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Teil einer Lebens-Biografie von Curt Riess

Der Journalist, Reporter, Auslandskorrespondent und Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) hat in dieser in 1956/57 verfassten biografischen Zusammenstellung der Ereignisse in Berlin von 1945 bis 1953 eine Art von Roman-Form gewählt und sehr viele Daten, Personen und Einzelheiten aus der Film- und Kino-Welt untergebracht. Eigentlich ist es eine erweiterte Biografie aus seinem Leben. Sonst ist es ist es leider (im gedruckten Original) eine reine - nicht besonders lesefreundliche - Buchstabenwüste.

Zur Geschichte der Berliner Kinos gehört natürlich auch das Ende des 2. Weltkrieges in Berlin und die politische Entwicklung danach. Die einführende Seite beginnt hier.

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Vierter Teil

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EINE STADT - ANDERS ALS ANDERE

DER Abend des 11. Mai 1949 - die letzten Stunden der Blockade - das war in Berlin wie bei einer großen Premiere. (Anmerkung : Es war bereits wieder warm geworden.) Jeder, der etwas war oder etwas sein wollte, fuhr hinaus zur amerikanisch-britischen Kontrolle der Autobahn (das war das Ende der Avus), gewissermaßen die Grenzstation des blockierten Berlin.

Die Szene war durch Scheinwerfer taghell erleuchtet. Man sah - mein Gott, wen sah man nicht alles? Schauspielerinnen, Schönheitsköniginnen, Boxer, Sechstagefahrer, bekannte Schriftsteller, Wissenschaftler. Die meisten Damen waren in Abendkleidern, viele Herren im Smoking. Eine Unmenge Reporter war zur Stelle, und am Rande der Autobahn parkten unzählige amerikanische, britische, französische Wagen.
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Jeder wollte mit dabei sein.

Es war ein wenig so, wie es (jedes Jahr) am 14. Juli auf den Pariser Straßen ist. Jawohl, es wurde auf der Autobahn getanzt. Jedermann sprach von General Clay, und was er für ein herrlicher Bursche sei. In dieser Nacht war der Westen von Berlin nicht mehr so dunkel wie die letzten dreihundert Nächte, obwohl viele noch nicht wußten, daß es wieder elektrischen Strom gab, die ganze Nacht hindurch.

Die Restaurants waren bereits geschlossen, nur vor dem elegantesten Nachtklub, der Ali-Bar, stauten sich die Wagen, viele von denen, die man vorher auf der Autobahn gesehen hatte. Eine Stunde lang war die Bar festlich erleuchtet.

Dann wurde das elektrische Licht gelöscht und die Kerzen wieder angezündet. Die Berliner Bummler hatten sich in den letzten zehn Monaten an Kerzenbeleuchtung gewöhnt sie fanden es gemütlicher so.

Jetzt waren die Zeitungen am Zuge

Am ersten blockadefreien Tag machten die Zeitungen ihr größtes Geschäft. Man riß sie den Händlern geradezu aus den Händen. Man wollte alles lesen und immer wieder lesen und blieb doch stumm. Um diese Zeit las man auf der ganzen Welt die Berichte der Berliner Korrespondenten über die Aufhebung der Blockade.

Und wie man mir später sagte, erlebten die New Yorker und die Londoner, die Pariser und die Zürcher die Freude der befreiten Bevölkerung mit, sahen in den Wochenschauen die von Scheinwerfern taghell beleuchtete Autobahn, die lachenden Gesichter der winkenden Kinder. Berlin schien die glücklichste Stadt der Welt.
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Es war alles wie im Märchen - an diesem 12. Mai 1949

Aber eigentlich war es nur in dieser ersten Nacht so. Denn schon am Morgen wurden die ersten Bedenken laut.

  • Irgendwer erzählte, die Berliner Lastwagen kämen nach dem Westen nicht durch, die Russen hielten sie an.
  • Irgendwer sagte, die Aufhebung der Blockade hätte keinen Sinn solange die Deutschen noch besondere Pässe brauchten, um vom Westen nach Berlin zu fahren und umgekehrt.
  • Irgendwer sagte, die Einigung mit den Russen habe eine verdammte Ähnlichkeit mit jenem Pakt von München, in dem der Westen sich seinerzeit mit Hitler »einigte«.
  • Irgend jemand sagte, die Einigung der Außenminister in Paris werde ja doch auf dem Rücken der Deutschen erfolgen.


Diese Bedenken wurden zum Leitmotiv der nächsten Tage.
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Die Berliner waren mißtrauisch geworden

Sie hatten zu viele Enttäuschungen erlebt. Noch zwei, drei Tage vor der Aufhebung der Blockade hatte ein Konferencier in einem Kabarett gesagt: »Genießt die Blockade, die Freiheit wird fürchterlich!«

Eine Parallele jenes Berliner Wortes vor Kriegsende war: »Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich!«

Jetzt sagten das viele Berliner. Sie wollten damit sagen: »Solange wir blockiert waren, wußten wir, woran wir waren. Was wissen wir jetzt?« Die Berliner wußten wirklich nicht, woran sie waren. Und sie wären nicht Berliner gewesen, wenn sie es nicht zugegeben hätten. Während die westliche Welt für sie glücklich war, waren sie selbst alles andere als glücklich.

Man hörte: »Die Russen werden jetzt alles in die Ostzone einführen, was sie brauchen, und im September, wenn es wieder kalt wird, beginnt die neue Blockade ...«
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Mai 1949 - General Clay wurde abberufen

Vielleicht war diese Skepsis auch eine Folge der Abberufung von General Clay. Botschafter Robert D. Murphy hatte bereits am 3. März 1949 Berlin verlassen, ohne daß viel davon die Rede gewesen war. Er wollte es so.

Murphy, einer der gescheitesten Politiker und Diplomaten unserer Tage, war immer ein Mann gewesen, der es vorzog, im Hintergrund zu bleiben. So gab es denn auch wenig Menschen in Deutschland, die ahnten, in welchem Maße er für den Wechsel in der Deutschland-Politik des amerikanischen State Department verantwortlich war, und daß er neben Clay der Mann war, der Washington davon überzeugt hatte, daß Berlin nicht aufgegeben werden dürfe.

Hingegen war General Lucins D. Clay, der gerade vom Präsidenten Truman zum »General of the Army« befördert worden war, ungeheuer populär in Berlin. Als er nun, drei Tage nach Beendigung der Blockade abberufen wurde, demonstrierten die Berliner geradezu für ihn.

Nachdem Clay vor dem Berliner Stadtparlament gesprochen hatte, fuhr er mit Bürgermeister Reuter durch die Straßen der Stadt, die er gerettet hatte. Überall jubelten ihm die Berliner zu, besonders viele Menschen aber säumten die Straßen in den Arbeitervierteln, deren Bevölkerung sonst Generalen nicht zuzujubeln pflegt. Man ließ Clay kaum durch.
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General Clay ersuchte 3 Tage später um seine Abberufung

Kein deutscher Staatsmann, von einem General gar nicht zu sprechen, hätte um diese Zeit ähnliche Ovationen erhalten. Keinem hätte man so aufrichtig nachgeweint. Clay hatte bewiesen, daß man mit den Russen fertig werden kann. Was würde nun werden?

Wenn nicht von Clay und den Russen gesprochen wurde, wurde von Fischpreisen gesprochen. Im Büro, beim Friseur, im Cafe - überall. Die Berliner hatten sechs, sieben Jahre keinen Fisch mehr gegessen. Jetzt konnten sie Fisch essen, soviel sie wollten.

Eien rechte Freß-Sucht brach aus - jedenfalls im Westen

Sie aßen. Vor allem aßen sie Dorschleber, weil sie fett ist, gut schmeckt und nicht zu teuer war. Freilich, man roch eine ganze Weile nach ihr, wenn man sie gegessen hatte, und die meisten Berliner meinten, sie könnten sich nächtlicherweise ihren Frauen nicht nähern.

Nicht nur Dorschleber - alles war wieder zu haben. Im Westen und Süden Deutschlands war ja schon seit der Währungsreform, also seit rund zehn Monaten, alles zu haben gewesen.

Die Grossisten hatten dort seit Monaten die Aufhebung der Bockade erwartet. Sie warfen nun alles nach Berlin, was transportabel war. Die Folge davon: die Preise in Berlin sanken ins Bodenlose. Ein Pfund Kaffee, das in Hamburg beim Grossisten dreizehn Mark kostete, konnte man drei Wochen nach Aufhebung der Blockade in jedem Berliner Detailgeschäft für zehn Mark kaufen. Das gleiche galt für Schweinefleisch, für Butter, für Stoffe, Schuhe usw.

Über Nacht gab es wieder etwas wie Normalität

Die Berlinerin hatte in den Monaten der Blockade, und natürlich auch vorher, ja, während des Krieges, vergessen, daß es so etwas wie Normalpreise gibt, und daß man in normalen Zeiten eigentlich alles bekommt. Wie oft hatte sie gesagt: die Zeiten von früher kriegen wir nicht wieder.

Und plötzlich schienen diese sagenhaften Zeiten wieder da zu sein ... Vor einem halben Jahr hatte ich Frau Maria Schultze, eine Durchschnittsberlinerin, gefragt, wie sich ihr Leben während der Blockade abspiele. Nun fragte ich sie wieder. Und siehe da: Frau Schultze war glücklich.

Es gab ja wieder elektrischen Strom und Gas zu jeder Tages- und Nachtzeit, wenn auch nicht soviel, wie man wollte. Immerhin, man konnte kochen, waschen und bügeln. Während der Blockade hatte es alle paar Monate ein Stückchen Körperseife gegeben.

Jetzt konnte man sich wieder nach Herzenslust waschen, es gab sogar wieder richtige Zahnpasta und anständige Rasierseife. Es gab wieder Wolle, mit der man Strümpfe stopfen konnte. Es gab wieder Staubtücher und richtige Besen, mit denen man die Wohnung sauber machen konnte.

»Ist es nicht herrlich?« fragte Frau Schultze, und sprach von den Eiern und Enten, den Hühnern, der Wurst, dem Obst und dem Gemüse und tausend anderen Dingen, die man seit 1940 und länger nicht mehr gesehen hatte.

Und es gab einen kurzen Kaufrausch

Frau Schultze fiel in eine Art Kaufrausch. Die meisten Berliner Frauen fielen in ihn. Es schien so unwahrscheinlich, so unfaßbar, daß alles wieder da war, was man so viele Jahre entbehrt hatte, was so lange verschwunden war!

Wenn man in den vergangenen Jahren etwas hatte kaufen wollen, mußte man wie ein Verschworener auftreten: jetzt konnte man offen heraus sagen, was man wollte.

»Und stellen Sie sich vor, man wird höflich bedient«, sagte Frau Schultze. »Und stellen Sie sich vor, es ist heute das erstemal seit mindestens zehn Jahren, daß nicht alles aufgegessen wurde, was ich auf den Tisch brachte. Noch vor ein paar Wochen war es immer so, daß die Kinder niemals satt wurden. Und nun kommt noch etwas in die Küche zurück!«

Am meisten war sie darüber erfreut, daß sie nun wieder für ihre Kinder sorgen konnte. Und wenn etwas kaputt war im Hause, wenn es durchs Dach regnete, kamen die Handwerker wieder. »Und man muß sie nicht mehr mit Zigaretten bestechen«, sagte Frau Schultze.
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Der Mann von Frau Schultze war anderer Meinung

Herr Schultze freilich, so vertraute sie mir an, war nicht ganz so begeistert von der Entwicklung der Dinge. Gewiß, auch er war zufrieden, daß die Blockade nun aufgehoben war. Aber er war auch ein bißchen besorgt über die vielen Einkäufe, die Frau Schultze tätigte.

Ähnlich dürfte es vielen Berliner Männern ergangen sein. Ihre Frauen gaben das letzte Geld aus. Bald war es nicht mehr so, daß sie kauften um sich satt zu essen. Sie kauften - »für alle Fälle«; sie kauften, weil sie dem Frieden nicht trauten, und weil sie glaubten, daß sich vielleicht schon morgen der Eiserne Vorhang wieder senken würde.

Und sie aßen, aßen und aßen, zuerst aus Hunger; und dann aus dieser unbestimmten Angst vor der Zukunft. Sie stellten wahre Weltrekorde im Essen auf. Sie feierten Orgien des Essens.

Eine Berliner Hausfrau erzählte mir: »Wir hatten gerade unsere Küche frisch streichen lassen, aber mit den Fensterrahmen warten wir noch. Jetzt nehmen wir das Geld und essen uns erst einmal satt!«

Die Folge: überfüllte Wartezimmer bei den Ärzten. Hausse in Magenverstimmungen, Nesselfieber, Hautekzemen. Die Ärzte schüttelten den Kopf. Diese »Ernährungsumstellung« - so nannten sie die Tatsache, daß die Leute sich wieder satt essen konnten - bekam vielen Berlinern gar nicht.

Die Schwarzhändler sahen sich nun buchstäblich ausgelöscht

Auch die Schwarzhändler schüttelten den Kopf. Sie, die in den letzten Jahren die Berliner Szene beherrscht hatten, sahen sich nun buchstäblich ausgelöscht. Man erzählte sich überall die Geschichte von jenem Schwarzhändler, der von Haus zu Haus ging und, anstatt seine Ware feilzubieten, die Hausfrauen anflehte: »Geben Sie mir doch Arbeit. Ich nehme jede Arbeit an. Ich klopfe sogar Teppiche!«

Die schadenfrohen Berliner erwogen bereits, ob und wann sie von »ihrem« Schwarzhändler den Perserteppich zurückkaufen würden, den er ihnen für ein paar Pfund Speck und ein paar Eier entrissen hatte; und ob sie ihn dann diesen Teppich klopfen lassen würden.

Andere warteten darauf, daß die Bauern der Umgegend, bei denen sie hatten betteln müssen, nun ihrerseits nach Berlin kommen würden, um sie kniefällig um Abnahme von ein paar Pfund Gemüse zu bewegen.

Zumindest einer der großen Schwarzhändler, der eine luxuriöse Villa im Westen Berlins bewohnte, und der in seinem Keller ungeheure Lebensmittel aufgestapelt hatte, stürzte eine Woche nach Aufhebung der Blockade in seinen Keller und zertrümmerte Hunderte, Tausende von Eiern. Zeugen wollten ihn gesehen haben, wie er eine Stunde später, völlig gelb von dem vergossenen Eigelb, wieder auf der Erdoberfläche erschien, wesentlich ärmer, aber seelisch erleichtert.

Solche Beruhigungen konnten sich freilich die meisten Berliner nicht leisten. Ihre Hauptfreude blieb, immer wieder zum Lichtschalter zu laufen und zu knipsen. Sie waren stets aufs neue überrascht, daß es dann auch wirklich hell wurde.
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Die Untergrundbahn fuhr wieder

Eine andere große Freude: die Untergrundbahn fuhr wieder, abends auch die Straßenbahn, und mit typisch Berliner Selbstironie erklärten die Berliner: »Berlin ist also wieder Weltstadt geworden!«

Und dann stiegen sie auf die Straßenbahn mit der gleichen Nonchalance, mit der sie in den letzten zehn Monaten zu Fuß gegangen waren. Aber über diese kleinen und großen Freuden des Alltags hinaus blieb eine gewisse Skepsis.

Die erste spontane Freude über die Aufhebung der Blockade war längst verflogen. Berlin normalisierte sich wieder. Aber es war für die meisten Berliner eine Normalität auf Widerruf. Man war jeden Morgen von neuem erstaunt, daß die gute Zeit nicht schon zu Ende war.

Das war auch nach dem 1. Juni 1949 noch so, dem bedeutsamsten Tag der Berliner Nachkriegsgeschichte, dem Tag, da die Berliner wieder ihre Zigaretten ohne Marken kaufen konnten. Man blieb mißtrauisch.
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Die Berliner blieben mißtrauisch

Mit Recht. Denn um diese Zeit war Berlin beinahe schon wieder von neuem blockiert.

Die Sache hatte am 20. Mai 1949 um Mitternacht mit dem Streik der Eisenbahner begonnen, die in Westberlin wohnten und Dienst auf der S-Bahn verrichteten, jener elektrifizierten Eisenbahn (besser Stadtbahn), die ringartig die wichtigsten Punkte Berlins verbindet.

Die Eisenbahner konnten mit ihrem Lohn in Ostmark nur sehr wenig im Westen Berlins kaufen. Sie hatten auch ein moralisches Recht auf Bezahlung in Westmark, denn die Westberliner Passagiere der S-Bahn mußten in Westmark zahlen.

Das Geld kam in die große Kasse, die in der östlichen Zentrale stand, also von den Russen kontrolliert wurde. Aber die wollten keine Westmark zahlen. Die brauchten die Westmark zur Finanzierung der kommunistischen Propaganda in Westberlin und Westdeutschland.
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Ein Streik, sogar mit den Amerikanern im Rücken

Vermutlich wären die Westberliner Eisenbahner nicht in den Streik getreten, wenn sie von amerikanischer Seite, insbesondere von Oberst Howley, nicht ermutigt worden wären.

Howley stand auf dem Standpunkt, die Westberliner hätten recht. Sie hatten auch recht. Freilich, wie Howley ihnen zu ihrem Recht verhelfen wollte, war sein Geheimnis. Niemand, nicht einmal sein französischer Kollege, General Ganeval, sah einen Weg.

Die Russen waren von dem Streik nicht beeindruckt. Sie erklärten, er sei überhaupt nur ausgerufen worden, um die Außenministerkonferenz in Paris zu stören.

Das war natürlich Unsinn. Nicht die Außenminister in Paris, sondern die Berliner waren die Leidtragenden. Oder jedenfalls die 360.000 Berliner, die täglich vom Westen in östliche Arbeitsstätten fuhren, und die 110.000 Ostberliner, die im Westen arbeiteten.

Es fuhr also keine S-Bahn in Berlin.

Die Situation spitzte sich dauernd zu. Das verschärfende Moment war, daß ja nach dem internationalen Übereinkommen bezüglich der Verwaltung Berlins die Bahnkörper der S-Bahn - Schienen, Bahnhöfe usw. - auch in den Westsektoren den Russen unterstanden.

Die westlichen Zeitungen vermuteten dann auch sofort, die russischen Truppen würden die westlichen S-Bahnhöfe besetzen. Oberst Howley äußerte darauf, er würde dann schlimmstenfalls amerikanische Truppen einsetzen.

Dazu kam es zwar nicht, wohl aber zur Erstürmung einzelner Bahnhöfe durch die Ostpolizei und zur Blockierung dieser Bahnhöfe durch Westpolizei. Die Berichte darüber lasen sich beinahe wie Kriegsberichte, es war die Rede von »Abschnürung«, von »Ultimaten«, von »freiem Abzug unter Mitnahme von Waffen«.

Ein Eisenbahner (Ost oder West ???) wurde getötet

Schließlich kam es noch zu Schießereien. Ein Eisenbahner wurde getötet. Aber bald trat eine gewisse Ruhe ein, nachdem die westliche Polizei den Schutz der westlichen Bahnhöfe übernommen hatte. Die Russen erklärten sich schließlich einverstanden damit, daß den Westberliner Eisenbahnern sechzig Prozent ihres Lohnes in Westmark ausgezahlt wurden.

Aber das war den Westberliner Gewerkschaftsführern nicht genug. Sie glaubten in völliger Verkennung der Lage, sie könnten nun alles erreichen. Sie streikten weiter. Und einige Tage später, am 8. Juni 1949 , besetzte Westpolizei sogar das Verwaltungsgebäude der Reichsbahndirektion, das zwar im Westen gelegen war, aber eben als Reichsbahngebäude den Russen gehörte. Sie mußten schnell wieder abziehen. Das russische Angebot der sechzig Prozent mußte akzeptiert werden.
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Eine Dummheit mit fatalen Folgen - die Russen konnten lachen

Der Streik führte noch zu einer weiteren Komplikation, mußte zu ihr führen, aber unfaßbarerweise hatte man das im westlichen Lager gar nicht begriffen: dadurch, daß die Eisenbahner streikten, legten sie nicht nur den Eisenbahnverkehr innerhalb Berlins lahm, sondern auch den Eisenbahnverkehr von und nach Berlin.

Kurz, sie taten genau das, das die Russen zehn Monate lang getan hatten: sie blockierten Berlin.

Es war freilich keine hundertprozentige Blockade, es gab gewisse Züge, die durchkamen, es gab Lastwagen und Schiffe, aber es entbehrte nicht der Ironie, daß nur wenige Wochen nach dem Ende der alles Leben bedrohenden Blockade Westberlin sich selbst blockierte. So mußte der Streik der Eisenbahner in sich selbst zusammenbrechen.
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Die bittere Wahrheit der Ostzonenflüchtlinge

DER Mann, der vor mir saß, war unrasiert, und seine Augen waren blutunterlaufen. Sein Anzug war zerdrückt, als hätte er in ihm geschlafen.

»Sie müssen schon entschuldigen«, murmelte er. »Aber seit drei Tagen komme ich kaum zur Besinnung. Jede Nacht schlafe ich woanders. Es ist alles wie damals, 1933, als Hitler an die Macht kam, und ich in der Versenkung verschwinden mußte.«

Ich wartete. Er rauchte eine Weile schweigend, zog dann mit plötzlichem Entschluß eine Zeitung aus der Tasche. Es war die gestrige Morgenzeitung, die vom 10. Juni 1949. Er deutete auf eine Nachricht. Es hieß darin, daß sich im Augenblick zweitausendsiebenhundert politische Flüchtlinge aus der Ostzone in Berlin befänden.

Der Mann sagte: »Ich mußte auch aus der Ostzone flüchten.« Seine Augen begegneten meinem fragenden Blick. »Verstehen Sie denn nicht? Ich bin Kommunist!«

Er griff von neuem in die Tasche und zog Papiere heraus. Es zeigte sich, daß er Mitglied der SED, der kommunistischen Gewerkschaft, des kommunistischen Kulturbundes war. Er besaß auch ein Papier, das bezeugte, daß er bereits im Jahre 1924 Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war.

Er erzählte: »Seit einem Jahr bin ich Vorarbeiter in einer Fabrik in Chemnitz. Das Werk untersteht direkt der sowjetischen Militärregierung!« Vor vier Tagen, als er nach Hause kam, sagte ihm seine Wirtschafterin, es wären ein paar Männer von der MVD dagewesen; sie hätten gesagt, sie würden wiederkommen. »Warum?«

»Wir in der Ostzone haben verlernt, unsere Zeit mit solchen Frage: zu verschwenden. Das ist lebensgefährlich!«
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Der Glaube an die Russen war irreparabel kaputt

Es gab so viele Gründe für die MVD, einzugreifen. Es wurde viel geschimpft, namentlich von den alten Kommunisten. Die mochten die Russen nicht, und noch weniger die leitenden Männer der SED.

Nun, es gelang meinem Besucher, durch die Hintertür zu entkommen. Nun saß er vor mir, und es schien, als käme es ihm erst jetzt zum Bewußtsein, wie furchtbar ihn die letzten Jahre enttäuscht hatten. Welche Hoffnungen hatte er gehabt! Dabei glaubte er niemals, die Russen würden als Engel auf Deutschland niedersteigen.

Er wußte, sie würden Schadenersatz fordern für das, was ihrem Lande angetan worden war. »Aber ich dachte, sie würden schon aus eigenem Interesse den Kommunisten und den anderen Anti-Nazis ein wenig Spielraum lassen. Ich war sicher, daß wir Arbeiter es unter ihnen besser haben würden!« Den Westalliierten hatte er mit gemischten Gefühlen entgegengesehen.

Die waren ja Kapitalisten, und er hielt es für durchaus möglich, daß sie einen Krieg gegen die Sowjetunion provozieren wollten. In diesem Falle war es die Pflicht der deutschen Kommunisten, Schulter an Schulter mit er Roten Armee zu kämpfen.

Er dachte auch noch so, als der Einmarsch er Roten Armee sich nicht ganz so vollzog, wie er geglaubt hatte. Man mußte den Russen Zeit lassen. Und die Behördenreform, die Schulreform, die Enteignung der Großbetriebe erfüllte ihn und seine Freunde mit Befriedigung.

Der Besucher erklärte weiter :

Freilich war es bedauerlich, daß die Russen auch den deutschen Kommunisten gegenüber solches Mißtrauen zeigten, daß sie auch ihnen gegenüber die Besatzungsbehörde spielten.

»Natürlich trat ich wieder in die kommunistische Partei ein«, erklärte mein Besucher. »Und als diese sich in die SED verwandelte, wurde ich SEDist.«

Er machte eine Pause. »Sie meinen, ich sei persönlich verärgert? Fragen Sie doch in denjenigen Berliner Arbeitervierteln nach, wo die meisten roten Fahnen heraushingen, als die Russen kamen. Die meisten von ihnen waren schon Ende 1945 über den Raub der Maschinen so empört, daß sie lieber der Nazipartei, als der kommunistischen Partei beigetreten wären. Und es handelte sich um alte Kommunisten.«

In den nächsten Jahren bereiste mein Besucher die ganze Ostzone, um Material und Ersatzteile zu beschaffen. Er sprach mit zahlreichen SED- Funktionären und gelangte zu der Überzeugung, daß die meisten ein Doppelleben führten.

Tagsüber priesen sie die Sowjetunion, nachts schimpften sie darüber, wie die Russen die Bevölkerung aussaugten. Ein Mann, der zwanzig Jahre bei der Partei gewesen war, meinte: »Lieber als Marshall-Sklave sich satt essen, als unter der Sonne des sowjetischen Sozialismus verhungern!«

Und ein anderer formulierte es noch stärker: »Kommunist kann man mit Anstand heute nur noch in kapitalistischen Ländern sein!«

Die Russen waren falsch und scheinheilig

Aber am erbittertsten war mein Besucher über die Scheinheiligkeit der Sowjets. Da war die Sache mit den 100.000 Tonnen Weizen und den 10.000 Tonnen Fett, die die Sowjetunion während der Blockade für die Versorgung von ganz Berlin großzügig bereitstellte.

»Wieviel Reklame wurde dafür gemacht! Aber nicht veröffentlicht wurde, daß die Ostzone dafür Zucker an die Sowjetunion liefern mußte und daß Weizen und Fett zum Dollarweltmarktkurspreis eingesetzt wurde, während unser Zucker zum Stoppreis von 1944 verrechnet wurde Und solche Beispiele gibt es viele!«

Mein Besucher sagte, es handele sich hier nicht um Zufälle oder Irrtümer der lokalen Besatzungsbehörden, sondern um ein System.

Das »Resultat« dieses Systems: Das Volksvermögen im Osten hatte bis 1948 ständig abgenommen, und jetzt stieg es zwar, aber wesentlich langsamer als im Westen.
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Die Ostzone verarmte Monat für Monat

Die Verarmung der Arbeiterschaft nahm größere Ausmaße an.

»Und wenn man wenigstens damit rechnen könnte, daß auf die Dauer gesehen die Gesamtheit irgendeinen Nutzen aus dieser Entwicklung zöge! Wenn die Arbeiterschaft schließlich an die Macht käme! Aber davon kann keine Rede sein. Auch die obersten Männer der SED wollen nur Macht und Vorteile für sich selbst. Sie interessieren sich nicht mehr für die Wünsche der Arbeiterschaft, sie haben überhaupt keinen Kontakt mehr mit den Massen. Übrigens wagen sie gar nicht, gegen die Russen aufzutreten, denn sie alle haben ja in ihre eigenen Taschen gewirtschaftet, und die Russen wissen es. So bleibt ihnen nichts übrig, als den Mund zu halten und die Befehle der Russen auszuführen ........«
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Frust und Resignation saßen und sitzen tief im Herzen

Wieder schwieg der Mann eine Weile.

»Viele von uns glaubten, die Russen würden mit den Jahren etwas konzilianter werden. Auch das hat sich als ein Irrtum herausgestellt. Sie haben ein ungeheures Geltungsbedürfnis, sie wollen Tag für Tag die Sieger sein, und auch die sogenannten guten Kommunisten unter ihnen sind vor allem stolz darauf, daß die Sowjetunion die größte Militärmacht der Welt ist. Nicht aus der Verwirklichung ihrer kommunistischen Ideale erwarten sie sich alles Heil, sondern davon, daß die russischen Panzer funktionieren!«

Mein Besucher lächelte.

»Auch heute noch sagen sie zu uns Kommunisten: Eigentlich hätten wir mit Deutschland verfahren können, wie es uns paßt. Stalin war sehr großzügig, als er beschloß, es nicht zu zerstören. Und es ist nicht minder großzügig, daß wir nicht alles, was wir fanden, einsteckten, wie es wohl unser Recht gewesen wäre!« Der Mann stand auf: »Und das sind also Kommunisten! Und so stehen wir da! Dazu haben wir in Hitlers Konzentrationslagern gesessen!«

Und dann steckte er das Papier wieder ein, aus dem hervorging, daß er bereits 1924 in die Kommunistische Partei eingetreten war.

Die Russen sacken alles ein, das sie kriegen können

Was ihn am stärksten empörte, was die meisten (Ost-)Berliner empörte, die nun seit Aufhebung der Blockade Gelegenheit hatten, einen Blick durch den Eisernen Vorhang zu tun: daß die Russen wirklich alles »einsteckten«, das sie fanden, auch wenn sie behaupteten, es nicht zu tun.

Westalliierte Sachverständige schätzen diese versteckten Reparationen auf neun bis zwölf Milliarden Dollar für die Zeit von Kriegsende bis zum Beginn der Berliner Blockade - versteckte Reparationen, weil sie ja nicht angerechnet werden.

Es handelte sich hier um demontierte Betriebe, um die Gewinne aus ostdeutschem Export, um Waren, die in die Tschechoslowakei, auf den Balkan, aber auch nach Skandinavien exportiert wurden und deren Erlös die Russen restlos einsteckten; es handelte sich um nicht kontrollierbare Besatzungskosten, um Waren und Rohmaterialien, die als Reparation der laufenden Produktion entnommen wurden.

Nicht eingerechnet war dabei der Wert der Arbeit von zwei bis drei Millionen Kriegsgefangenen, die seit Kriegsende in Rußland arbeiteten.
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In manchen Dingen waren die Russe wirkliche Meister

Übrigens war es keineswegs leicht, sich ein Gesamtbild über die Höhe der ständigen russischen Entnahmen zu machen.

Die Sowjets hatten Statistiker und Wirtschaftler zur Verfügung, deren besondere Aufgabe es war, dafür zu sorgen, daß nichts über den Umfang der »Beute der russischen Truppen« und so wenig wie möglich über die verschiedenen Arten von Demontage herauskam.

Sie zeigten sich als Meister im Verschleiern. Sie führten einen ständigen Krieg gegen die Statistik. Sie requirierten jegliches Material, mit dessen Hilfe man eine vernünftige Statistik hätte aufstellen können.

Dort, wo solches Material nicht beseitigt werden konnte, wurde die Buchhaltung derartig dezentralisiert, daß sich schließlich niemand mehr auskannte. Auch kam es nicht selten vor, daß Personen, die Listen von abmontierten Maschinen aufzustellen versuchten, vom Fleck weg verhaftet wurden.

Die Spezialisten der Verschleierung arbeiteten gründlich. Aber ihre Auftraggeber hatten vergessen, daß sie es mit den Deutschen zu tun hatten, die fast alle Spezialisten an Gründlichkeit waren.

Und so war es eben doch nicht zu verschleiern, daß die Sowjets die gesamte Wirtschaft der Ostzone darauf abstellten, der Bevölkerung gerade soviel zu lassen, daß sie am Leben blieb, damit ihre Arbeitskraft von der Sowjetunion ausgenutzt werden konnte.

Mein kommunistischer Freund Karl Schwarz formulierte es so :

»Sie lieben uns weder, noch hassen sie uns«, sagte mein Freund Karl Schwarz, als er mit mir über die Russen sprach.

»Menschen sind ihnen völlig gleichgültig, nur eines ist ihnen wichtig: ihr Plan. Sie leben offenbar nur noch zu diesem Zweck, Pläne aufzustellen und sie durchzuführen, Fünf-Jahrespläne und Jahrespläne in der Sowjetunion und natürlich auch bei uns hier. Sie sind besessen von der Idee, ihre Pläne brächten das Heil, während der Kapitalismus im >Chaos< versinke. Das muß man erkennen, wenn man sie und ihre Politik verstehen will. Denn auch diese Politik ist auf irgendwelchen Plänen aufgebaut.«

»Und Sie verstehen die Russen?« fragte ich. Schwarz nickte. »Natürlich. Wir Deutschen sind ja auch organisationswütige Wesen Und die sowjetrussische Manie für Plänemachen hat uns angesteckt. Viele von uns machten gute Pläne. Aber dann kamen die Russen und warfen sie um, denn ihre Pläne sahen auf dem Papier besser aus. Allerdings nur auf dem Papier!« Er fügte hinzu: »Es gibt nur eine Gefahr ...« »Und die wäre?«
»Daß die Russen von uns lernen, wie man plant. Dann könnten nämlich die Pläne stimmen und erfüllt werden!«
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Die Russen ließen sich nicht belehren, von Deutschen schon gar nicht

Aber die Gefahr schien um jene Zeit nicht gerade akut zu sein. Weit entfernt davon, sich von den Deutschen belehren zu lassen, wie man plant, versuchten die Russen, sich gegenseitig durch immer bessere - das heißt auf dem Papier bessere - Pläne zu übertrumpfen.

Das Verwirrende war, daß gleichzeitig verschiedene Leute verschiedene Pläne durchzuführen versuchten. Ging ein Plan schief, so wurde seine Ausführung nicht sofort abgestoppt, sondern lief noch, wie ein führerloses Auto, eine Zeitlang weiter.

So hatten zum Beispiel gewisse Russen gewisse Beschränkungen angeordnet, die nur im Rahmen der Blockade Sinn hatten, und diese Beschränkungen wurden noch lange nicht aufgehoben, nachdem die Blockade bereits aufgehoben war.

Der Grund dafür war, daß die Kompetenzen der maßgebenden Russen in Berlin sich überschnitten. Niemand kannte sich mehr aus, wer das entscheidende Wort zu sagen hatte, am wenigsten die Russen selbst.
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