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Teil einer Lebens-Biografie von Curt Riess

Der Journalist, Reporter, Auslandskorrespondent und Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) hat in dieser in 1956/57 verfassten biografischen Zusammenstellung der Ereignisse in Berlin von 1945 bis 1953 eine Art von Roman-Form gewählt und sehr viele Daten, Personen und Einzelheiten aus der Film- und Kino-Welt untergebracht. Eigentlich ist es eine erweiterte Biografie aus seinem Leben. Sonst ist es ist es leider (im gedruckten Original) eine reine - nicht besonders lesefreundliche - Buchstabenwüste.

Zur Geschichte der Berliner Kinos gehört natürlich auch das Ende des 2. Weltkrieges in Berlin und die politische Entwicklung danach. Die einführende Seite beginnt hier.

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UND wie sah es in Westberlin aus?

Die Berliner saßen im Dunkeln, bei Trockenkartoffeln und Trockengemüse. »Aber lieber POM« - POM war das amerikanische Kartoffelpräparat - »als Frau, komm!« sagten sie.

»Von frühmorgens bis abends bin ich jetzt ein Held«, erzählte mir ein Kellner, der mich bediente, »ich wollte, ich brauchte keiner zu sein!« Übrigens sprachen auch die Westberliner ungern von »Blockade«. Sie nannten sie »Zirkus«.

Und im Hinblick darauf, daß die Stadt langsam abstarb oder doch zumindest einen Winterschlaf antrat und niemand wußte, ob es ein Erwachen geben würde, sagten die Berliner: »Die Luftbrücke funktioniert ja noch, aber sonst funktioniert nicht mehr viel!«

Im übrigen schimpften sie.

Sie schimpften auf den Viertelzentner Kohle, den jeder für den ganzen Winter bekam und auf das nasse Holz, das von eben gefällten Straßenbäumen stammte. Und als es kälter wurde, schimpften sie über die Kälte. Sie zitterten vor Kälte.

Oder zitterten sie aus Angst? Ein vielzitiertes Berliner Wort war damals: »Ich kann gar nicht soviel zittern, wie ich friere!« Die Berliner Selbstironie jedenfalls funktionierte noch immer.

7.30 Uhr Abends : Viele Menschen pilgerten zur nächsten Straßenecke. Dort stand ein Wagen der amerikanischen Rundfunkstation RIAS. Hier konnte man die letzten Nachrichten hören.

Zuhause konnten die meisten Familien nichts hören, denn ohne Strom funktionierte das Radio nicht, und die Zeitung hatte man vorläufig abbestellt. In diesen schweren Zeiten mußte gespart werden.

Die Stromsperre spielte überhaupt im Leben der Berliner eine große Rolle. Eine typische Einladung lautete etwa: »Kommen Sie nächste Woche zwischen sieben und neun Uhr, da haben wir Strom.« Oder es hieß: »Wir gehen heute alle zu Müllers, kommen Sie doch auch, die wohnen am Reichskanzlerplatz, da gibts heute Strom!«

Das Leben ging weiter

Das Unzulängliche und Unbeschreibliche wurde Alltag. Es spiegelte sich wie immer in den Inseraten der Zeitungen wieder. »Übernehme Lufttransporte nach den Westzonen«, behauptete eines. Ein anderes »Denken Sie an den Winter! Keine Kohlensorgen mehr, unsere Brandaplatten haben den Heizwert von fünf bis acht Preßkohlen.« Überall wurden Petroleumlampen - ab Fabrik laufend lieferbar - angeboten.

Einige wenige Berliner emigrierten nach Westdeutschland. »Modesalon, eleganten Stils mit elegant eingerichteter Wohnung, einschließlich allem Inventar, gute Aufträge, eingearbeitetes Personal, Berliner Westen, wegen Ausreise ungewöhnlich preiswert zu verkaufen.« Oder: »Gebe Zwei-Zimmer-Wohnung, Küche, Bad, Balkon mit Inventar wegen Auflösung des Haushalts ab.«

Aber trotz Blockade schien den meisten das westliche Berlin immer noch sicherer als das östliche. »Tausche Zwei-Zimmer-Wohnung, Ostsektor, gegen Ein- bis Zwei-Zimmer-Wohnung im Westsektor.« »Suche Zwei- bis Drei-Zimmerwohnung, Westsektoren, gegen selten schöne Wohnung Prenzlauer Berg (Ostsektor), voll verglast, monatlich 60 Mark.« Oder: »Tausche Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, Ostsektor, gegen Ein-Zimmer-Wohnung, britischer oder amerikanischer Sektor.«
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Überall spürte man die Angst vor der Zukunft

Die Anpreisungen der Sterndeuter und Handleser nahmen überhand. »Was bringt das Jahr 1949? Wissenschaftlich-astrologische Auswertung nach dem Sonnenstand, Geburtstag angeben ...«

Und trotz Winter - es ging weiter

Am 1. Dezember 1948 waren sämtliche Dienststellen des westlichen Magistrats in den Westen verlegt worden. Am 5. Dezember wurde die neue Stadtverordnetenversammlung gewählt, allerdings nur im Westen. 86,6 Prozent der Wahlberechtigten wählten. Die Sozialdemokraten erhielten mit 64,5 Prozent der Stimmen die absolute Majorität, die Christlich-Demokratische Union erzielte 19,4 Prozent, die Liberal-Demokratische Partei 16,1 Prozent.

Zwei Tage später, am 7. Dezember, wurde Ernst Reuter einstimmig zum Bürgermeister von Berlin gewählt. Er trat das Amt an, zu dem er bereits einmal, im Jahre 1947, gewählt worden war.

Damals hatten die Russen es abgelehnt, ihn zu bestätigen, und General Clay hatte sich um des Friedens willen bereitgefunden, dieses Veto anzuerkennen.

Jetzt war der General glücklich, einen so tüchtigen und energischen Mann wie Reuter an der Spitze Berlins zu wissen.
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Unglaublich wichtig : Die Freie Universität wurde gegründet.

Um die gleiche Zeit, genau genommen drei Tage vorher, war in Westberlin eine ungemein wichtige Institution gegründet worden, die freilich die ganze Problematik jener Zeit und der Stadt Berlin widerspiegelte: die Freie Universität.

Es begann mit einem amerikanischen Gründungsausschuß, der mit Universitätsprofessoren zu dem Zwecke verhandelte, eine Universität im Westen Berlins zu eröffnen. Der offizielle amerikanische Standpunkt war, den Deutschen möglichst wenig hineinzureden.

Man wollte, daß die Sache durch deutsche Initiative auf die Beine gestellt werde. Die Mitglieder des amerikanischen Gründungsausschusses waren dafür, der neuen Universität möglichst schnell eine völlige Autonomie zu verleihen und dann, gewissermaßen aus der Kulisse heraus, den weiteren Verlauf der Dinge zu beobachten und nur im Notfalle einzugreifen.

Die neue Universität sollte »Freie Universität« heißen.

Immer öfter Rückblick auf 1933 bis 1945

Die Jahre 1933 bis 1945 hatten zur Genüge gezeigt, was geschieht, wenn Universitäten unfrei werden. (Anmerkung aus 2021 - Heute sieht man das wieder in Polen, Ungarn  und der Türkei).

Das begann damit, daß in der Hitlerzeit die Bonner Universität unter dem Gelächter der Welt Thomas Mann seinen Doktortitel aberkannte. Und es endete mit Experimenten an lebenden Menschen, die man in Konzentrationslager verbannt hatte, durchgeführt von auf deutschen Universitäten herangebildeten Ärzten.

Wie die Nazis, waren nun auch die Russen entschlossen, den deutschen (ostzonalen) Universitäten keine Freiheit zu lassen. Auch sie setzten Spitzel in die Kollegs und Seminare, um festzustellen, ob die Professoren linientreu blieben und was die Studenten flüsterten.

Manches, was sie unternahmen, war von unfreiwilliger Komik. So etwa die Sitzungen jener Kommission, die im Dezember von Moskau nach Berlin kam, um den Professoren der Berliner Universität auseinanderzusetzen, wie sie Goethe zu kommentieren hätten.

Die alte Berliner Universität im Ostteil der Stadt

Die Berliner Universität stand Unter den Linden, also im sowjetischen Sektor. Und sie mußte genau so unfrei werden, wie sie unter den Nazis gewesen war. Es muß zugegeben werden, daß die Professoren und auch die Studenten diesmal mehr Widerstand leisteten als damals.

Aber sie standen auf verlorenem Posten. Wenn sie auch nur die geringste Opposition machten, spielten sie mit ihrer Freiheit, wenn nicht mit ihrem Leben.

Daher eine Universität im freien Westen

Um so notwendiger war also eine »Freie Universität«, eine zweite, die die erste werden konnte. In einer Stadt, die durch ihren Kampf gegen die Unterdrückung ins Scheinwerferlicht der Welt gerückt war, mußte sie eine kämpferische Universität sein, die die Kräfte der unfreien Universität zu sich herüberzog, und indem sie sie aus dem Herrschaftsbereich der Russen rettete, sie in des Wortes wahrster Bedeutung frei machte.

Und wenn es auch einige Zeit dauerte, bis die Freie Universität in diese ihre so notwendige Rolle hineinwuchs, war sie doch quasi schon von Anfang an ein Protest gegen die Unterdrückung an sich und ein Beweis dafür, daß der Westen aus der Defensive in die Offensive gegangen war, daß er sich zu wehren begonnen hatte.

Ungewöhnlich - ein Franzose macht in Berlin Geschichte

Der 16. Dezember 1948 brachte einen neuen solchen Beweis und einen, der so dramatisch war und in des Wortes wahrster Bedeutung unüberhörbar, daß ein paar Stunden lang ganz Berlin erzitterte.

Der Mann, der hinter diesen dramatischen Ereignissen stand, war General Jean Ganeval, der französische Stadtkommandant von Berlin.

Ich kannte ihn gut, den kleinen grauhaarigen Mann mit dem Gesicht eines Schauspielers, soweit man ihn überhaupt kennen konnte. Er stellte seine Gefühle nie zur Schau, meist nicht einmal seine Gedanken.

Ich gebrauche den Vergleich mit einem Schauspieler nicht zufällig. Oft, wenn ich in seinem Arbeitszimmer in dem nördlichen Villenvorort Frohnau, nur wenige hundert Meter von der russischen Zonengrenze entfernt, saß - er regierte in der Kaserne Jeanne d'Arc, die eine SS-Kaserne gewesen war -, hatte ich das Gefühl, er sei gar kein richtiger General, sondern ein General aus einem Stück von Oscar Wilde oder Noel Coward.

General Jean Ganeval gab immer ein verschmitze Vorwarnung

»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie ein Interview mit mir machen«, sagte er einmal. »Sie werden mir doch nicht irgendwelche Dummheiten in den Mund legen!«

Ich beeilte mich, ihm zu versichern, daß mir nichts ferner läge.

»Und vor allem: legen Sie mir keine gescheiten Worte in den Mund! Sagen Sie um Gotteswillen nicht, daß ich etwas Gescheites gesagt hätte!« Und mit seinem ironischen Lächeln fügte er hinzu: »Dann ist es mir schon lieber, daß Sie schreiben, ich hätte eine Dummheit gesagt!«

General Ganeval liebte das Paradoxe. »Ich bin Optimist«, erklärte er mir in den ersten Wochen der Blockade. »Freilich, mein Optimismus ist der eines Mannes, der weiß, daß die Dinge so katastrophal stehen, daß es gar nicht schlimmer werden kann!«
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Er war gar nicht dumm, er war hochintelligent ...

Das war nicht nur ein Bonmot (geistreiche Bemerkung bzw. Scherz), es steckte ein tieferer Sinn hinter solchen Paradoxen. Ganeval wollte sagen, daß man nur Optimist im Kampfe gegen die Aggression sein konnte, wenn man sich nichts vormache, wenn man wisse, daß der Gegner es ernst meine.

»Gerade weil die Westmächte nach 1933 nicht erkannten, wie ernst Hitler es meinte, wurde er nicht entschieden genug bekämpft«, fügte er erklärend hinzu.

Ganeval war also ein General, der auch denken konnte, und zwar klar und präzise, wie das französische Tradition ist.

Es blieb immer etwas von der Kühle und Distanziertheit des Denkers um ihn, man hatte manchmal das Gefühl, als unterhalte er sich nur theoretisch über Probleme, obwohl wir doch meist über die ungemein aktuellen Probleme der Blockade sprachen.

Er konnte auch mal - aber ganz selten - explodieren

Nur einmal, nur ein einziges Mal, sah ich ihn erregt, und sein Ton hatte nichts mehr von der Leichtigkeit eines Konversationsstückes.

Das war, als er mir einen Brief vorlas, den er am 8. September an General Kotikow geschrieben hatte, nachdem dieser die Ordner des Stadthauses hatte verhaften lassen:
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  • »Im Laufe eines Telefongespräches ... ist zwischen Ihnen und mir eine Vereinbarung getroffen worden ... gemäß diesem Übereinkommen wurden alle Personen, gleich welcher Nationalität, die sich unter dem Schutz meines Verbindungsoffiziers im Stadthaus befanden, durch Sie ermächtigt, das Stadthaus frei zu verlassen und den sowjetischen Sektor zu passieren.

    Ich habe keinen Augenblick an Ihrem Wort gezweifelt und dementsprechend meine Befehle gegeben ... Während der Durchfahrt durch den sowjetischen Sektor sind die Ordner an der Schloßbrücke von sowjetischen Offizieren angehalten und durch diese deutscher Polizei übergeben worden ...

    Ich kann immer noch nicht glauben, daß ein unter Ihrer persönlichen Garantie geschlossenes Abkommen in einer derart flagranten Form hat verletzt werden können.«

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Am 16. Dezember 1948 hatte Ganeval seine Revanche

Am 16. Dezember hatte Ganeval seine Revanche. Und es zeigte sich, daß er kein Schauspieler war, der einen General spielte, sondern ein wirklicher General.

»Wir waren auf alles vorbereitet«, erzählte mir General Ganeval später. »Unsere Vorbereitungen dauerten eine
Stunde und fünfundvierzig Minuten. Zeit genug, für die sowjetischen Truppen, einzuschreiten. Aber der sowjetische Nachrichtendienst schlief.

Hätte er rechtzeitig Alarm geschlagen, hätten die Russen versucht, uns mit Gewalt an der Durchführung unserer Pläne zu hindern, so wären sie auf französische Panzer und Artillerie gestoßen. Und was dann geschehen wäre ...?«
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Es ging um die Antennen der ostzonalen Radiostation

Die Aktion betraf die große Berliner Rundfunkstation. Sie liegt im britischen Sektor. Die Russen hatten sie besetzt, als sie Berlin erobert hatten und räumten sie auch nicht, als zwei Monate später die Briten und die Amerikaner kamen.

Es lag da eine persönliche Übereinkunft zwischen General Kotikow und General Herbert vor. Die Russen glaubten, ein Recht auf diese Station zu besitzen, die damals die einzige in Berlin war und somit die einzige, die in der Zone - in der sowjetischen Zone - gehört werden konnte.

Später versuchten die Amerikaner, auf die Briten einzuwirken, dieses Abkommen zu kündigen. Aber General Herbert wollte nichts davon wissen. Er war ein Gentleman, der sein ein mal gegebenes Wort nicht brach, auch nicht Leuten gegenüber, die ihr Wort ständig brachen.

Aber die Rundfunkstation im britischen Sektor hatte ihre Sendetürme (Antenne) im Norden Berlins, auf dem ehemaligen Schießplatz des Stadtteils Tegel, dort, wo kurz nach Beginn der Blockade ein dritter Flugplatz gebaut worden war.

Jetzt war dieser Flugplatz fertig, aber die Sendetürme störten die einfliegenden Flugzeuge. Vielleicht störten sie auch nicht, das war Ansichtssache. General Ganeval jedenfalls war der Ansicht, daß sie störten.

Eigentlich ging es die Russen gar nichts an

In der Theorie hatten die Russen mit der ganzen Sache nichts zu schaffen. Denn der Berliner Rundfunk war längst wieder eine deutsche Institution geworden, unterstand dem Berliner Magistrat - in diesem Fall dem östlichen - und seiner Postverwaltung.

Und darauf hatte General Ganeval seinen Plan aufgebaut. Denn als er beschloß, die Sendetürme sprengen zu lassen - und dies war kurz nachdem man mit dem Bau des Flugplatzes begonnen hatte -, verständigte er nicht die Russen, sondern lediglich den deutschen Chef des Senders, Heinz Schmidt.
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Der deutsche Chef des Senders, Heinz Schmidt, reagierte nicht

Wie er vorhergesehen hatte, machte sein Brief nicht den geringsten Eindruck. Die Kommunisten im Haus des Rundfunks glaubten einfach nicht, daß ein französischer General es wagen würde, die Sendetürme zu sprengen, da ja auch die Briten niemals versucht hatten, ihr Recht auf das Haus zu erzwingen.

Ganeval ging systematisch vor. Er ließ Pläne für die Besetzung des Geländes ausarbeiten, die Absperrung, die Sprengung.

Es wurde eine richtige Geheimsache

Niemand außer ihm wußte, wann der Tag X sein würde. Am 11. Dezember 1948 gab er den beiden westlichen Stadtkommandanten General Herbert und Colonel Howley das Datum bekannt, die sich ehrenwörtlich verpflichteten, das Geheimnis zu wahren.

Noch am Morgen des 16. Dezember 1948 kannten also nur drei Männer in Berlin das genaue Datum der Sprengung. Um acht Uhr drückte General Ganeval auf einen Knopf.

Und die Maschinerie setzte sich in Bewegung. Gegen neun Uhr wurden die Anlagen auf dem Flugplatz Tegel von französischer Militärpolizei abgesperrt.

In einem Häuschen in der Nähe der Sendetürme befanden sich einige russische Zivilisten, die zum Telefon stürzten, um Hilfe herbeizuholen. Aber die Telefondrähte waren bereits durchschnitten. Die Russen wurden in Gewahrsam genommen.

»Wie konnten meine Soldaten wissen, daß es sich um Russen handelte?« fragte mich General Ganeval lächelnd. Um 10 Uhr legten die Pioniere die Sprengladungen und arbeiteten eine Stunde und fünfundvierzig Minuten mit äußerster Konzentration.

Um 11.45 geschah das unglaubliche Ungeheuerliche - die ostzonalen Sendemasten sanken zu Boden

Um 11 Uhr fünfundvierzig erfolgte die Detonation. Sie war bis weit ins Stadtinnere von Berlin zu hören. Langsam, wie kenternde Schiffe, senkten sich die Türme.

Ein französischer Soldat, der zufällig eine Kamera bei sich hatte, machte eine Aufnahme - die einzige. Eine Stunde später nahm er Urlaub und fuhr zum Büro der »Associated Press«, der er das Foto für dreihundert Dollar anbot. Man zahlte achtzig.

Von allen Seiten stürzten die Passanten herbei. Das französische Militärdetachement fuhr ab. Die deutsche Polizei reichte nicht aus, um das Gelände zu bewachen.

Menschen kletterten über Zäune, um die Holzstücke, die weithin verstreut auf dem Flugplatz lagen, aufzusammeln und als Brennholz zu verwenden.
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Der Intendant des Senders hatte es einfach nicht geglaubt

Der Intendant des Senders, Heinz Schmidt, der in den letzten Wochen und Monaten dafür gesorgt hatte, daß die Westmächte und ihre Vertreter in Berlin auf der Berliner Welle in unvorstellbarer Weise beschimpft wurden, saß finster an seinem Schreibtisch.

Neben ihm stand sein Stellvertreter Wilhelm Girnus, der während der Nazizeit einer illegalen kommunistischen Organisation angehört hatte und zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.

Schmidt liebte ihn nicht. Er wußte wohl, daß die Russen Girnus mehr schätzten als ihn, da er selbst während der Nazizeit nach England emigriert war, und man westlichen Emigranten selten traute.

Er vermutete mit Recht, daß Girnus von den Russen den Befehl hatte, auf ihn, Schmidt, aufzupassen. In diesem Augenblick kam Karl Schwarz, um für das östliche Nachrichtenbüro ADN die letzten Neuigkeiten zu bekommen.

Ohne ihn zu beachten, sagte Schmidt zu seinem Stellvertreter: »Wenn Kotikow nicht sofort etwas unternimmt, ist es um uns geschehen! Du mußt sofort zur Zentralkommandantur fahren!«

Girnus rührte sich nicht. Er war schon darüber informiert, daß die Russen nichts unternehmen würden. Er hatte den Befehl erhalten, im Rundfunkhaus zu bleiben, um Zeuge zu sein, falls dieses von den Engländern besetzt würde. Die Russen waren davon überzeugt, daß dies geschehen würde.
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Diese Sprengung öffnet einen Damm

Von Schwarz mehrmals zum Reden aufgefordert, erklärte Schmidt schließlich: »Diese Sprengung öffnet einen Damm. Das Wasser wird Berlin überfluten!«

Schwarz schrieb mit. Das war eine Sensation! Das konnte bedeuten, daß die Russen die Westmächte aus Berlin hinauswerfen würden.

Girnus hob abwehrend die Hände. »Schreib das um Gotteswillen nicht auf, Genosse!« Mehr sagte er nicht.

Aber es war klar, daß er damit sagen wollte, daß die Russen die Ohrfeige einstecken würden. Aber noch eine Stunde später erklärte die Sekretärin Schmidts, Frau Steidler, auf die Frage von Schwarz, was geschehen würde, wenn die Westberliner Bevölkerung spontan das Rundfunkhaus besetze: »Die Rote Armee wird uns beschützen! Wir sind auf alles vorbereitet!«

Oberst Tulpanow und seine Gallensteine - da half nur Morphium

In seinem Büro bekam der Chef der Informationsabteilung der sowjetischen Militärregierung, Oberst Tulpanow, vor Wut einen Gallensteinanfall. Ein Arzt mußte herbeigeholt werden, um ihm eine Morphiumspritze zu geben.

Das hinderte ihn nicht, zahllose erregte Telefongespräche zu führen, ein Communique für die Nachrichtenagentur TASS zu diktieren, sämtlichen sowjetischen und kommunistischen Stellen ein Redeverbot aufzuerlegen und alle, die ihm unter die Augen kamen, als Saboteure zu beschimpfen.

Um zwölf Uhr dreißig rief er General Kotikow an und befahl ihm, der ihm zwar als Offizier übergeordnet war, aber als Parteimitglied unterstand, sofort zu General Ganeval zu eilen, um schärfsten Protest gegen das Geschehene einzulegen. Kotikow lag zwar seit einer Woche mit einem schweren Herzleiden zu Bett. Aber er stand auf und erschien um drei Uhr nachmittags bei General Ganeval.

Wenn ein General Kotikow herumbrüllt ... lächelt ein Franzose

Er wirkte elend und erschöpft, und der Adjutant Ganevals sowie der Dolmetscher fürchteten, er würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Aber General Kotikow war viel zu wütend, um zusammenzubrechen. Er brüllte in einem solchen Tempo, daß der Dolmetscher kaum nachkam.

Plötzlich schien er sich auf sich selbst zu besinnen und wurde ganz ruhig, fast liebenswürdig. »Warum haben Sie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt? Wir hätten uns doch verständigen können!« »Ich glaube nicht, daß das möglich gewesen wäre«, erwiderte Ganeval lächelnd. »Nicht, nachdem Sie mir gegenüber Ihr Wort gebrochen hatten!«

Kotikow ging wortlos zur Tür. Aber noch einmal drehte er sich um. »Vielleicht wird dieser Flugplatz die Franzosen teuer zu stehen kommen!« rief er aus.

»Sicher«, erwiderte Ganeval, noch immer lächelnd. »Ein Flugplatz ist eine teuere Angelegenheit. Aber der Friede ist nun einmal etwas sehr Kostbares!«
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Ein Sender mit sehr geringer Reichweite in die Ostzone

Um zehn Uhr nachts funktionierte die (Ost-)Berliner Station wieder. Sie war an eine neue Sendeanlage angeschlossen worden, die schon seit einigen Wochen in Bereitschaft stand, aber es war eine Notlösung, und man konnte nicht viel hören.

Schmidt trat ans Mikrofon, klagte die französische Militärregierung eines Aktes des Vandalismus an und erklärte schließlich: »Jedes Kind weiß, daß die Sprengung zwar auf Befehl eines französischen Generals von französischen Pionieren ausgeführt wurde, daß aber der Auftraggeber nicht das französische Volk ist, und daß der Befehl nicht aus Paris, sondern aus Washington kam!«

Er sagte dann noch vieles über die verletzte deutsche Ehre, und wenn man seine Rede hörte, konnte man geradezu glauben, ein Nationalsozialist stehe am Mikrofon.
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Und es passierte ..... nichts

Und dann geschah gar nichts mehr. Heinz Schmidt verlor bald darauf seine Stellung und mußte sich in der Provinz mit einem untergeordneten Posten begnügen. Aber von dem Krieg, der nach seinen Prophezeiungen hätte ausbrechen sollen, war keine Rede mehr.

Die Russen in Berlin hatten damals mancherlei Sorgen. Besonders schwere Sorgen bereiteten ihnen die Mitglieder ihrer eigenen Partei, die deutschen Kommunisten.

Marschall Tito hatte den Russen die Wahrheit "gefüstert"

Es war erst ein halbes Jahr her, daß Tito mit Moskau gebrochen hatte. Aber nicht nur in Jugoslawien hatten die Kommunisten erkannt, daß es nicht im Interesse ihres Landes war, den Befehlen Moskaus blindlings zu gehorchen.

In vielen der von den Sowjets besetzten Ländern machten sich ähnliche Tendenzen bemerkbar, wenn auch freilich nur im Geheimen. Und nun bildeten sich auch in der Berliner SED nationale Widerstandsgruppen.

Ihre Mitglieder waren gerade jene Kommunisten, die unter Hitler in den Konzentrationslagern gesessen hatten. Sie konnten und wollten sich nicht daran gewöhnen, daß ihre Sozialrevolutionären Ideale keine Chance auf Verwirklichung mehr hatten in einem Kastenstaat, wie er sich vor ihren Augen in der Ostzone entwickelte.

Sie hatten es satt, daß jede Schwenkung der sowjetischen Außenpolitik ihren Niederschlag in dem Verhalten ihrer eigenen Partei finden mußte. Sie hatten es auch satt, daß die Arbeiter nur noch für die sowjetischen Reparationen schuften sollten, daß die breiten Massen der Bevölkerung hungerten und sich infolgedessen dem Kommunismus gegenüber immer feindlicher gebärdeten.
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Die Russen merkten, da stimmte etwas nicht mehr

Oberst Tulpanow erfuhr natürlich bald von diesen Strömungen in der SED. Er begann sie zu bekämpfen, indem er immer wieder erklärte, es gebe keinen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus, sondern eben nur einen, den die Sowjetunion gegangen sei, und den Deutschland nun zusammen mit der Sowjetunion gehen müsse. Mit solchen Feststellungen konnte er der Opposition die Argumente nicht aus den Händen winden.

Und so tat er das Logische: er schaltete die ganze SED auf Nationalismus um. Über Nacht wurde deutscher Nationalismus in einer Sprache gepredigt, wie sie früher nur die extremen Rechtsparteien geführt hatten, wurde geradezu zum Dogma der SED.

Die Absicht war klar. Der Titoismus, der nun auch in der SED seine Anhänger gefunden hatte, sollte abgefangen werden.

Wilhelm Pieck war alt geworden

Ich führte damals mein letztes Gespräch mit dem alten Wilhelm Pieck, dem Führer der Kommunisten, der bald darauf Präsident der ersten ostdeutschen Republik werden sollte.

Er, der früher auf der Linie »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« gestanden hatte, erklärte mit bemerkenswerter Offenheit: »Es war eben ein großer Fehler, daß wir den Rechtsparteien die nationalistischen Parolen überließen!«

Ich fragte ihn, wie sich die Lostrennung Schlesiens und Ostpreußen mit den nationalistischen Parolen vereinbaren ließe.

Er antwortete: »Da habe ich auch meine Bedenken. Aber die Russen meinen, darüber ließe sich später mal reden.«

Pieck wußte so gut wie ich, daß die Russen gar nicht daran dachten, darüber später mit sich reden zu lassen. Sie wollten nach dem jugoslawischen Debakel nicht auch noch Polen und die Tschechoslowakei verärgern.
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