wie das von der anderen Seite aussah. Er hatte während des ganzen 20. Oktober die Berichte seiner Korrespondenten erhalten, die über die ganze Stadt verteilt waren. Ununterbrochen klapperten die Fernschreiber und Schreibmaschinen.

Das Büro des ADN (das war die Ostzonen-Agentur) war in höchster Spannung. Schwarz selbst hatte übrigens in die SED nicht allzu viel Vertrauen gesetzt. Er glaubte, die Stimmung der Berliner gut zu kennen. Aber so etwas durfte er nicht aussprechen.

Im Zentralsekretariat der SED dachte man anders. Dort waren schon Kisten mit Schnaps für die Siegesfeier bereitgestellt. Man erwartete eine absolute Mehrheit für die Kommunisten.

Major Faktorowitsch vom Geheimdienst NKWD und MVD

Major Faktorowitsch, der Leiter der Innenpolitik im sowjetischen Nachrichtenbüro für Deutschland (SNB), ein kraushaariger Ukrainer, breitschultrig und stattlich, der übrigens auch ein Vertrauensmann der MVD, der Nachfolgerin der NKWD war, hatte Schwarz den ganzen Tag mit Telefonanrufen bombardiert.

Schwarz sollte optimistische Stimmungsberichte vorbereiten. Auch verlangte Faktorowitsch auf das energischste, daß Schwarz Berichte vom »Terror der Amerikaner« vorbereite, die mit »Tanks« in den Straßen »herumgefahren« sein sollten.

Faktorowitsch, ein vorsichtiger Mann, meinte, wenn es sich später herausstellen sollte, daß die SED nicht genügend überwältigend gesiegt habe, würden diese Terrorberichte als Alibi zu verwenden sein.

Fatal, die SED hatte doch nicht gesiegt ......

Eine Stunde vor Mitternacht war jedem klar, daß die SED nicht gesiegt hatte. Schwarz wartete mit den übrigen Journalisten im Stadthaus (im Ostteil) , dem Sitz des (zur Zeit noch Gesamtberliner) Magistrats, wohin die Ergebnisse aus den Wahllokalen gemeldet wurden.

Die kommunistischen Journalisten wußten nicht recht, welche Überschriften sie finden sollten. Als die Verwirrung am größten war, erschien Otto Winzer, der Pressechef der SED.

Er gab die Parole für die Überschriften: »Mehrheit der Arbeiterparteien in Berlin«. Damit bewies er, wie kaltblütig Kommunisten aus einer Niederlage noch Vorteile ziehen: denn die Sozialdemokratie, dank der »die Arbeiterparteien« eine Majorität erlangt hatten, war die schärfste Gegnerin der Kommunisten.

Als Schwarz Winzer dies zu bedenken gab, erklärte der Pressechef: »Wer von einer Niederlage unserer Partei spricht, ist ein Saboteur. Es kommt eben darauf an, daß wir vom ersten Augenblick an von der Zusammenarbeit der beiden Arbeiterparteien sprechen!«
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Die großen Lügen fingen an

»In dieser Nacht fuhr ich mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge ins Büro zurück«, sagte mir Schwarz. »Dies war doch nun eine kalte Dusche für die Partei.

Unsere Genossen hätten sich lieber überlegen sollen, wo unser Fehler lag, wie man es das nächste Mal besser machen konnte. Vielleicht lag es daran, daß es zuviel Korruption in unseren eigenen Reihen gab! Und so dachte nicht nur ich, so mußten viele Genossen um Mitternacht denken.«

In seinem Büro angekommen, rief Schwarz bei Major Faktorowitsch an, um ihn zu fragen, ob er bereits das offizielle Endergebnis besitze. »Wieso Endergebnis, was heißt hier Endergebnis, das ist doch gar nicht so wichtig!« erklärte Faktorowitsch. Und dann folgte ein langer Vortrag darüber, wie man das deutsche Volk demokratisieren müsse. »Eine Wahl unter amerikanischem Terror wie heute ist ohne jede Bedeutung!« Damit hängte er an.

Karl Schwarz war perplex. Als geschulter Kommunist wußte er, daß eine revolutionäre Bewegung nicht von einer Wahl abhängig ist. Aber hier ging es um mehr.
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"Wir" und die russischen Freunde haben doch Hitler besiegt

Hatte die Kommunistische Partei nicht ausdrücklich verkündet, sie werde einen großen Sieg erringen, weil hinter ihr die Besieger Hitlers ständen? Stand nicht ihr ganzes Prestige auf dem Spiel?

Schwarz begriff in dieser Nacht: die Berliner hatten den Russen eine entscheidende Absage erteilt. Die ganze Welt begriff es.

Bis zum 20. Oktober 1946 war Berlin für diese Welt ein Kuriosum gewesen, fast eine Zirkusattraktion, eine Stadt mit unsichtbaren Sektorengrenzen, auf die man allenfalls durch Schilder aufmerksam wurde: »You are leaving the US-Sector!« oder »Vous entrez maintenant dans le secteur francais!«

Eine höchst sonderbare Stadt, in der man nur Trümmer sah, eine Stadt, in der Zigaretten Geld waren, und in der man für Geld keine Zigaretten bekam, in der es ungeheures Elend und ungeheuren Luxus gab.
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Berlin war kein Kuriosum und keine Zirkusattraktion mehr

Nun sah die Welt, daß diese Stadt mehr war als ein Kuriosum. Die Russen weigerten sich, dies zu begreifen.

Die Berliner, die am 21. Oktober ihre Zeitungen lasen, atmeten auf. Sie glaubten ernstlich, nun würden die Russen sich zurückziehen.

Sie konnten nicht wissen, daß in Halle und Leipzig, in Frankfurt an der Oder und dem Schlesischen Bahnhof in Berlin seit einigen Tagen siebenhundert Eisenbahnwaggons bereitgestellt worden waren.
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Am 21. Oktober 1946 lief die Aktion »Ossawakim« an

Seit dem Morgengrauen des 21. Oktober lief die Aktion »Ossawakim« an. »Ossawakim« - hieß übersetzt »Sonderverwaltung für die Auswanderung von Facharbeitern«, und das hieß wiederum, daß beim Morgengrauen Lastwagen mit russischen Soldaten vor hunderten von Häusern im sowjetischen Sektor von Berlin vorfuhren, daß an Wohnungstüren geklopft wurde, daß ein sowjetischer Offizier in die Wohnung eintrat und ohne Formalität erklärte: »Machen Sie sich fertig mit Familie. Möbel werden mitgenommen. Hier ist Papier!«

Die Männer, die auf diese Weise aus dem Morgenschlaf geweckt wurden, waren Ingenieure, Techniker, Chemiker, Physiker, die fast mit der Herstellung von Kriegsmaterial zu tun gehabt oder an Erfindungen gearbeitet hatten, welche auch in einem späteren Kriege von Nutzen sein konnten.

Viele von ihnen hatten, als die Russen nach Berlin kamen, einen Revers unterschreiben müssen, daß sie unter gewissen Umständen eine gewisse Zeit freiwillig in der Sowjetunion arbeiten würden, natürlich gegen entsprechende Bezahlung. Nun war von Freiwilligkeit keine Rede mehr. Nun wurden sie wie Strafgefangene in die Sowjetunion deportiert.

Es waren Tragödien - im Ostteil der Stadt

In diesen frühen Morgenstunden spielten sich viele Tragödien ab. Frauen und Kinder mußten geweckt werden, sie waren fassungslos, sie standen noch immer in ihren Schlafröcken oder Nachthemden da und froren, als schon die Rotarmisten hereindrangen: »Schnell! ... Schnell!«

Das war ja eines der wenigen Worte, die sie gelernt hatten. Dabei waren sie jedoch nicht einmal unfreundlich. Sie halfen packen, aber da sie ungeschickt waren, ging manches in die Brüche.

Der Lastwagen fuhr zum Bahnhof, die Gepäckstücke wurden verladen, immer neue Lastwagen trafen ein, mit immer neuen bestürzten und verzweifelten Familien.

Niemand wußte, was geschehen würde. Für jeden der 25.000 bis 30.000 Betroffenen, die Fachleute und ihre Familien, war die Sache völlig überraschend gekommen.

  • Anmerkung : Das stimmt so leider nicht. Denn einige später bei uns recht bekannte Personen, die im Osten Berlins arbeiteten und im Westen wohnten, waren gewarnt worden : "Komm ja nicht zur Arbeit, die werden alle abgeholt". - In der Ostzone - also außerhalb der Berliner Stadtgrenze, in die man ja schon gar keinen Einblick mehr hatte, ist diese Aktion still und heimlich bereits vorher und früher angelaufen.

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Niemand ahnte, wohin die Reise gehen oder ob es je eine Rückkehr geben würde. Am Abend sprach ganz Berlin von der Aktion »Ossawakim«. Da hatte man nun gestern gewählt - und dies war die Quittung dafür.
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Würden die Alliierten helfen? Sie protestierten.

Die Alliierten taten etwas, wenn auch nicht viel. Die Briten protestierten bei der Alliierten Kommandantur: unter den abgeschleppten Fachleuten befanden sich, auch Einwohner des britischen Sektors, und es ginge nicht an, daß ...

Der sowjetische Kommandant zuckte nicht einmal mit den Achseln. »Wir mischen uns auch nicht in die Maßnahmen des britischen Stadtkommandanten ein«, sagte er.

Berlin hielt den Atem an. Es war, als habe eine brutale Hand durch den unsichtbaren eisernen Vorhang nach ihnen gegriffen. Die Berliner spürten wieder schaudernd, wie nahe der Osten war.
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ES wurde biter kalt in Berlin

ES wurde kalt, es wurde viel kälter, als im letzten Jahr 1945. Zum erstenmal machte sich in Berlin eine allgemeine Mutlosigkeit bemerkbar. Menschen, die in den Jahren des Dritten Reichs nie die Hoffnung verloren hatten, Hitler werde eines Tages wieder verschwinden, Menschen, die fünf Kriegswinter lang an dem Glauben festgehalten hatten, eines Tages werde auch dies alles zu Ende sein, hatten nun keine Hoffnung und keinen Glauben mehr. Sie saßen in ihren Zimmern und froren und glaubten, nun sei alles zu Ende.

Mutlosigkeit und Frustration griffen um sich

Sie lasen in den Zeitungen nicht mehr die Berichte von den Konferenzen in Washington, London, Moskau, sie waren überzeugt davon, daß die Welt jedes Interesse an Deutschland verloren hatte. Sie sagten: »Man will uns zugrunde richten. Man will uns verhungern lassen!«

Es war ganz so, als ob die Amerikaner und überhaupt die gesamte Welt verpflichtet sei, das hungernde Berlin zu ernähren. Hatte die Welt vergessen, daß es vor Hitlers Machtergreifung viele Demokraten in Berlin gegeben hatte, wollte man sie nun zusammen mit den Nazis verhungern und erfrieren lassen?

Was die Nazis anging, die hatten es einfacher. Sie stellten nicht ohne Befriedigung fest: »Unter Hitler war es besser!«
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Kein Holz aus den Wäldern

Die Kälte war das Schlimmste. Und die alliierten Kommandanten blieben dabei, daß Holz in den nahen Wäldern nicht gefällt werden dürfe. Die Baumstümpfe und die Stubben standen der Bevölkerung zur Verfügung.

Nun bekam jede Familie sogenannte Stubbenscheine, das heißt, sie hatte das Recht, einen Stubben auszugraben und nach Hause zu bringen. Aber das war leichter gesagt als getan. Solche Stubben auszuroden, wäre selbst für gelernte Arbeiter nicht ganz leicht gewesen. Für Frauen, Kinder und Männer, die seit dem Krieg noch nicht zu Kräften gekommen waren, war es fast unmöglich. Tagelang mühten sie sich ab, ohne dem Ziel näher zu kommen. Das Gute dabei war, daß ihnen wenigstens warm wurde, das Dumme war nur, daß sie dabei Hunger bekamen.
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Die Russen machten dicht - keine Kohle

Die Lage wurde noch schlimmer dadurch, daß die Russen, die gemäß interalliierter Abmachung 100.000 Tonnen Kohle aus der Ostzone liefern sollten, ihre Lieferungen ab Januar einstellten, obwohl ihnen für die Kohle bereits Stahl aus dem Westen geliefert worden war.

Anfang Januar 1947 gab es keine Kohle mehr für Hausbedarf in Berlin. Viele Berliner ertrugen es nicht länger. Es gab Selbstmorde am laufenden Band. In den ersten drei Monaten des Jahre 1947 brachten sich neunzehn Menschen aus Liebe um, neun aus Furcht vor Strafe, zehn wegen Ehezerrüttung, achtundachtzig wegen unheilbarer Krankheit und hundersechsundachtzig wegen Hunger und Kälte. Bis Anfang Februar waren weiterhin zweihundertdreizehn Menschen infolge Hunger und Kälte gestorben.

Es gab unglaubliche Zustände in den Behausungen

Die Menschen schließlich, die erfroren oder sich aus Furcht vor der Kälte das Leben nahmen, hatten die letzten Wochen im Bett verbracht. Dort war es noch am wärmsten.

Dort aßen sie, wenn sie etwas zu essen hatten, arbeiteten sie, wenn sie etwas zu arbeiten hatten; die Betten sahen entsprechend aus. Man mußte schon Phantasie haben, um zu ahnen, daß die Laken einmal weiß gewesen waren. In vielen Wohnungen gab es überhaupt keine Stühle mehr. Sie waren verheizt worden.

Die Stadt Berlin tat, was sie tun konnte. Man schloß die Schulen, man bestimmte, daß die Kinos nur noch abends spielen durften, und daß sie am Tage frierende Kinder aufnehmen mußten. Man schloß Bars und Schwarzmarktrestaurants und verwandelte sie in Notquartiere für Hungrige und Frierende.

Die Berliner kämpften gegen das große Sterben. Und selbst jetzt noch machte sich ihr Witz bemerkbar. Ein damals allgemein übliches Wort war: »Jeder muß mal sterben. Aber ick laß mir nicht gerne drängeln.«

Die Elektrizitätsgesellschaft Berlins sah sich Ende Januar 1947 gezwungen, die Stromzufuhr erheblich zu reduzieren. Im sowjetischen Sektor gab es vier Stunden, im amerikanischen und französischen acht Stunden, im britischen sogar vierzehn Stunden keinen Strom.
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Und dann kam die Tuberkulose

Drei Wochen später erklärte der Leiter des Gesundheitsamtes, in Berlin sei die Tuberkulose gewaltig im Steigen begriffen; er rechne mit 3000 neuen Fällen pro Monat.

Trotzdem feierte Berlin Fasching. Wer irgendwie konnte, ging in ein Tanzlokal, trank etwas, tanzte, versuchte ein paar Stunden lang alles zu vergessen. Meist ging der Tanz beim Kerzenschein vor sich oder fast ohne Beleuchtung. Das schadete gar nichts, im Gegenteil, das war um so romantischer.

Der Brand im Lokal Loebel in Spandau

Romantisch war es auch im Lokal Loebel in Spandau, wo ein Fußballklub Fasching feierte. Und als gegen elf Uhr abends das Licht ausging, als ein paar Kerzen aufflackerten, kam die Stimmung auf den Höhepunkt. Man tanzte enger umschlungen, küßte sich häufiger. Ein Mann stürzte zur Garderobe, verlangte hastig seinen Mantel und Hut, war fort. Noch war die Tür nicht ins Schloß gefallen, da ertönte ein Schrei: »Es brennt!« Und dann rannte alles hinaus. Draußen war es bitter kalt.

Das Haus brannte nieder, als sei es aus Papier. Über achtzig verkohlte Leichen wurden schließlich gefunden. Blutjunge Mädchen, viele erst siebzehn Jahre alt, Jungen von zwanzig oder einundzwanzig.

Seltsam: Berlin, das sich nun schon an den Tod gewöhnt hatte, in dem kaum noch einer Interesse zeigte, wenn man ihm erzählte, daß gestern nacht dieser oder jener Nachbar erfroren war oder sich aufgehängt hatte, Berlin war tief erschüttert. Es war erst zwanzig Monate her, da starben in einer Nacht nicht achtzig Menschen, sondern achttausend. Damals ließ das die Menschen fast kalt.
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Inzwischen waren die vier großen Alliierten Gegner geworden

Um diese Zeit waren die vier großen Alliierten, die sich in die Stadt aufgeteilt hatten, kaum noch eine große Familie zu nennen.

Schon der Name der Obersten Berliner Behörde, »Allied Kommandantura«, dieses schreckliche Gemisch aus Russisch und Englisch, hätte beweisen müssen, daß es so nicht ging.

Nach außen hin war man einträchtig genug. Vier Posten hielten vor den Gebäude Wache: ein Russe, ein Engländer, ein Amerikaner, ein Franzose. Vier Fahnen waren vor dem Parkplatz aufgestellt.

Im ersten Stock im Sitzungszimmer siegte der sowjetische General Kotikow immerfort. Es gab ja das Veto: sein Veto genügte, um alle möglichen Beschlüsse zu verhindern.

Im Augenblick war er dabei, eine Rede zu beenden, die fast zweieinhalb Stunden gedauert hatte. Er hatte sie gehalten, um darzutun, daß die Lebensmittelkarte V unbedingt abgeschafft werden müsse, jene »Sterbekarte« mit nur 1200 Kalorien pro Tag.

Mit erhobenem Zeigefinger wies er auf Oberst Howley. »Die sowjetische Administration stellt fest, daß der amerikanische Kommandant in keiner Weise daran interessiert ist, die Ernährung der Berliner Bevölkerung zu verbessern.

Und die Russen logen, was das Zeug hielt

Sie stellt fest, daß der amerikanische Kommandant im Auftrag seiner kapitalistischen Hintermänner die Berliner Bevölkerung weiter ins Elend treiben will, damit sich billige Arbeitskräfte zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten finden.

Die sowjetische Administration schlägt vor, die Karte V sofort abzuschaffen und damit einen bedeutsamen Beitrag für die Hebung der Arbeitsmoral in Berlin zu leisten. Die Sowjetunion hat ausschließlich das Interesse an der Wiederherstellung eines geeinten und friedliebenden Deutschland. Sie kämpft mit aller Macht um die Erhaltung des Weltfriedens, der von gewissen imperialistischen Kreisen ...«

Oberst Howley hörte verdutzt zu. Er wurde aus Kotikow nicht mehr schlau. Kotikow wußte doch sehr genau, daß sich alles ganz anders verhielt.

Hatten die Amerikaner nicht die Berliner Schulkinder gespeist, hatten sie nicht die Care-Paket-Aktion eingeleitet, hatten sie nicht seit Monaten vorgeschlagen, alle Rationen in Berlin zu erhöhen?

Wenn er versuchte, mit dem Russen darüber zu sprechen, ihn zu fragen, warum er ständig Dinge sage, von denen er wußte, daß sie nicht wahr waren, war Kotikow immer beschäftigt; oder er war nicht allein.

Immer waren Zivilisten um ihn, die ihm Stichworte zuflüsterten, besonders ein gewisser Alexejew, der sicher eine wichtigere Stellung hatte, als die eines Dolmetschers.

In der Angelegenheit der Karte V gelang es dem Oberst Howley, die Russen wenigstens einmal zu verblüffen. Er stand auf und stimmte ihrem Antrag zu. Einen Augenblick lang war Kotikow sprachlos.

Und überall blühte die Korruption

Korruption griff immer weiter um sich. Dem Beisitzer einer Spruchkammer der Berliner Entnazifierungskommission wurde nachgewiesen, daß er sich gegen Zahlung einer Summe von 30.000 (Reichs-)Mark bereiterklärt hatte, die Entnazifizierung eines bekannten Nazi-Rechtsanwaltes durchzuführen.

Ja, es gab jetzt schon einen Schwarzen Markt für Entnazifizierungen. Je nachdem, ob der Schuldige großer oder kleiner Nazi war, konnte er seinen guten Namen wieder haben gegen Zahlung von zehn Pfund Butter oder von 3000 Mark.

Die kleine, nur einige tausend Köpfe zählende Jüdische Gemeinde von Berlin mußte ausdrücklich ihren Mitgliedern verbieten, Entlastungsschreiben für Nazis auszustellen; auch die Vereinigung der »Opfer des Faschismus« riet ihren Mitgliedern, etwas zurückhaltender zu sein, wenn es darum ging, ehemalige Nazis zu rehabilitieren.

Die Bestechlichkeit ging bis in die Gefängnisse

Die Bestechlichkeit ging bis in die Gefängnisse von Berlin. Einer meiner Mitarbeiter, ein gewisser Herbert Dorf, saß damals eine Zeitlang im Gefängnis.

Ich zog jede Woche einmal meine Uniform an und kam so einfach ins Gefängnis hinein. Ich brachte ihm einen Karton Zigaretten mit - und das bedeutete, daß er eine Woche tun und lassen konnte, was er wollte.

Er führte mich durch das Gefängnis, ohne daß ein Wärter etwas dagegen hatte und stellte mich diesem oder jenem prominenten Gefangenen vor. Jeden Morgen wurde seine Zelle um fünf Uhr morgens aufgeschlossen und erst abends um zehn Uhr wieder zugeschlossen.

In der Zwischenzeit konnte Dorf tun, was er wollte. Nach Dienstschluß konnte er sogar ins Gefängnisbüro gehen und mit mir telefonieren. Als ein besonders interessanter Mann spät abends ins Gefängnis eingeliefert wurde, teilte er das der "United Press" noch im Verlaufe der Nacht mit.
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Die unglaublichsten Betrügereien

Dies war ein phantastisches Berlin ..... Die unglaublichsten Betrügereien kamen vor. Der Besitzer eines ehemals eleganten Restaurants am Kurfürstendamm erzählte mir, daß Diebe wertvolles Tafelsilber in dem im zweiten Stock gelegenen Speisesaal stahlen, und bevor er es herausgefunden hatte, ihm als neues Silber im ersten Stock wieder verkauft hatten.

Zwei Männer stahlen einen teuren Hund und verkauften ihn einem amerikanischen Sergeanten für zwei Kartons Zigaretten. Das waren damals 2000 Mark. Dann entdeckten sie, daß der untröstliche Besitzer des Hundes 6000 Mark Belohnung ausgesetzt hatte. Darauf stahlen sie den Hund wieder von dem Amerikaner, brachten ihn zu seinem Besitzer zurück und kassierten auch die 6000 Mark ein.

Eine fingierte Pressestelle

Dies war ein phantastisches Berlin ... Schon begannen die westlichen Alliierten herauszufinden, daß der Osten Westberlin mit einem großen Netz sowjetischer Spitzel überzogen hatte. Das Ganze wurde von der Presse-Propaganda-Abteilung der sowjetischen Zentralkommandantur geleitet.

Diese Pressestelle gab niemals eine Nachricht an die Presse, obwohl dem Betrieb nach zu urteilen, es nicht an Nachrichten mangelte. Unzählige Besucher gingen Tag und Nacht dort ein und aus: die bezahlten Spitzel waren Schätzungen zufolge mehr als 3000.

Die Geschichte der "Maschinenfabrik Borsig"

Dies war ein phantastisches Berlin ..... Nachdem die Maschinenfabrik Borsig im französischen Sektor, das »Krankenhaus der Berliner Industrie«, 1945 von den Russen demontiert worden war, hatten die Arbeiter es wieder aufgebaut und zu einem der wichtigsten Berliner Betriebe gemacht. Jetzt, im Jahre 1947, erließen die Franzosen den Befehl, das Werk sofort zu schließen, eine neue endgültige Demontage stehe bevor.

Formell waren die Franzosen durchaus im Recht. Borsig stand auf der Liste jener Betriebe, die für Rüstungsproduktion in Frage kamen und daher abgebaut werden mußten.

Aber psychologisch war der Befehl ein entscheidender Fehler. Keine Sitzung der Alliierten Kommandatura ging vorbei, ohne daß die westlichen Vertreter gegen die ungerechtfertigten Demontagen der Russen im Osten protestierten. Und nun demontierte der Westen auch.

Von allen Seiten kamen Proteste. Die Stadtverordnetenversammlung bildete einen Borsig-Ausschuß, dessen Berichte sich die Kommunisten zunutze machten. »Während die Russen den Aufbau der deutschen Friedensarbeit gestatten, beginnt der Westen die Demontage«, schrieben die Zeitungen im Osten Berlins.

Die Franzosen, an der Spitze der Kommandant von Berlin, General Ganeval, hätten am liebsten nichts gegen die Borsig-Werke unternommen, wie es die Berliner Stadtverwaltung von dem damaligen französischen Ministerpräsidenten Paul Ramadier telegraphisch verlangte.

Aber sie hatten keine freie Hand. Sie waren laut Abmachungen, die von ihnen selbst, den Amerikanern und den Briten ebenso unterzeichnet waren, wie von den Russen, verpflichtet, diesen »kriegswichtigen« Betrieb zu schließen, der, nachdem er bereits einmal demontiert und aus dem Nichts wieder aufgebaut war, alles andere als kriegswichtig war.

Sie gerieten in eine immer schwierigere Situation: die deutschen Kommunisten und die Russen prangerten die bevorstehende Borsig-Demontage als ein »Verbrechen gegen die Berliner Bevölkerung« an, während, um die gleiche Zeit die Kommunisten in Frankreich verlangten, der »Kriegsbetrieb Borsig« müsse sogleich abgebaut werden.

Die Franzosen in Berlin taten schließlich das Vernünftigste: nämlich überhaupt nichts. Jedenfalls wurde nichts gesprengt, nichts demontiert, und zweieinhalb Jahre später wurde die Angelegenheit Borsig durch eine Vereinbarung zwischen den Hohen Kommissaren und der Bonner Regierung erledigt. Im März 1950 konnte Borsig wieder arbeiten.

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