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Teil einer Lebens-Biografie von Curt Riess

Der Journalist, Reporter, Auslandskorrespondent und Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) hat in dieser in 1956/57 verfassten biografischen Zusammenstellung der Ereignisse in Berlin von 1945 bis 1953 eine Art von Roman-Form gewählt und sehr viele Daten, Personen und Einzelheiten aus der Film- und Kino-Welt untergebracht. Eigentlich ist es eine erweiterte Biografie aus seinem Leben. Sonst ist es ist es leider (im gedruckten Original) eine reine - nicht besonders lesefreundliche - Buchstabenwüste.

Zur Geschichte der Berliner Kinos gehört natürlich auch das Ende des 2. Weltkrieges in Berlin und die politische Entwicklung danach. Die einführende Seite beginnt hier.

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Ende meiner amerikanischen Ausgabe der »Berlin Story« ...

An dieser Stelle schloß meine »Berlin Story«, die amerikanische Ausgabe dieses Buches. Seitdem ich sie beendet habe, in den ersten Tagen des Jahres 1952, ist viel geschehen, so viel, daß ich mich manchmal frage, ob das Buch nicht zu früh geschrieben wurde, ob es nicht einer Distanz von mehreren Jahren bedurft hätte, um die richtige Perspektive zu finden, um die Ereignisse und die Personen der Handlung ins rechte Verhältnis zueinander zu rücken.

Es ist viel geschehen in diesem letzten Jahr 1952, in diesen letzten Monaten - aber wenn man die Ereignisse ein wenig unter die Lupe nimmt, so stellt sich heraus: es ist nichts geschehen, was in diesem Buch nicht schon prophezeit oder zumindest als mögliche und wahrscheinliche Entwicklung angenommen wurde.

Die Sowjets und die Amerikaner haben nichts getan, die Berliner nichts erduldet, was nicht als eine logische - man möchte beinahe sagen notwendige - Folge der letzten Jahre angesehen werden könnte.
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Rekapitulieren wir ein paar Einzelheiten

Anfang 1952 wurde es deutlich, daß die Westmächte und die Bundesrepublik durch die Drohungen der Sowjets nicht mehr irrezumachen waren. Das Projekt des kollektiven Verteidigungspaktes nahm immer deutlichere Formen an. Aber die Sowjets gaben das Rennen keineswegs auf.

Die politische Abteilung der Sowjetischen Kontrollkommission in Karlshorst arbeitete ein Memorandum aus, in dem der kollektive Verteidigungspakt als »Generalkriegsvertrag« bezeichnet wurde.

Gegen diesen protestierte die ostdeutsche Regierung am 13. Februar 1952, das heißt, die ostdeutsche Regierung tat, was Wladimir S. Semjonow ihr soufflierte. Das gleiche gilt von der Forderung der ostdeutschen Regierung nach einem Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland und nach dem Abzug sämtlicher Besatzungstruppen.
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Die UN-Kontrolleure wurden (von den Russen) ausgeladen

Die UN-Vollversammlung hatte Ende 1951 beschlossen, die Voraussetzungen für freie und geheime Wahlen in den verschiedenen Zonen Deutschlands untersuchen zu lassen. Eine solche Untersuchung war nicht nach Semjonows Geschmack.

Und er gab dem Ministerpräsidenten Grotewohl die nötigen Vollmachten, die Einreise einer UN Untersuchungskommission in das Gebiet der DDR zu verhindern. Dies geschah am 28. Februar 1952.
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Machen wir mal einen (russischen) Friedensvertrag

Am 10. März griff die Sowjetregierung den Vorschlag zum Abschluß eines Friedensvertrages und den darauf folgenden Abzug aller Besatzungstruppen auf - als habe sie erst durch die Zeitungen davon erfahren.

Außenminister Wyschinskij überreichte den Vertretern der drei Westmächte im Kreml entsprechende gleichlautende Noten. Die westliche Welt merkte die Absicht und war verstimmt. Der Kreml wollte die Abgeordneten in Bonn, die noch keine endgültige Stellung in der Frage des Verteidigungsvertrages bezogen hatten, gegen diesen Vertrag stimmen, wollte vor allem der französischen Regierung gegenüber feststellen, daß nichts dem Kreml ferner läge, als Westeuropa zu bedrohen.

War daher die Europa-Armee nicht überflüssig?

20. März 1952: die UN-Kommission traf in Berlin ein. Aber sie mußte in Westberlin bleiben, sie erhielt keine Erlaubnis, die Zustände in Ostberlin oder gar in der Ostzone zu untersuchen, und die östliche Presse beschimpfte sie aufs unflätigste.

Das hinderte die Westmächte nicht, fünf Tage später der Sowjetunion zu erklären, sie seien durchaus bereit, einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland zu schließen und ihre Truppen zurückzuziehen. Die einzige notwendige Voraussetzung: Freie Wahlen.

Was eigentlich wollten die Sowjets?

Es war doch nicht denkbar, daß sie es auf freie Wahlen ankommen ließen, die ihre Satelliten, die Ostkommunisten hinweggefegt hätten. Es war doch nicht denkbar, daß sie ein Parlament in Bonn wünschten, in dem es Vertreter der Ostzone gab - keine Marionetten des Kremls, sondern echte Vertreter; denn diese Vertreter hätten frei von der Leber weg gesprochen, hätten in die Welt hinausgeschrien, was die Ostzone in diesen letzten Jahren erduldete, hätten eine radikal antisowjetische Position bezogen.

Was also wollten die Russen? Eine endlose Konferenz a la Panmun-jon, während der die westlichen Verteidigungsprojekte nicht fortgeführt wurden?

Zweite Note der Sowjets zur Deutschlandfrage im April 1952.

Sie wurde von den Westmächten etwas kühl mit dem Hinweis auf freie Wahlen zurückgewiesen. Nun wurden die Sowjets brutaler. Sie sperrten am Mai 1952 die Autobahn Berlin - Helmstedt für alliierte Patrouillen.

Gleichzeitig ließ die Berliner Ostpresse durchblicken, daß eine Unterzeichnung des Generalvertrages in Bonn die schwerwiegendsten Folgen für Berlin haben würde. Welche Folgen? War nicht schon die Autobahnsperre ein Hinweis?

Sollte eine neue Blockade über Berlin verhängt werden?
Die Ost-Kommunisten taten besorgt. Sie forderten zu Streiks und Demonstrationen gegen die Unterzeichnung auf. Berliner SEDisten, die ehemals der SPD angehört hatten, versuchten mit Westberliner Sozialdemokraten in Verbindung zu treten -, die sowjetische Kontrollkommission hatte nicht nur die Erlaubnis, sondern den Befehl dazu gegeben.

Fritz Ebert, der Bürgermeister von Ostberlin, schrieb einen besorgten Brief über die Zukunft Berlins an Reuter, in dem er anfragte, ob man nichts unternehmen könne, um die Einheit der Stadt wiederherzustellen. Auch dieser Brief war von Semjonow entworfen.

Semjonow schien Erfolg zu haben

Es schien, als habe Semjonow diesmal erfolgreich spekuliert. Denn Kurt Schumacher, der Vorsitzende der SPD, erklärte am 22. Mai 1952 in einer Rede, jeder, der dem Generalvertrag zustimme, höre auf, ein Deutscher zu sein.

Eine merkwürdige Formulierung aus dem Munde eines Mannes, der Hitler wie kaum ein zweiter bekämpft hatte - und war es nicht Hitler, der so viele Jahre lang das Recht für sich in Anspruch nahm, allein zu bestimmen, wer ein Deutscher sei und wer nicht?

Trotzdem wurde am 26. Mai 1952 der Generalvertrag in Anwesenheit von Dean Acheson, der aus Washington gekommen war, unterzeichnet.

Auf einmal fühlte sich die Ostzone bedroht

Und Ost-Berlin? Pieck erklärte noch am gleichen Tag in einer Berliner Rundfunkrede, jetzt müsse sich die DDR verteidigen. Was war darunter zu verstehen? Die Besetzung ganz Berlins? Eine neue Blockade? Vorläufig noch nicht.

Vorläufig begann die Volkspolizei, die nun schon »National-Armee« hieß und Uniformen bekam, welche denen der Russen ungemein ähnlich waren, mit einer »Korrektur« der Grenzen zwischen Westberlin und der Ostzone, das heißt, es wurde hier und da ein Stückchen, das bisher zu Westberlin gehört hatte, abgeschnitten.

Es kam zu Protesten, die meisten Annektionen mußte die »National-Armee« wieder aufgeben. Gleichzeitig hörte der Telefonverkehr zwischen Ost- und Westberlin auf. Seit dem 1. Juni durfte kein Westberliner mehr ohne besondere Genehmigung in die Ostzone reisen.
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War das der Beginn einer zweiten Blockade?

Noch nicht. Die Sowjets waren noch nicht fertig. Noch gab es keine Möglichkeit, den U-Bahn- und S-Bahn-Verkehr an den Sektorengrenzen zu unterbrechen. Noch war es zu unbequem für die Sowjets und die Kommunisten, von den westlich von Berlin gelegenen Teilen der Ostzone nach Ostberlin zu gelangen, ohne durch Westberlin zu fahren.

Aber schon wurden Umgehungsprojekte aller Art in Angriff genommen. Am Bahnhof Schönhauser Allee wurde ein Verbindungsgleis gebaut, das den Verkehr mit den nördlichen Vororten ermöglichen sollte, ohne den Bahnhof Gesundbrunnen, der im französischen Sektor lag, zu berühren; der Bau der Umgehungsbahn um die südlichen Vororte wurde forciert.

Ein Umgehungskanal, der es den Schiffen möglich machen sollte, die Westberliner Gewässer zu umfahren, wurde eröffnet, brach aber schon nach kurzer Zeit an den Ufern wieder ein und mußte geschlossen werden.

Jetzt waren die Britten sauer und wurden aktiv

Gegen die vielen östlichen Aggressionen hatte der Westen nur einen Sieg zu verzeichnen. Der britische General Coleman ging gegen das Ost-Radio Berlin, das im britischen Sektor lag, erfolgreich vor. Er legte einen dichten Kordon von Militärpolizei um das Gebäude, ließ jeden heraus, aber niemanden mehr hinein.

Die Belegschaft protestierte aufs energischste, begann sogar einen Hungerstreik, gab ihn dann auf. Sie räumte das Gebäude im britischen Sektor, das sie ja auch nicht mehr nötig hatte, da die Russen längst eine neue Radiostation in Grünau gebaut hatten.

Ein kleiner aber wichtiger Sieg

Ein kleiner Sieg, aber einer, der trotzdem wichtig war. Denn in Karlshorst spürte man: die Alliierten würden sich nicht mehr alles gefallen lassen; spürte es doppelt und dreifach, da die Briten bisher nie ernstlich aufgetrumpft, da sie trotz amerikanischer Wünsche bisher nichts gegen Radio Berlin unternommen hatten.

Es sah in diesem Jahr 1952 nicht gerade so aus, als würde Ruhe und Ordnung einkehren. Vier Jahre nach der Beendigung der Blockade war Berlin alles andere als eine normale Stadt.

Es hatte eine Reihe von ernsthaften Zwischenfällen gegeben, von denen jeder zum Abbruch der ost-westlichen Beziehungen, ja, zu einem Kriege hätte führen können.

Da war der Zwischenfall vom 29. April 1952. An diesem Tage beschossen zwei sowjetische Düsenjäger eine Air France-Maschine im Luftkorridor Frankfurt - Berlin mit Bordkanonen und Maschinengewehren. Das Flugzeug konnte sich in eine Wolkenbank retten und in Tempelhof landen. Zwei Passagiere waren schwer verletzt. Die Sowjets wiesen die Proteste zurück, behaupteten ihrerseits, die französische Maschine sei außerhalb des Luftkorridors geflogen.

Zu einem zweiten, ähnlichen Zwischenfall kam es am 8. Oktober 1952, als zwei sowjetische Düsenjäger ein unbewaffnetes amerikanisches Sanitätsflugzeug beschossen, ebenfalls im Luftkorridor Frankfurt-Berlin.

Wiederum konnte sich das angegriffene Flugzeug hinter einer Wolke verstecken, wiederum blieben die alliierten Proteste erfolglos.
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Und dann wurde Walter Linse entführt

Solche Zwischenfälle beschäftigten Berlin ein oder zwei Tage und wurden dann vergessen. Nicht vergessen wurde die Entführung Dr. Walter Linses, eines Mitglieds des »Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen« am Morgen des 8. Juli.

Es dauerte vier Monate, bis es dem fähigen Polizeipräsidenten Dr. Johannes Stumm und seinen Leuten gelang, das Verbrechen zu rekonstruieren und einer erschütterten und empörten Welt zu berichten, wie es vor sich gegangen war.

Die Ostzone heuerte einen richtigen Verbrecher an

Der 18 mal vorbestrafte Bankräuber und Hehler Erwin Knispel, der 27jährige Mörder Herbert Nowak, der 22jährige Einbrecher Josef Dehnert und der ebenfalls 22jährige Einbrecher Harry Liedtke inszenierten die Entführung. Eigentlich hätten sie alle ins Gefängnis oder Zuchthaus gehört.

Sie hatten in den letzten Monaten und Jahren viele Verbrechen begangen. Sie waren rückfällige Verbrecher, die Ostpolizei wußte davon, hätte sie verhaften können, verhaftete sie aber nicht. Nur Harry Liedtke hatte eine Zuchthausstrafe wegen schweren Einbruchs zu verbüßen.

Nun trat das sowjetzonale Staatssicherheits-Ministerium an ihn heran. War er bereit, der »Unsichtbaren Gruppe« des SSD beizutreten, wenn man ihn freiließ? Liedtke war zu allem bereit, wenn man ihn freiließ. Desgleichen die anderen, wenn man sie nicht einsperrte.

Die Russen zogen alle Register

Die »Unsichtbare Gruppe« verschleppte sieben Westberliner in den Osten, wofür sie hohe Geldprämien erhielt. Und seit dem Juni 1952 bereitete sie die Aktion gegen Dr. Walter Linse vor. Es war nicht schwer, Linse zu beschatten. Der untersetzte 48jährige mit der dunklen Hornbrille, der in einer dorfähnlichen Umgebung in Lichterfelde-West wohnte, war ein pünktlicher und gewissenhafter Mann.

Jeden Morgen um sieben Uhr zwanzig verließ er sein Haus und fuhr in seine Dienststelle. Während er zur Omnibushaltestelle schritt, pflegte er seine Morgenzeitung, den »Tagesspiegel«, zu lesen. Er sah nicht nach links und er sah nicht nach rechts.

Die Mitglieder der »Unsichtbaren Gruppe« folgten Linse mit einem kleinen BMW-Wagen viele Male von seinem Haus zur Omnibushaltestelle. Der Wagen mit der Ostnummer fiel den Nachbarn auf, die Polizei wurde benachrichtigt und traf die nötigen Sicherheitsmaßnahmen. Aber die fielen wiederum den Mitgliedern der »Unsichtbaren Gruppe« auf, die sich daraufhin zurückzogen. Das hatte die gewünschte Wirkung. Nach vier Tagen stellte die Polizei die Beobachtung der Gegend ein.

In der Nacht vom 7. zum 8. Juli hielt einer der Verbrecher eine Taxe in Westberlin an und ließ sich zum Senefelderplatz in Ostberlin fahren. Der Fahrer wollte erst nicht, aber als ihm zwanzig D-Mark versprochen wurden, fuhr er los. Er sah nicht, daß sein Fahrgast einen Karton amerikanischer Zigaretten auf den Sitz neben ihn fallen ließ. Kaum war man am Ziel, da erschien Volkspolizei, untersuchte den Wagen, verhaftete den ahnungslosen Fahrer als Schwarzmarkthändler.

Die Verbrecher hatten also eine Westberliner Taxe zur Verfügung, mit der sie wenige Stunden später vor Linses Wohnung warteten. Der kam wie immer Zeitung lesend aus seinem Hause. Josef Dehnert ging auf ihn zu und bat ihn um Feuer. Als Linse in die Tasche griff, bekam er mit dem Sandsack einen Schlag auf den Kopf. Der Schlag machte ihn nicht völlig bewußtlos, noch wehrte er sich, verlor einen Schuh und seine Brille, wurde aber ins Auto gezerrt. Der Wagen raste davon.

Eine Frau, die alles gesehen hatte, schrie »Menschenraub!« Ein Volkswagen nahm die Verfolgung auf. Nowak schoß auf den verfolgenden Wagen, warf Nägel auf die Straße, um die Verfolger abzuschütteln. Ein Funkwagen der Polizei kam Minuten später vor der Wohnung Linses an; zu spät. Um diese Zeit waren die Menschenräuber mit ihrem Opfer bereits durch die geöffnete Voposperre in der Ostzone verschwunden.
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Protestieren hatte bei den Russen nie etwas bewirkt

Der amerikanische Stadtkommandant, General Lemuel Mathewson, wandte sich an General Tschuikow. Der erklärte, er wisse von nichts. In Bonn wurden die kommunistischen Abgeordneten sabotiert. Als Max Reimann, ihr Führer, eine Rede hielt, gingen die Abgeordneten der anderen Parteien aus dem Saal.

Die Westberliner Behörden errichteten Barrieren an den Zonengrenzen. 25.000 Berliner protestierten vor dem Rathaus, und Ernst Reuter rief aus: »Unsere Geduld ist zu Ende! Wir appellieren an die ganze Welt, diesem Mann zu helfen!«

Die Ostpresse äußerte sich erst nach einigen Tagen. Dann schrieb das »Neue Deutschland«: »Ein amerikanischer Agent ist verschwunden. Kein Kriegsagent wird künftig sicher sein, ob er in Westberlin, Bonn, Paris oder Washington ist!«

Der amerikanische Hochkommissar, Walter S. Donnelly, appellierte ein letztes Mal an Tschuikow und bat ihn, wenigstens ein Paket mit Schuhen und einer neuen Brille an Linse weiterzuleiten. Die Russen schickten das Paket zurück, erklärten, ein Doktor Walter Linse lebe in der Ostzone nicht.

Tschuikow wußte sehr wohl von der Entführung Linses. Der russische Schriftsteller und Propagandist Ilja Ehrenburg gab es auch offen während der sogenannten »Friedenskonferenz« in Wien Mitte November zu, als er erklärte, Dr. Linse gehe es dort, wo er sich jetzt befinde, nicht so schlecht, wie es um die deutsche Frage stehe ... Trotz diesem zur Schau getragenen Zynismus war den Russen die Angelegenheit peinlich. Zaisser vom Staatssicherheitsdienst verlebte eine unangenehme Stunde mit Tschuikow und mußte schließlich die Geheimanweisung herausgeben, daß nur noch in äußersten Notfällen gewaltsame Entführungen aus dem Westen durchgeführt werden sollten.
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Da war der Fall des Polizisten Bauer.

Ein Russe hatte an der Genze mit einer Maschinenpistole den Westberliner Polizisten Bauer erschossen.

Der Tod des Polizisten Herbert Bauer erschütterte und empörte die Stadt mehr als irgendein Geschehnis der letzten Jahre. Als Bauer am 30. Dezember 1952 zu Grabe getragen wurde, versammelten sich 200 000 Berliner, um zu protestieren.

Ernst Reuter rief erschüttert: »Niemals wollen wir ein Opfer des Systems werden, dem Herbert Bauer zum Opfer gefallen ist. Wenn die Menschheit uns nicht helfen kann, dann werden wir unsere Hände gen Himmel heben und ausrufen >Herr, mach uns frei!<«

Die Welle der Empörung ging weit über die Sektoren- und Zonengrenzen hinaus. Ein Volkspolizist lief noch am gleichen Tage an der Sektorengrenze auf einen Westberliner Polizisten zu, sah sich vorsichtig um, ob er nicht beobachtet werde, öffnete dann seinen Mantel und holte einen Kranz hervor: »Für euren Toten!« sagte er und verschwand.
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Und dann der 75. Deutschen Katholikentag

Der Katholikentag hatte den sowjetischen Machthabern und ihren kommunistischen Satelliten gezeigt: Berlin mochte eine sterbende Stadt sein, eine Stadt, die jederzeit wieder blockiert werden, eine Insel, die von der Welt abgeschnitten werden konnte, ja, schon abgeschnitten war. Berlin war auch eine Insel in anderem Sinne, eine Insel, auf die man sich retten konnte, eine Zufluchtsstätte vor der Willkür.

Dies sollte sich noch deutlicher Anfang des Jahres 1953 zeigen. Am 10. Juli 1952 hatte die SED eine der vielen Konsequenzen aus der Unterzeichnung des Generalvertrages in Bonn gezogen: Auf ihrer zweiten Parteikonferenz wurde - mit vielen ideologischen Verbrämungen - verkündet, daß alle Bauern dorfweise in Produktionsgemeinschaften zusammengeschlossen, also enteignet werden würden.

Ostdeutschland sollte so schnell und so gründlich wie möglich sowjetisiert werden. Gelegentlich dieser Parteikonferenz wurde auch zum erstenmal die DDR als Volksdemokratie proklamiert.

Und dann kam in der Ostzone die Neuauflage des Hitlerschen Reichsarbeitsdienstes

Vierzehn Tage später wurde der »Dienst an Deutschland« gegründet, eine Neuauflage des Hitlerschen Reichsarbeitsdienstes. Die Bauern in der Zone begriffen schnell: sie waren nur noch Knechte auf dem eigenen Hof. Zwar gelang es ihnen vorerst, die Anordnungen des SED-Zentralkomitees zu umgehen. Aber damit hatten die kommunistischen Machthaber gerechnet.

Denn nun wurden Verfahren gegen die Bauern anhängig gemacht, meist durch Finanzämter und Polizeistellen. Gleichzeitig begann das Amt für Agitation und Propaganda systematische Einschüchterungen gegen die Landbevölkerung.
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Die Massenflucht nach Westberlin setzte ein.

Gerüchte wurden ausgestreut, neue Ausweise würden bald eingeführt, mit denen niemand weiter als hundert Kilometer über seinen Wohnort hinaus reisen dürfe.

Man flüsterte von gigantischen Umsiedlungsaktionen, sogenannte gute Freunde traten auf und warnten diesen oder jenen Bauern vor seiner bevorstehenden Verhaftung. Die Massenflucht nach Westberlin setzte ein.

Auch in den vergangenen Jahren - ich sprach ja schon davon - hatte es Flüchtlinge aus dem Osten gegeben.

Von 1945 bis Ende 1952 rund zwei Millionen in sieben Jahren. Zuerst kamen die Großgrundbesitzer, die enteignet worden waren, dann seit 1948 die Fabrikanten aus der Leichtmetallindustrie und der Textilindustrie, die Techniker und Experten, die bis dahin in Regierungsstellen gearbeitet hatten und nicht kommunistisch organisiert werden wollten.

1949 kamen die Direktoren größerer Firmen und Besitzer von Fabriken und Läden, die in HO-Betriebe verwandelt wurden, dann 1950 die Funktionäre der bürgerlichen Parteien.

1951 und 1952 die Apotheker und Ärzte, die Kinobesitzer und was sonst noch an »Kapitalisten« übriggeblieben war, sowie eine ständig steigende Zahl von Volkspolizisten. Aber es waren einzelne gewesen, die flohen.
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Jetzt kamen sie wirklich in Massen. Sie kamen jeden Tag.

Sie kamen zu Fuß und mit der Untergrundbahn. Sie kamen mit jedem S-Bahn-Zug, der aus Ostberlin eintraf. Manchmal trugen sie alte Rucksäcke, manchmal hatten sie ihre kleinen Babies im Kinderwagen bei sich, manchmal hatten sie einen Pappkoffer, der mit Strippe zugebunden war, gerettet. Viele besaßen nur noch, was sie auf dem Leibe trugen.

Jeden Tag kamen tausend und mehr. Am 26. Januar 1953 kamen sogar zweitausend. Im Februar waren es mehr als dreißigtausend Flüchtlinge pro Monat. Sie wurden in siebenundsiebzig Auffanglagern untergebracht - in Fabrikhallen, in halbzerbombten Villen, in Baracken und Bunkern.

Sie waren todmüde, warfen sich auf die Strohmatten, hatten nur noch einen Wunsch, zu schlafen. Wenn sie sprachen, flüsterten sie, denn noch immer hatten sie Angst. Sie kamen halb verhungert mit ärmlich gekleideten Kindern, sie kamen nur noch mit einer Hoffnung: Berlin.

Ihre letze Hoffnung war Berlin

Sie gingen geduldig von Dienststelle zu Dienststelle, sie ließen sich registrieren, vernehmen, ihre Fingerabdrücke nehmen. Sie waren nicht böse darüber, daß man ihnen mit Mißtrauen begegnete.

Sie wußten genauso gut wie die Dienststellen, daß sich unter ihnen auch Spitzel befanden und Agenten, die im Massenstrom der Flüchtlinge untergetaucht waren und hofften, nach Berlin und von Berlin nach dem Westen zu gelangen, ohne ihre Identität verraten zu müssen.

Die Flüchtlinge wußten, daß sie mitten in einem Krieg waren, auch wenn es der Kalte Krieg war, daß sie ein Schicksal erlitten, wie die Italiener im Jahre 1951, als der Po über seine Ufer trat; wie die Holländer 1953, als das wütende Meer die Deiche zerbrach.
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Besser in Gottes Hand als in der (russischen) Menschen Hand

Nein, ihr Schicksal war schlimmer. Es war besser, in Gottes Hand zu fallen, als in der Menschen Hand - und niemand wußte das so gut wie die Flüchtlinge aus der Ostzone. 70 Prozent wurden als »politische Flüchtlinge« anerkannt.

Davon waren 13,4 Prozent Bauern, 6,2 Prozent Landarbeiter, 53,2 Prozent Industriearbeiter, 20,7 Prozent Beamte und Angestellte. 37,5 Prozent der Männer waren geflohen, weil sie in der »Neuen Nationalarmee« keinen Dienst tun wollten.

Im Osten wußte man das genau und versuchte deshalb, den Flüchtlingsstrom durch Gegenpropaganda einzudämmen. Es wurden Aufrufe erlassen wie: »Kehrt zurück! Alle, die unüberlegt gehandelt haben, können und sollen zurück. Unsere Behörden werden bei Ausstellung neuer Zuzugsgenehmigungen großzügig sein!« Es nützte nichts.
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Gerhart Eisler versucht nocheinmal Nazi-Methoden

Nun wurde Gerhart Eisler eingesetzt. Ihm ging es nicht besonders gut, sein »Amt für Information« war gerade aufgelöst worden. Er hatte keinerlei offizielle Stellung mehr mit Ausnahme des Amerika-Referats im Zentralkomitee.

Eigentlich war er politisch schon ein toter Mann. Mit um so größerer Schärfe stürzte er sich auf die neue Aufgabe. »Allen Flüchtlingen wird es gehen wie ihren Vorgängern, den Kulaken, Spionen und Schiebern«, schrieb er. »Sie werden in den Zuchthäusern und Fremdenlegionen Westdeutschlands enden. Ruhelos werden sie von Elendsquartier zu Elendsquartier wandern müssen, immer weiter westwärts.«
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  • Anmerkung : Es gab später einen amerikanischen Cinemascope "Cowboy und Indianer" Film mit europäischen Siedler Trecks, die westwärts zogen, immer westwärts. Da der unpolitisch war, wurde er auch Anfang der 1960er Jahre in der Ostzone gezeigt, mit großem Erfolg.

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Als eine Westberliner Zeitung meldete, Eisler selbst habe sich nach dem Westen abgesetzt, überschlug er sich geradezu: »Wer die gesicherte Existenz mit den unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten in der DDR verläßt, gehört zu den Unterweltlern, Lumpenproletariern, Schmeißfliegen und zum Abschaum der Gesellschaft.«
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Aber auch so kräftige Worte hatten keinen Erfolg.

Und nun beschloß die DDR, sich am Besitz derjenigen schadlos zu halten, die ihr den Rücken gekehrt hatten.

»Operation Diebstahl« lief an. Drei Tage lang wurde das Eigentum der Flüchtlinge nicht berührt. Am Morgen des vierten Tages meldete der Hausobmann (bei Hitler hieß der damals Blockwart), daß ein Bewohner seines Hauses verschwunden sei und sich nicht befehlsgemäß im Hausbuch abgemeldet habe.

Kurz darauf fuhr ein Kommando der Volkspolizei vor, brach die betreffende Wohnung auf, registrierte das Eigentum, das in diesem Augenblick Volkseigentum wurde. Versuchte ein Verwandter des Flüchtlings etwa, einen Rundfunkapparat abzuholen, wurde er verhaftet und wegen »Diebstahl am Volkseigentum« mit Zuchthaus bestraft.

»Volkseigentum« bedeutete, daß die Volkspolizei und die Partei sich die Beute teilten. Das Bankkonto und den Grundbesitz übernahm der Staat. Das Wohnungsamt verteilte den freien Wohnraum.

Für Zonen-Flüchlinge gab es gar keinen Weg mehr zurück

Es gab also keinen Weg zurück für die Flüchtlinge. Immerhin: der Weg nach dem Westen stand ihnen offen. Sie wurden mit Flugzeugen aus Berlin herausgeschafft. Sie flogen einer vielleicht besseren Zukunft entgegen.

Aber was geschah mit jenen Flüchtlingen, die nicht anerkannt waren, die ohne Ausweis, ohne Geld, ohne das Nötigste, ohne Freunde in Berlin bleiben mußten? Niemand wußte es und niemand weiß, wie das weitergehen, was werden soll, wenn statt der 100.000 nicht anerkannter Flüchtlinge 200.000 oder 300.000 in Berlin vegetieren werden, ein stetig wachsendes Geschwür am Körper der Stadt...

Es gab Berliner, die waren nicht gerade entzückt über die Invasion der Flüchtlinge. Sie hatten insbesondere wenig Mitleid mit den Bauern aus der Ostzone. Es waren ja die gleichen Bauern, die Ihnen 1945 und 1946 ihre Teppiche, Silberkästen, Wäsche, Flügel, gegen ein paar Lebensmittel abgenommen hatten.
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Wieder versuchte ein Bayer "Berlin-Politik" zu machen

Aus München ließ sich der Rundfunkkommentator Walter von Cube hören, der schon einmal (West-) Berlin hatte abschreiben wollen. Jetzt wandte er sich gegen die »selbstmörderische Humanität«, welche die Bundesrepublik mit ihrer »uneingeschränkten Aufnahme von Flüchtlingen aus der Sowjetzone« an den Tag lege.

Er schlug dann folgendes vor: »

  • 1. Eiserner Vorhang zu.
  • 2. Formelle Anerkennung der DDR.
  • 3. Handelsvertrag.
  • 4. Eiserner Vorhang wieder auf!

«

Ein eigenartiger Vorschlag. Einer, der wirklich so tut, als könne man mit den Sowjets und den Kommunisten Verträge schließen, die auch eingehalten würden, als würden die auf der andern Seite aufhören, die Menschen zu terrorisieren, in ihre Armee zu pressen und in Zuchthäuser zu sperren, nur, weil die Menschen keine Fluchtmöglichkeiten mehr haben!
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Anmerkung aus 2022 : der Ukraine Krieg von Putin

Es stimmt also, daß man das Desaster (mit Putins Ukraine Krieg im März 2022) hätte voraussehen können. Dieses Buch hatte Curt Riess bereits 1957 geschrieben und wie Recht er hatte. Es ist alles genau so eingetroffen. Mit einem Russen kan man keine Verträge schließen. Der oder die halten sich an gar nichts.

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Eines ist sicher: ein solcher Vorschlag hätte in West-Berlin nicht gemacht werden können, weil solche Worte wie die von Cubes in West-Berlin nicht - ohne Lebensgefahr für den Redner - hätten gesprochen werden können.
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Die rettende Insel für ein paar Millionen Mitbürger

Dieses Buch, dessen Zweck es ist, die Geschichte Berlins seit dem Scheintod der Stadt im Jahre 1945 und ihrer Wiederauferstehung bis heute zu erzählen, konnte mit keinem besseren Gleichnis schließen, als dem der Insel, mit den paar Millionen Menschen, die ausgehungert werden sollten - der Insel, die zur Rettung für Hunderttausende wurde.

Und die für die Millionen derer, die in der Zone des Schweigens verharren müssen, Trost und Hoffnung bedeutet, wie das Licht des Leuchtturms für die Seefahrer in stürmischer Nacht. Jetzt jedoch, da ich das Buch schließe, kommt mir vieles in den Sinn, über das noch zu sprechen wäre.

Persönliches und Prinzipielles und ..........

Persönliches und Prinzipielles, Anekdoten des Tages und Erlebnisse, die über Jahre hinaus wichtig sein mögen. Ich denke an einige unvergeßliche Stunden mit der leider verstorbenen Elly Heuß-Knapp, der einzigartigen Frau des ersten Präsidenten der Bundesrepublik ... und an jene stürmischen Tage mit dem Schauspieler Werner Krauß, der überall Theater spielen darf, nur nicht in Berlin ...

Ich denke an den seltsamen Tod eines früheren Freundes und späteren Feindes, des Kommunisten Andre Simone, der in einer Rede in Prag vor dem Prager Gericht verlangte, gehängt zu werden und der auch gehängt wurde. Andre Simone hieß eigentlich Otto Katz und hatte die entscheidenden Jahre seines Lebens in Berlin verbracht. Er war der geschäftliche Leiter eines kommunistischen Theaters und eines kommunistischen Verlages gewesen ...

Ich denke an das Ende meines Freundes, des Komponisten Theo Mackeben, der mit soviel Haltung in den Tod ging - und einem Glas Sekt, obwohl er wußte, daß Sekt sein Tod sein würde.

  • Anmerkung : Über den Tod Theo Mackebens gibt es im Jahr 2021 immer noch keine näheren Informationen. Da ist jede Hilfe willkommen.


Ich denke an Paul Buschenhagen, genannt Buschi, den großen Sechstagefahrer in den zwanziger Jahren, heute Veranstalter von Sechstagerennen, die besten der Welt, die Berlin viel sportliches Prestige verleihen. Und wenn man ihn fragt, warum er sie veranstaltet, antwortet er: »Man muß doch was für Berlin tun!«
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Weiter geht es im Rückblick auf die letzen Jahre

Ich denke an viele Freunde und Bekannte in Westdeutschland, die den Verkehr in Berlin mit dem in Frankfurt, München und Köln vergleichen und meinen, Berlin sei rückständig geworden, sei immer noch eine Trümmerstadt, wobei sie ganz vergessen, was die Stadt Berlin alles durchmachen mußte und noch durchmachen muß.

Ich denke an Berliner Freunde und Bekannte, die keine Kritik mehr von außen vertragen und für die nur noch das gilt, was in Berlin befunden wurde und befunden wird, so als sei Berlin das Zentrum der Welt.

Ich denke etwa an das Gastspiel des herrlichen Schauspielers und Regisseurs Gustaf Gründgens und seines Düsseldorfer Ensembles mit T. S. Eliots »Cocktail Party«, ein Stück, das in der ganzen Welt ein ungeheurer Erfolg war, ein für die westliche Welt, also jene Welt, aus der Berlin nicht wegzudenken ist, repräsentatives Stück.

Den Berliner Kritikern gefiel es nicht, ja einige erklärten rundheraus, es gefiele ihnen nicht, weil sie es nicht verstanden hätten, ohne dabei zu ahnen, daß sie damit nicht das Stück, sondern sich selbst verurteilten.

Ich denke an eine Neuaufführung von Shakespeares »Wintermärchen«, über die der sonst geschätzte Kritiker Grindel schrieb: »Das Stück wird noch in hundert Jahren die Rampe sehen. Allerdings weil es von dem wohlbekannten William ist. Würde es ein unbekannter Wilhelm einreichen, sähe es nur den Papierkorb!«

Ich denke an andere Kritiken in ähnlicher Tonart und an die kleine Schar der Intellektuellen, die sich bei jeder Premiere und in jeder Gesellschaft trafen und treffen, obwohl sie sich auf die Nerven fielen und fallen.
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Auch Ullstein kehrte nach Berlin zurück, aber nur einer von 5

Ich denke an die Wiederkehr des Hauses Ullstein, in dem einst die besten Zeitungen Berlins, ja, Europas gemacht wurden.

Ich denke an meine gute alte Freundin Vicki Baum, die so viele Ullsteinromane schrieb und die, obwohl in Wien geboren und heute in Kalifornien ansässig, immer in Berlin beheimatet war, wo ja auch das Hotel ihres berühmtesten Romans stand.

Ich denke an den Journalisten Pem, mit dem ich - wie lange ist das her! - einmal in der gleichen Redaktion begann, und der gerade ein Buch »Ich hab so Heimweh nach dem dem Kurfürstendamm« herausgegeben hat, in dem das alte Berlin noch zum Leben erweckt wird, jenes Berlin, das wir alle so geliebt haben.

Ich denke an Boleslaw Barlog, den mutigen, kleinen Theatermann und Bert Brecht, den großen Dichter, der zynisch genug ist, sich die Zensur Piecks und Grotewohls gefallen zu lassen, die ihm sagten, wie ein Operntext aussehen soll und wie nicht; der im Osten lebt, weil es sich für ihn dort besser lebt, und der gegen die Amerikaner dichtet, obwohl er im Kriege nicht das Asyl der Sowjetunion akzeptierte, sondern nach Amerika floh.

Und ich frage mich: wann wird er das nächste Mal fliehen und wohin?

Die Berliner Bären ....

Ich denke an die große Bildhauerin Renee Sintenis, deren kleine Tiere so unnachahmlich sind, und ohne die Berlin nicht denkbar wäre, an Wilhelm Furtwängler, der, obwohl er auf der ganzen Welt gefragt ist, immer wieder nach Berlin zurückkommt, wo sein Weltruhm begann, und hier zu Bedingungen spielt, die er nirgends sonst in der Welt akzeptieren würde und zu akzeptieren brauchte. Ich denke an Dr. Friedensburg, bis vor kurzem Bürgermeister Berlins und einer der Weltbürger dieser Stadt.

Ich denke an den Eindruck, die die Wahl Eisenhowers zum amerikanischen Präsidenten bei den Russen und den Kommunisten machte. Man hatte bis zuletzt gehofft, daß es nicht zu dieser Wahl kommen würde, denn Eisenhower ist einer, der sich über die Russen keine Illusionen macht; er hat sie ja im Kriege kennengelernt, er hat sie in den ersten Monaten nach dem Kriege in Berlin kennengelernt.

In der sowjetischen Kontrollkommission in Karlshorst fragt man sich: Bedeutet Eisenhowers Wahl den Präventivkrieg Amerikas? Auf jeden Fall, darüber ist man sich klar, bedeutet sie, daß Westdeutschland von den Kommunisten nicht mehr unterminiert werden kann, wenn das jemals möglich gewesen wäre.

Und ich denke an General Clay ....

Einer der besten Freunde General Eisenhowers - Pardon, des Präsidenten Eisenhowers - einer, der sich seit langem für seine Nominierung und Wahl eingesetzt hatte, lehnte die Stellung in seinem Kabinett ab, ließ sich aber schließlich überreden, dem Präsidenten als persönlicher Ratgeber zur Seite zu stehen.

Diese graue Eminenz im Weißen Haus ist niemand anderes als - General Clay, jawohl, der gleiche General Clay, der die Sowjets in Berlin kennenlernte und schon ganz früh begriff, daß man ihnen gegenüber nur etwas mit Energie erreichen kann, der gleiche General Clay, der Berlin während der Blockade rettete, der 1948 schon wußte, daß die Preisgabe Berlins die Preisgabe Europas bedeuten würde, gestern, heute, morgen.
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Nachwort - Abgang von der Bühne - von Steffen Damm

In dem Taschenbuch aus 2002 wurde das erste Werk von Curt Riess aus dem Frühjahr 1953 erneut verlegt und vom "Cheflektor" des Verlages übearbeitet. Zu dem Zeitpunkt waren der Autor und seine 3. Frau (Heidemarie Hatheyer) bereits verstorben (1993), und ebenfalls sein Sohn Michael aus der ersten Ehe war bereits verstorben (in den USA 2007).

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»NUR DIE STERNE SIND NEUTRAL ...«

Curt Riess - Frontstadt-Korrespondent im Kalten Krieg

Als Curt Riess im Alter von neunzig Jahren von einem schweizer Journalisten gefragt wird, was bleibe, wenn er auf sein langes und wechselvolles Leben zurückblicke, lautet seine Antwort:

»Die erschreckende Einsicht, daß die Menschen nichts lernen.«

Mit dem Zusammenbruch des >Dritten Reichs<, so der hochbetagte Zeitzeuge, hätten »Hitlers Ideen doch eine vollkommene Niederlage erlitten, ganz besonders der Wahnsinn des Rassismus. Und jetzt kommt das alles wieder«.

Daß die Menschen nichts lernen, hatte Riess bereits 1945 erfahren, als er im Troß der ersten ausländischen Korrespondenten ins zerstörte Berlin gekommen war - in jene Stadt, in der er vor dem Krieg einen guten Teil seiner Jugendjahre verbracht, in der er studiert und seine ersten prägenden Kulturerfahrungen gesammelt hatte, ehe er als jüdischer Emigrant in den USA eine neue geistige Heimat fand.

Aufstieg und Fall des nationalsozialistischen Regimes hat er aus der Ferne mit Hohn und Spott bedacht, die perfiden Methoden der Deformierung des Menschen, die systematische Verschleierung der Wahrheit durch Goebbels und Konsorten in ungezählten Artikeln aufgedeckt.

Jetzt war der faule Zauber vorbei, die Vergangenheit - auch seine eigene - lag in Schutt und Asche, doch wen interessierte das in dieser besetzten, viergeteilten, hungernden, frierenden und korrupten Stadt, um die sich die Alliierten wie um einen Kadaver stritten und die Bevölkerung jenseits von Moral, Gewissen und Ideologie ums nackte Überleben kämpfte?
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Riess kam 1945 nach Berlin zurück - als Amerikaner

Riess, der als Amerikaner nach Berlin zurückkehrt und der die freiheitlich demokratische Grundordnung der Siegermacht meint, wenn er »wir« sagt, setzt sich aus Empörung an die Schreibmaschine. »Nur die Sterne sind neutral.«

Wie »der große Schriftsteller Emile Zola« im Fall Dreyfuß ergreift er Partei für diejenigen, die unter politischen Strukturen zu leiden, ihre Folgen im Alltag auszubaden haben. »Mich haben immer Einzelmenschen interessiert«, heißt es in seinem letzten großen Interview.

Mentalitätsgeschichte, die sich erst aus der Nahsicht teilnehmender Beobachtung erschließt, ist ihm ungleich wichtiger als übergeordnete politische Verlaufsformen oder ideologische Muster.

In dieser Haltung zeichnet sich auch das journalistische Credo ab, an dem Riess sein Berlin-Buch ausrichtet. Anstatt sich, wie nicht wenige seiner schreibenden Kollegen, mit den luxuriösen Verhältnissen in den Villen und Presseklubs der Berliner Vororte zu begnügen, sucht und findet er den unmittelbaren Kontakt mit der Bevölkerung.

Das Resultat ist ein jederzeit gespanntes Verhältnis zwischen Distanz und Nähe, sachlich-dokumentarischer Reflexion und einfühlsamen Milieustudien in einer surreal anmutenden Ruinenlandschaft.

»Berlin Berlin«

»Berlin Berlin« - ein Titel, der die innere Zerrissenheit der Stadt ohne Komma oder Gedankenstrich nachstellt - lebt vom beständigen Wechsel zwischen Groß und Klein. Riess kennt viele und redet mit jedem: vom Regierenden Bürgermeister bis zum Taxichauffeur, von der Theaterschauspielerin bis zur Trümmerfrau, von den Oberbefehlshabern der Alliierten bis zum kleinkriminellen Schwarzmarkthändler.

Als »Reporter dieser Zeit« trägt Riess die Sittenbilder eines postheroischen Existenzkampfes zusammen. Berlin birgt im Ausnahmezustand der Nachkriegsjahre ein riesiges Potential an Geschichten, die lediglich aufgespürt und erzählt werden müssen und die fesselnder, »phantastischer« sind »als alle Erfindung«.

Die Realität hat angesichts solch instabiler Verhältnisse das Fiktionale eingeholt. Unnötig, etwas zu imaginieren, das an jeder Straßenecke an Brisanz und subtiler Dramatik überboten wird. Die absurdesten Konstellationen erscheinen >normal< in unsicheren Zeiten wie diesen, in denen niemand recht weiß, wie es weitergehen soll, in denen Zukunft wie Vergangenheit in verschwommener Ferne zu liegen scheinen und die Organisation der persönlichen Lebensverhältnisse alle Kraft in Anspruch nimmt.

Doch auch politische Entscheidungsträger werden von Riess als Individuen gekennzeichnet, ihr strategisches und diplomatisches Verhalten wird nicht zuletzt auf charakterliche Dispositionen zurückgeführt, die sich nur dem vermitteln, der aufmerksam zuzuhören versteht.

Und der das Kleingedruckte liest ........

Kaum eine andere Quelle wäre in der Lage, ein genaueres Bild der sozialen Verhältnisse zu liefern, als die Annoncen in den Tageszeitungen:

»Gebe Militärstiefel, Größe 43, gegen Kinderschuhe«, »Schriftsteller übernimmt Aufträge aller Art, besonders in Versform«, »Suche meine Tochter ...«

Anzeigen wie diese liefern Riess nicht nur den Nukleus von Geschichten, denen nachzugehen sich lohnen würde, sie dokumentieren auch die Nöte und Bedürfnisse von Städtebewohnern, deren lebensweltliches Netz zerrissen ist und die sich unter dem Druck einer anklagenden Weltöffentlichkeit und eines besitzergreifenden Systemkorsetts neu zu orientieren haben. Wie sie das schaffen - oder scheitern! -, darauf richtet sich Riess' Interesse.

Wie reagiert der Mensch auf die Zerstörung seiner Lebenswelt? Was läßt er sich einfallen, um weiterexistieren zu können? Wieviele Kompromisse ist er bereit, dabei einzugehen? Findet Riess einmal keinen authentischen Gesprächspartner, berichtet er aus zweiter Hand oder fabuliert in guter serapiontischer Tradition die Geschichte hinter der Person hinzu.

Was er sieht, kann zum Auslöser einer Indizienbeweisführung werden, die am beredten Detail - dem Blick, dem Habitus oder der Kleidung eines Menschen - auf mögliche Vorgeschichten oder Nachwirkungen schließt. Wie ist dieser da hierher gekommen, was wird er als nächstes tun? Wie lebt er? Was erwartet er vom Leben?
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Schlußfolgerungen aus den Gesprächen mit Zeitzeugen

Schlußfolgerungen dieser Art sind oft nicht weniger aufschlußreich als Gespräche mit Zeitzeugen oder konventionelle Quellenstudien. Im Typenpanorama von Curt Riess' Nachkriegs-Berlin zumindest stellen sie eine wesentliches Mittel im Dienste sozialer Erkenntnis dar.

Darüber hinaus verweist das hier erkennbare Verfahren in seiner szenischen-dramaturgischen Grundierung überdeutlich auf ein Leitmotiv des gesamten Buches. Riess' Blick auf die Stadt ist spürbar vom Film inspiriert, dem er schon 1936 ein Buch mit dem Titel »Hollywood Inconnu« gewidmet hatte.

In der wohlkomponierten Abfolge der Momentaufnahmen, der kalkulierten Tempiwechsel und eingestreuten Dialogpassagen erscheint in »Berlin Berlin« die Stadt als Kulisse, auf der zahllose Haupt- und Nebendarsteller in den Rollen ihres Lebens zu sehen sind.

Bisweilen erinnert die Darstellung in ihrem bewußten Changieren zwischen dokumentarischem Anspruch und fiktionaler Rollengestaltung an Roberto Rossellinis »Germania, anno zero / Deutschland im Jahre Null« (1947/48).

Indem Riess die konkreten Auswirkungen von Blockade, Luftbrücke, Währungsreform, Korea-Krieg und anderen prägenden Ereignissen dieser Jahre auf die Bevölkerung der eingeschlossenen Stadt schildert, gewinnt sein historiographi-sches Krisenprotokoll eine menschliche Dimension.

In dieser Doppelrolle als Geschichtsbuch und Stimmungsbarometer liegt der Verdienst eines Buches, das »eigentlich ein Roman« werden wollte und das noch in seiner Parteilichkeit, in seiner rigoros antikommunistischen Grundhaltung ein Zeitdokument geworden ist.

Die deutschsprachige Erstausgabe müsste aus 1957 stammen

Die deutschsprachige Erstausgabe von »Berlin Berlin 1945 - 1953« erschien ohne Jahresangabe in der Non Stop-Bücherei, Berlin-Grunewald. Da das Vorwort von Curt Riess auf »Januar 1953« datiert ist, kann davon ausgegangen werden, daß das Taschenbuch - dessen stark holzhaltiges Papier den zeittypischen Geruch der Nachkriegsjahre bewahrt zu haben scheint - im selben Jahr veröffentlicht wurde. Einträge in späteren Publikationen von Riess bestätigen diese Annahme.

Weitere Auflagen als diese erste, auf der die vorliegende Ausgabe basiert, sind nicht bekannt. Auch die Auflagenhöhe war nicht mehr zu rekonstruieren. Die Wiedergabe des Textes entspricht in Inhalt und Kapitelaufteilung der Erstausgabe.

Stilistische Eigenwilligkeiten des Autors wurden beibehalten, offensichtliche orthographische oder grammatikalische Fehler hingegen stillschweigend korrigiert.

Die Umschlagzeichnung der Erstausgabe stammt von Herbert Thiele und wurde für die vorliegende Ausgabe in leicht veränderter Form übernommen. Eine Übersicht über weitere Veröffentlichungen von Curt Riess, mit der die deutschsprachige Erstausgabe abschließt, wurde überarbeitet, erweitert und um biographische Angaben zum Autor ergänzt.

ZUM AUTOR Curt Riess

Curt Riess, geboren 1903 in Würzburg, gestorben 1993 in der Nähe von Zürich, entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus dem gehobenen Bürgertum. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin war er zunächst u.a. als Sportjournalist tätig, lernte durch seine lebenslange Passion für das Theater aber auch zahlreiche Kulturschaffende wie z.B. Max Reinhardt, Ernst Lubitsch oder die damals noch wenig bekannte Marlene Dietrich kennen.

1933 emigrierte Riess über Prag nach Paris, wobei er dort als Reporter für »Paris Soir« arbeitete. Noch in den USA, wohin er 1934 emigrierte, war er als Hauptstadtkorrespondent für »Paris Soir« tätig. Daneben veröffentlichte der dreisprachige Riess, der mit zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bekannt oder befreundet war, Interviews mit fast allen prominenten Politikern und Künstlern dieser Zeit.

Seine Gespräche mit der Ehefrau des damals inhaftierten AI Capone oder mit FBI-Chef J. Edgar Hoover, den er als erster Europäer interviewte, wurden in ganz Europa veröffentlicht.

Im Juli 1945 kam er als (Soldat und) amerikanischer Korrespondent zurück nach Berlin, schrieb für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften - u.a. für die »Neue Zeitung« und die »Weltbühne« -, ehe er 1952 endgültig in die Schweiz übersiedelte.

Im selben Jahr heiratete er seine zweite Ehefrau (falsch, es war die 3. Ehefrau), die Schauspielerin Heidemarie Hatheyer. Zu den bekanntesten unter den über hundert Sachbüchern und Romanen, die er im Verlauf seines äußerst produktiven Lebens geschrieben hat, zählen seine Goebbels-Biographie sowie Publikationen über Wilhelm Furtwängler und Gustaf Gründgens.

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