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Teil einer Lebens-Biografie von Curt Riess

Der Journalist, Reporter, Auslandskorrespondent und Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) hat in dieser in 1956/57 verfassten biografischen Zusammenstellung der Ereignisse in Berlin von 1945 bis 1953 eine Art von Roman-Form gewählt und sehr viele Daten, Personen und Einzelheiten aus der Film- und Kino-Welt untergebracht. Eigentlich ist es eine erweiterte Biografie aus seinem Leben. Sonst ist es ist es leider (im gedruckten Original) eine reine - nicht besonders lesefreundliche - Buchstabenwüste.

Zur Geschichte der Berliner Kinos gehört natürlich auch das Ende des 2. Weltkrieges in Berlin und die politische Entwicklung danach. Die einführende Seite beginnt hier.

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PLÖTZLICH war es ganz still in Berlin.

Die Berliner empfanden diese Stille so stark, daß sie sie zu hören glaubten; zu hören, daß die Bomben nicht mehr heruntersausten, die Granaten nicht mehr trafen, die Stalinorgeln nicht mehr ertönten, die Motoren der Tiefflieger nicht mehr summten ...

Viele sahen in dieser Stille ihren ersten Russen. Denn es kam überraschend oft vor, daß einer ganz allein auftauchte. In Straßen, die fast nur noch aus Ruinen bestanden, wo ein paar Zivilisten bemüht waren, die herumliegenden Leichen zu verscharren oder die halbverwesten Toten, die unter den Ruinen begraben waren, herauszubuddeln.

Man legte sie auf Handwagen, brachte sie irgendwohin, in einen Garten, in einen Park.

Und da stand plötzlich der Russe. Er sah meist ganz anders aus, als man ihn sich vorgestellt hatte. Er war klein, stämmig, ärmlich, müde und dreckig. Er hatte eine Maschinenpistole in der Hand und ging recht vorsichtig die Straße hinunter, immer ein wenig an der Häuserwand Deckung suchend. Sah er die Bettlaken, die als weiße Fahnen auf den Häusern wehten? Wußte er, daß Berlin erobert war? Er sah nicht aus wie ein Sieger.
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Als sie begriffen, daß sie die Sieger waren .........

Dann, von einer Stunde zur anderen, begriffen die russischen Soldaten, daß sie die Sieger waren und wollten es einander und sich selbst beweisen.

Sie suchten Frauen. Sie liefen in die Häuser, in die Keller, ja, sogar in die Krankenhäuser. Die Operationsschwester Käthe Eckstein erzählte mir, was sich im Elisabeth-Krankenhaus in der Lützowstraße nahe dem Zentrum der Stadt, in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1945 abspielte:

»Am Abend vorher war im Schein der Brände noch operiert worden, den ganzen Tag wurden verwundete Zivilisten und Soldaten aufgenommen, verbunden und behandelt.« Käthe fuhr fort: »Ich bin Diakonisse, wie die anderen Schwestern unseres Krankenhauses. Ich glaube an Gott. Ich betete, daß all diese Schrecken bald vorbei sein mochten ... Gegen zehn Uhr abends arbeiteten sich russische Stoßtrupps immer näher an unser Krankenhaus heran. Dort, auf der anderen Seite, lagen hinter den eilig aufgeschichteten Steinbarrikaden SS-Leute, die Reste einer Panzerkompanie. Sie wollten sich nicht ergeben. Aus allen Ruinen flammten ohne Unterbrechung die Mündungsfeuer der Gewehre ...

Die Russen sind da! - und jetzt gings los mit "Frau komm"

Dann ertönten furchtbare Schreie aus dem hinteren Flügel des Krankenhauses. Ich hörte Schüsse und Handgranaten. Ich stürzte auf den Gang. Verwundete, denen ihre Verbände in Fetzen herunterhingen, schleppten sich die Gänge entlang, krochen auf allen Vieren die Treppen hinauf. ,Die Russen sind da!'

Plötzlich war mein Zimmer voll von Krankenschwestern. Sie lagen auf den Knien und beteten oder liefen angsterfüllt hin und her. Dann ging die Tür auf. Soldaten in erdbraunen Uniformen stürzten herein, rissen einige der Schwestern aus dem Zimmer.

Ich floh in das nächste Zimmer, dann in das nächste, riß eine Tür auf, wieder eine ... Und immer näher kamen die Granaten an unser Krankenhaus heran, manche schlugen schon ein, plötzlich roch ich, daß es brannte. Ich rannte durch die Krankensäle. Überall waren nun Russen, zerrten Krankenschwestern oder Patientinnen mit sich, rissen ihnen die Kleider vom Leibe, begossen sie mit Schnaps, schossen in die Wand. Einige Rotarmisten kauerten am Fenster und schossen auf die andere Seite der Straße. Aber schon nach ein paar Schuß nahmen auch sie an den Vergewaltigungen teil. Und dann verbarrikadierten sie die Türen, damit ihre Kameraden nicht kommen konnten, um ihren Platz einzunehmen ...

Und dann brannte ein Flügel des Krankenhauses ab

Ich weiß nicht, wie ich aus dem Krankenhaus heraus und in das Nebenhaus hineinkam, nicht, wie ich die Nacht im Keller überstand. Am nächsten Morgen kam ich zurück. Nur noch einige Flügel des Krankenhauses standen, waren voll von Patienten und Schwestern. Die Russen kümmerten sich nicht mehr um sie, sie hatten in den Nebenhäusern "zu tun".

Aber jener Teil des Krankenhauses, in dem die russischen Soldaten die Schwestern vergewaltigt hatten, war nicht mehr als eine Masse rauchender Balken und heißer Ziegelsteine. Später, als wir mit den Aufräumungsarbeiten ein wenig fortgeschritten waren, fanden wir noch die eisernen Bettgestelle und, furchtbar zusammengeschrumpft, die verbrannten, ineinander verkrampften Menschen. Das Koppelzeug, die Pistolen, die Schuhe zeigten: die Russen waren in ihrem Rausch mit den Frauen verbrannt, die sie geschändet hatten.«

»Die Russen hatten in den Nebenhäusern zu tun ...« Es gab in den nächsten Tagen wohl kaum ein Haus, in dem sie nicht »zu tun hatten«.

Den Frauen Berlins halfen auch keine Tricks

Die Frauen Berlins versuchten, sich zu verbergen, versuchten, durch Asche, die sie sich ins Gesicht schmierten, sich häßlich und alt zu machen. Manchen gelang es, sich als Männer zu verkleiden, manche schminkten sich einen häßlichen Ausschlag an und gaben zu verstehen, daß sie eine furchtbare, ansteckende Krankheit hätten.

Ja, es gab schon Rezepte, wie man solch eine ansteckende Krankheit vortäuschte: durch Honig, Grieß und grauen Staub. Andere ließen sich durch Ärzte, die sie kannten, Pillen oder Medikamente verordnen, die sie zumindest vorübergehend entstellten. Viele brachten sich um.

Immer wiederholte sich die gleiche Szene: ein Kolbenschlag an die Tür, zwei oder mehr Rotarmisten erschienen, packten die hübschesten Frauen, packten auch zwölfjährige Mädchen, einer postierte sich dann vor eine Tür, und die anderen hörten dann nichts mehr, als die gellenden Hilfeschreie der Vergewaltigten.

Wie ein Lauffeuer wußten die Russen, wo sie suchen mussten

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde bei den Russen, wo die hübschesten Mädchen wohnten, und es war durchaus nicht selten, daß diese Häuser dann an einem Tag zwanzig- und dreißigmal besucht wurden.

Die meisten Russen dachten gar nicht daran, sich auszuziehen, während sie die Vergewaltigungen vornahmen. Viele ließen nicht einmal ihren Revolver aus der Hand. In keinem Falle kümmerten sie sich darum, ob jemand zusah oder wer zusah. Zahllose Frauen wurden in Gegenwart ihrer Männer, ja, auch ihrer Kinder vergewaltigt. Es spielte dabei gar keine Rolle, daß es sich oft um Mütter erwachsener Kinder und sehr alte Frauen handelte, denn, wie sich schnell in Berlin herumsprach, sagte ein russischer Aberglaube, daß derjenige, der mit einer betagten Frau schlafe, auch ein reifes Alter erreichen werde.

Die Frauen Berlins werden es nicht vergessen können

In allen Häusern, in allen Kellern ertönte der monotone Ruf: »Frau, komm!« Einige wenige entkamen, indem sie sich wochenlang versteckt hielten unter einem Bett, in einem Schrank, auf einem Dach. Aber es entkamen viel weniger, als später behauptet wurde.

Die meisten mußten das Schicksal erleiden, von dem sie geglaubt hatten, es sei schlimmer als der Tod. Und sie mußten es durch Männer erleiden, mit denen sie sich noch nicht einmal verständigen konnten, von deren Sprache sie kein Wort verstanden, und die nichts verstanden von dem, was sie schrien, von Männern, die fast ausnahmslos abschreckend häßlich waren, die sich seit Wochen nicht gewaschen hatten, die vor Schmutz und Schnaps stanken und die alle möglichen Krankheiten haben konnten.

»Frau, komm!« Aber seltsam: Wenn das Entsetzliche erst fünf- oder sechsmal geschehen war, war es nicht mehr so entsetzlich. Das, was man nicht überleben zu können glaubte, wurde von vielen zwanzig- und dreißigmal überlebt. Und immer weiter gingen die Vergewaltigungen, immer von neuem stürzten sich die Russen auf ihre Opfer. »Frau, komm!« Eine Stadt wurde vergewaltigt.
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Die meisten Russen kamen aus primitiven Verhältnissen

NICHT alle Russen benahmen sich in diesen Tagen der Eroberung Berlins so furchtbar. Manche von ihnen wirkten eher nett, treuherzig, in ihrer täppischen Art fast bedauernswert. Sie erschienen in den Wohnungen und bestaunten alles: die Uhren und die Lampen, die Wasserklosetts. Sie wiederholten unaufhörlich mit großem Enthusiasmus: »Licht aus Decke, Wasser aus Wand!«

Sie schleppten aus irgendeiner Wohnung eine Badewanne ins Freie, machten ein Feuer, wobei sie als Brennholz antike Möbel benutzten, und badeten der Reihe nach alle, indem sie vergnügt wie Babys herumplantschten.

Sie waren besonders versessen auf Taschen- und Armbanduhren, und sie nahmen auch allen Schmuck weg, den sie finden konnten. Manchmal handelte es sich um das Letzte, was arme Leute besaßen, oft um Schmuck, der fast wertlos war. Und es kam einige Male vor, daß, wenn eine arme Frau weinte und bat, ihr die paar Goldketten doch zu lassen, der russische Soldat zwar trotzdem alles fortnahm, am nächsten Tag aber wiederkehrte und der überraschten Frau eine Hosentasche voll Schmuck auf den Tisch warf: die herrlichsten Perlen- und Diamantenkolliers, die das Tausendfache von dem wert waren, was man ihr selbst abgenommen hatte.
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Auf Fahrräder waren sie ebenfalls scharf

Aber das waren die Ausnahmen. Und als nach den ersten Tagen des lähmenden Entsetzens ein paar Berliner sich wieder auf die Straße wagten und, da es keine Verkehrsmittel gab, ihre Fahrräder benutzten, um zu ihren Freunden zu gelangen, nahm man ihnen auch diese weg. Die Russen riefen »stoy!«, und wer nicht hielt, auf den wurde gefeuert.

Dann stürzten die Russen sich auf Kleidungsstücke. Ein Berliner mußte mitten auf der Straße seinen Mantel ausziehen, weil ein Rotarmist ihn schöner fand als den seinen. »Du meinen Mantel, ich deinen Mantel«, hatte er ihm mit vorgehaltener Pistole zugerufen. Der Berliner nahm achselzuckend den russischen Mantel in Empfang. Als er zu Hause angekommen war, merkte er, daß in der Manteltasche sechzehn Uhren steckten.
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Stalin war nun mal der Sieger und bedankte sich

Vielleicht nahm Stalin auf dergleichen Bezug, als er wieder einige Tage später in der ersten Zeitung, die in Berlin erschien - sie hieß »Tägliche Rundschau« und war von dem Kommandanten der Roten Armee herausgegeben - den Berlinern herzlich dankte dafür, daß sie seine Soldaten »so reich« beschenkt hatten. Wenn den Berlinern damals nicht so sehr nach Weinen zumute gewesen wäre, hätten sie darüber lachen können.

Die Demontage der Reparationen begann sofort

Übrigens beschenkten die Berliner die Rotarmisten mit weit mehr als mit ein paar Uhren oder Fahrrädern. Denn am ersten Tage der Besetzung Berlins durch die Rote Armee begannen schon die Demontagen. Die Demontagen waren anfangs improvisiert, aber gründlich.

Sowjetische Einheiten, fünfzig oder hundert Mann, raubten die noch stehenden Fabriken aus, sammelten - wahllos - Autos, Radioapparate, Telefone ein, schleppten Mobilar aus den Wohnungen fort. Dazu brauchten sie Arbeitskräfte. Sie fanden sie, indem sie einfach Leute auf der Straße anhielten und mit ihren Pistolen herumfuchtelten. Nun hieß es nicht mehr: »Frau, komm!« sondern: »Du, Frau, komm arbeiten!«

Die Berliner und die Berlinerinnen wurden in Gruppen von etwa zweihundert in die zerbombten Fabriken geführt und mußten nun irgend etwas abmontieren oder verladen. »Schnell, schnell!« riefen die Russen, die als Aufseher dabeistanden; das Wort »schnell« war eines der wenigen, die sie gelernt hatten.

Die große Eile beim Abbau - hatten die Russen Angst ?

So ging es bei Siemens, bei Daimler-Benz, in den Städtischen Elektrizitätswerken, in den Telefonämtern, den Warenhäusern, den Filmateliers. In vier Wochen wurde in größter Eile soviel abgebaut, daß, wie Experten später feststellten, unter Einrechnung der Zerstörungen nur noch zwanzig Prozent der ehemaligen Industriekapazität Berlins verblieben.

Während sich auf den Bahnhöfen riesige Kisten mit kyrillischen Adressen türmten - Adressen in Moskau, Odessa und Charkow - wußten die Berliner bereits, daß die Kisten oder die verpackten Klaviere, Telefone, Radioapparate nie an diese Bestimmungsorte gelangen würden. Denn in Ostdeutschland, das hatte sich schnell herumgesprochen, waren bereits die meisten Eisenbahnschienen abmontiert worden, und nur noch wenige Züge kamen überhaupt bis zur Sowjetunion durch. Und so begannen die demontierten, schlecht oder gar nicht verpackten Maschinen und Apparate zu verrosten, sich in ihre Bestandteile aufzulösen, kurz, sie gingen »kaputt«, wie die Russen es nannten.

Und gleich begannen die Sprüche der Sowjets

Und in der ganzen Zeit veröffentlichte die SMA - die Sowjetische Militär-Administration - Aufrufe in den Zeitungen und über das Radio, die die Bevölkerung für den Wiederaufbau begeistern sollten. Die Berliner lächelten grimmig. »Der Aufbau beginnt mit dem Abbau«, sagten sie.

Auf den Straßen herrschte noch immer heilloses Durcheinander. Die Kinder spielten in den Ruinen, sie kamen mit hohen Naziorden, Gasmasken, Gewehren und Hakenkreuzfahnen wieder nach Hause zum Entsetzen ihrer Eltern, die befürchten mußten, daß die Russen beim Anblick dieser Requisiten einer nicht mehr existenten Welt sofort zu schießen anfangen würden.

Die Russen holten alles raus, das sie tragen konnten

Übrigens gab es für die meisten Berliner gar kein richtiges Zuhause mehr. Auch diejenigen, die in den letzten Wochen und Monaten nicht ausgebombt waren, verloren nun alles. Sie mußten innerhalb von Minuten aus ihren Wohnungen heraus, die requiriert wurden.

Nach ein paar Tagen oder Wochen durften sie wieder zurück, aber da war nichts mehr da außer den nackten Wänden. Die Russen hatten alles herausgeholt - Betten, Couches, Sessel, Teppiche. Die meisten Wohnungen waren in einem unbeschreiblichen Zustand, voll von Dreck und Gestank, der wochenlang nicht fortzubringen war.

Die Berliner glaubten zuerst, die Russen hätten sich aus Absicht, Bosheit, Feindschaft so schlecht betragen. Erst später begriffen sie, daß die meisten einfach nicht wußten, was ein Wasserklosett ist.

Viele Russen hielten es für einen Eisschrank, legten Butter und Wurst hinein, zogen die Spülung und waren erstaunt, das Ganze nach unten verschwinden zu sehen. Sie liefen in den nächsten Stock hinunter und verlangten energisch ihren Proviant. Sie wollten nicht begreifen, daß er unauffindbar blieb.

Sie begriffen so vieles nicht, zum Beispiel, was eine Weckeruhr zum läuten bringt. Wenn einer zufällig eine in der Hand hatte, die zu läuten begann, ließ er sie fallen wie ein heißes Stück Eisen, zog den Revolver und schoß sie tot.
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»Ich hab's überstanden, lebe noch!«

Trotzdem oder gerade wegen solcher Zwischenfälle begriffen die Berliner langsam, daß sie auch das überleben würden. Sie begannen, einander zu besuchen oder zu suchen, denn kaum einer war noch in seiner Wohnung. Sie ließen Zettel an den Mauern der Häuser - Türen gab es kaum noch: »Ich hab's überstanden, lebe noch!« Dann folgten Name und neue Adresse.

Wenn die Berliner einander besuchten, klopften sie nicht an. Klopfen - das konnte immer Russen bedeuten. Sie klapperten an den Briefschlitzen. Das war der erste Geheimcode. Wenn keine Briefschlitze mehr vorhanden waren, wurde gepfiffen.

Eine große Sorge war, das notwendige Wasser herbeizuschleppen, denn die Wasserleitungen funktionierten nicht mehr. Erst dann begannen die Berliner, sich dafür zu interessieren, was in ihrer Welt, in der kleinen Welt von Berlin, vorging.
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Die ersten beiden Zeitungen für Berlin

Schon gab es zwei Zeitungen, sie hatten neutrale Namen, hießen »Berliner Zeitung« und »Volkszeitung«, und sie schienen auch ganz neutral zu sein. Wenig Berliner ahnten damals, daß Kommunisten sie schrieben und herausgaben.

In den Zeitungen waren vor allen Dingen die Befehle der sowjetischen Kommandantur abgedruckt. Es gab eine Unmenge Verordnungen und Aufrufe. Es schien den Russen ungeheuer eilig zu sein, Berlin wieder zu normalisieren.

Die Theater sollten spielen - es gab noch vier Theater, die bespielbar waren; im Rundfunk sollte Musik gemacht werden, vor allen Dingen russische. Während noch lustig vergewaltigt und geraubt wurde, stand in den Zeitungen zu lesen:

»Der Stadtkommandant hat angeordnet, daß die Lokale und Cafes wieder geöffnet werden. Am Sonntag dürfen Musikkapellen spielen. Die Bevölkerung soll sich bewußt sein, daß der verbrecherische Hitlerkrieg zu Ende ist. Berliner! Kehrt zum Frohsinn zurück! Die Rote Armee hat Euch von den Schrecknissen des Krieges befreit! Nach der Arbeit könnt Ihr Eurem Vergnügen nachgehen!«
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Witze - nicht mehr über Goebbels, sondern über die Sieger

Aber das einzige Vergnügen der Berliner an diesen Tagen waren die Witze, die sie über die Sieger machten. Jahrelang hatten die Witze über Hitler, Göring, Goebbels einen großen Teil ihrer Unterhaltungen bestritten. Jetzt war »Iwan« an der Reihe.

Übrigens machten sie sich auch über sich selbst lustig. Ja, sie scheuten sich nicht davor, noch über die großen Tragödien Witze zu machen.

Von vielen vergewaltigten Frauen wurde gesagt: »Eigentlich sollten sie den Russen dankbar sein! Ohne sie hätten sie nie mehr einen Mann bekommen.« Über die Vergewaltigungen unterhielt sich später der berühmte, inzwischen verstorbene Schauspieler Paul Wegener mit mir.

Er erzählte, daß in den ersten schlimmsten Tagen viele junge Frauen in sein Haus gerannt wären, verfolgt von Russen. - »Aber ich konnte sie retten!«
»Ach, Sie sprechen russisch?« fragte ich. »Nein, kein Wort.«
»Dann verstanden die russischen Soldaten deutsch?« »Nein, kein Wort.«
Ich war erstaunt. »Wie konnten Sie denn den Russen ausreden, die Mädchen zu vergewaltigen?«
Der große Schauspieler sah mich erstaunt an. »Nun«, gab er die Frage zurück,«wozu ist man Mime?«
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Leben in einer Realität wie in einem bösen Traum

Während die Berliner Witze machten, lebten sie in einer Realität, die einen wie ein böser Traum anmutete. Kleine Kinder und Säuglinge starben. Sie verhungerten einfach. Überall starben Menschen, weil sie nicht mehr die Kraft hatten weiterzuleben.

Aber wohin mit den Leichen? Särge gab es nicht. Wer einen Garten hatte, begrub dort seinen Vater, seine Mutter oder sein Kind, die Leichen notdürftig in Zeitungspapier eingewickelt; wer keinen Garten hatte, besorgte sich einen Schuhkarren, auf den die Leiche gelegt wurde. Die tief trauernden Hinterbliebenen schlossen sich an.

Plötzlich wurde wieder geschossen. Irgendein Russe lag in einer Ruine und erlaubte niemandem mehr, die Straße zu überqueren. Vielleicht war schon die Stunde, in der man zu Hause sein mußte.

Man konnte es ja nicht wissen, kaum einer hatte noch eine Uhr; und selbst wenn einer noch eine Uhr besaß, wußte er doch nicht, wie spät es war. Die Russen hatten in Berlin dieselbe Zeit eingeführt wie in Moskau, um zehn Uhr abends war es noch ganz hell, um sieben Uhr morgens noch ganz dunkel.

Überall begegnete man den Schubkarren oder Handwagen mit den in Papier gewickelten Leichen, die Wagen wurden von den trauernden Familien selbst gezogen oder geschoben. Das war nicht immer leicht, denn noch waren die Straßen unpassierbar, manchmal war es ganz unmöglich den Wagen bis zu einem Friedhof durchzubringen.

So kehrte man unverrichteter Sache wieder nach Hause zurück, mußte dabei immer gewärtig sein, daß man zu spät kam und von den Russen angeschossen wurde.

Am nächsten Morgen begann die Odyssee mit der Leiche von neuem. Wieder mußte man die Straße hinunterfahren, wieder konnte es passieren, daß man den halben Weg zurückgehen mußte, weil irgendwo die Welt durch eingestürzte Häuser ein Ende hatte. Die trauernden Hinterbliebenen begannen müde zu werden.

Es ging doch nicht an, daß sie nun tagelang einen Platz für ihre Mutter oder ihr Kind suchen sollten. Und dann, wenn sie schließlich doch noch zu einem Friedhof kamen, mußten sie vielleicht noch das Grab selbst schaufeln und mußten es auch gleich wieder zuschaufeln, weil kein Geistlicher in der Nähe war, der auch nur ein Gebet hätte sprechen können. Aber wie lange dauerte es, bis sie einen Friedhof fanden?

Manchmal drei, vier Tage ... und immer wieder begegnete man diesen Handkarren, die da geschoben und gestoßen wurden, und die tief trauernden Hinterbliebenen muteten einen an wie nahe Verwandte des ewigen Juden, verdammt, immer und ewig diese Straßen mit ihren Toten zu befahren.

An allen Friedhöfen waren Schilder angebracht: »Tüchtiger Friedhof sgärtner gesucht, an selbständiges Arbeiten gewöhnt.« Und an vielen Berliner Häusern gab es Schilder: »Tischler für Sargfabrikation werden sofort eingestellt.«
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