Sie sind hier : Startseite →  Film-Historie 1→  Curt Riess - mein Leben→  Das waren Zeiten - 13

Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

.

Teil III • EMIGRATION

.

(12) Paris

.

Der Hilferuf der Kinder an den Vater Thomas Mann ....

Ich hatte Thomas Mann seit meiner Studentenzeit in München nicht mehr gesehen, es sei denn gelegentlich eines seiner Vorträge oder bei einem Empfang, aber auch da nur von weitem. Und nun besuchte ich ihn, ein gutes Jahr nach meiner Flucht aus Berlin, in Zürich.

Eigentlich war es Küßnacht am Zürichsee, dort hatte er eine geräumige Villa gemietet. Es war auch genaugenommen kein Besuch im landläufigen Sinn, eher die Beantwortung eines Hilferufs.

Klaus Mann hatte ihn - übrigens in Paris - ausgestoßen: „Du mußt mit meinem Vater reden! Vielleicht hört er auf dich. Auf mich und Eri (das war Klaus's Schwester Erika) will er nicht hören!"
.

Klaus und Erika Mann hatten Deutschland bereits verlassen

Die Sache war die: Klaus und Erika hatten Deutschland bald nach Hitlers Machtergreifung verlassen. Klaus gründete eine Anti-Hitler-Zeitschrift in Amsterdam, die nur ein kurzes Leben fristete, Erika rief ein Kabarett „Die Pfeffermühle" mit gleichen Tendenzen ins Leben und spielte allabendlich mit Therese Giehse und anderen, erstaunlicherweise sogar noch eine Zeitlang in München, dann in Prag, in Zürich, in holländischen Städten - überall, wo es überhaupt möglich war.

Ungefährlich war es nirgends, denn es gab in jeder Stadt Sympathisanten der neuen deutschen Machthaber: in Zürich zum Beispiel kam es zu wahren Straßenschlachten vor dem Kabarett.
.

Das Ehepaar Mann war auf einer Winterreise im Engadin

Thomas Mann hatte sich, als Hitler kam, auf einer Winterreise im Engadin befunden. Er war also nicht eigentlich emigriert, sondern nur nicht nach Hause zurückgekehrt. „Er schwankt immer noch!" verriet mir seine Frau, die schöne und ungemein gescheite Katja. „Sie müssen ihm zureden. Er darf doch nicht mehr zurück!"

Thomas Mann schwankte in der Tat. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Man sah es ihm an - er war grau im Gesicht, als er mich empfing. Gewiß, da waren Erika und Klaus, die sich bereits festgelegt hatten und schon ausgebürgert waren.

Aber er? Seine jüdische Frau hätte man einem Mann seiner Position doch wohl „verziehen". Ich war dessen nicht so sicher und sagte es ihm auch. Und schließlich hatte man bereits sein Münchner Haus verwüstet, ausgeraubt und beschlagnahmt. Und die Nazizeitungen hatten ihn in den letzten Jahren, auch schon vor der Machtergreifung, recht brutal angegriffen.

Zwar ließ ihn Goebbels mehrmals wissen, ihm werde, wenn er erst zurückgekehrt sei, kein Haar gekrümmt werden. Freilich, meiner Ansicht nach begab er sich in Gefahr, sobald er über die deutsche Grenze ging.
.

Ich glaubte mich auf einer Entdeckungsfahrt zu befinden

In Prag hatte ich mich nicht als Emigrant gefühlt, geschweige denn als Ausgestoßener. In die Schweiz war ich vorerst gar nicht gefahren, weil man von allen Seiten hörte, daß es dort fast unmöglich sei, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.

In Prag gab es keine Arbeitserlaubnis, geschweige denn Arbeit. In Wien, wohin ich dann fuhr, war die Situation ähnlich, nur noch deprimierender. Denn unter den Österreichern gab es viele geheime Nazis oder zumindest Sympathisanten, schon allein deshalb, weil viele Österreicher Antisemiten waren.

Als ich von Wien aus nach Paris fuhr, glaubte ich noch immer, mich auf einer Reise, auf einer Entdeckungsfahrt zu befinden. Ich war keineswegs ängstlich, eher neugierig. Erst als ich in Paris landete und mir ein Zimmer nahm in einem Hotel in der Nähe der Gare de l'Est, das ich bei früheren Besuchen nicht einmal eines Blickes gewürdigt hätte; und als ich dann in dem winzigen Zimmer saß und durch die schlecht geputzten Fensterscheiben auf Häuserwände und Dächer sah, überkam mich sehr plötzlich und ohne Vorwarnung die nackte Verzweiflung.
.

Das war neu : ganz plötzlich und ohne Vorwarnung die nackte Verzweiflung

Zum ersten Mal begriff ich meine Lage ganz. Zum ersten Mal wurde die Frage dringend: Was nun? Zum ersten Mal wurde mir klar: dies war keine Reise, dies würde lange dauern. Es würde vielleicht mein ganzes Leben lang dauern.
.

Ich stand vor dem Nichts.

Übrigens: diese Verzweiflung hielt nicht lange an. Einen, zwei Tage vielleicht, in denen ich mich kaum aus dem ärmlichen Hotel hinauswagte. Selbst die Mahlzeiten nahm ich dort ein. Dann - nun, es wäre falsch zu sagen, ich hätte mich zusammengerissen. Alles geschah ohne mein Zutun.

Ich entschloß mich, etwas zu unternehmen. Irgend etwas. Als erstes suchte ich mir eine andere, weniger deprimierende Bleibe. Und fand sie auch in einer Art Apartmenthaus - es war, wie ich später herausfand, auch ein Stundenhotel - unweit der Place des Ternes und den Champs Elysees. Das Zimmer mit Bad war eigentlich viel zu teuer für mich, aber ich würde eben anderswo sparen müssen, bis ich wieder Geld verdiente.
.

Aber wie? Und wo?

Ich hatte vorerst keine Ahnung. Und die Menschen, die ich traf, hätten mir auch kaum raten, geschweige denn eine Stellung besorgen können. Es waren durchwegs Emigranten. Ich fand sie - sie fanden einander - in den ungezählten Cafes an und in der Gegend der Champs Elysees. Eine Tasse Kaffee oder auch ein Cognac, das war für jeden noch erschwinglich.
.

Wir redeten. Wir redeten unaufhörlich.

Und natürlich fast immer nur über Deutschland. Was hatte heute wieder in den Zeitungen gestanden? Hitler hatte dieses gesagt, Göring jenes angeordnet, Goebbels eine wichtige Rede gehalten.

Wir hielten für unsinnig, was die neuen Machthaber von sich gaben. Wir hielten auch, was immer sie sagten, für ein Zeichen ihrer Unsicherheit - wobei wir gelegentlich recht hatten, meist aber unrecht. Was wir nicht begriffen, war, daß das deutsche Volk diese Männer ernst nahm und, schlimmer noch, daß man sie im Ausland hinnahm.
.

Die Mehrzahl glaubte an einen kurzlebigen "Spuk"

Trotzdem war die Mehrzahl der Emigranten, wie schon in Prag und Wien, überzeugt, der Spuk - diesen Begriff führten wir dauernd im Munde - würde sehr schnell vorübergehen. Manche bedauerten schon, überhaupt abgereist zu sein. „Das Reisegeld hätten wir uns sparen können!"

Und das, obwohl wir täglich von Verhaftungen lasen und in der nichtdeutschen Presse von politischen Morden und bald auch von Konzentrationslagern, unter denen wir uns vorerst nichts Rechtes vorstellen konnten.

Manche Emigranten packten ihre Koffer erst gar nicht aus. Sie waren fast sicher, daß der Umschwung in Deutschland, wie immer er aussehen mochte, schon morgen eine vollendete Tatsache sein würde. Dann mußte man so schnell wie möglich zurück!

In die Heimat - so nannten die meisten Deutschland noch immer. Sie hatten auch Heimweh. Später, viel später, während des Krieges wurde Erich Maria Remarque in Hollywood einmal gefragt, ob er kein Heimweh nach Deutschland habe. Er antwortete: „Warum? Ich bin doch kein Jude!"
.

Das war mehr als ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten.

Zynisch? Es war mehr als ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten. Es gab Emigranten - und viele davon waren ehemals bekannte Persönlichkeiten -, die aus lauter Ratlosigkeit Angst hatten, irgend etwas irgendwo zu versäumen, die dauernd Pläne schmiedeten - und gleich viele auf einmal, die das Gefühl hatten, irgend etwas unternehmen zu müssen, und zwar besser heute als morgen, aber nicht recht wußten, was.

Sie waren völlig verwirrt und schon daher zu irgendwelchen Entschlüssen unfähig. Da sie keinen Fehler machen wollten, blieben sie in ihren zahllosen Plänen stecken.

Ich denke da etwa an den früheren Besitzer des „12-Uhr-Blattes", also an meinen bisherigen Chef. Er war entzückt, mich auf den Champs Elysees zu treffen. Seine ersten Worte: „Wir müssen eine Zeitung machen!"

Das ehrte mich natürlich. Schließlich war ich ja nur einer seiner Redakteure gewesen und keineswegs einer, der je eine Zeitung „gemacht" hatte. Ich dachte, er hätte schon Verhandlungen geführt, Druckereien zur Hand, Redakteure und Mitarbeiter engagiert. Nichts von alledem. Er konnte nicht einmal passabel französisch sprechen.
.

Machen wir mal eine „B. Z. am Mittag" - in Zürich

Um diese Zeit erreichte mich noch eine weitere recht erstaunliche Nachricht aus Berlin - von einem der Brüder Ullstein. Ob ich nicht Lust hätte, mit ihm in Zürich die „B. Z. am Mittag" herauszubringen?

Wiederum fühlte ich mich sehr geehrt. Ich fuhr nach Zürich. Um die Frage der Bewilligung einer solchen Zeitung kümmerte ich mich erst gar nicht, ich hatte naiverweise vermutet, die hätte der alte Hase der Zeitungsbranche längst in der Tasche. Er hatte aber nicht.

Es kostete mich genau einen Tag, um festzustellen, daß und warum ein Boulevardblatt, das um die Mittagszeit herauskommt, in Zürich und überhaupt in der Schweiz unmöglich sei. Dort war eben zwischen zwölf und zwei Uhr mittags kein Mensch auf der Straße, um eine Zeitung zu kaufen oder gar zu lesen. Alle befanden sich zu Hause, um in Ruhe ihr Mittagessen einzunehmen.

Übrigens war es ein ungeschriebenes Gesetz in der Schweiz, daß ein Ausländer weder eine Zeitung besitzen noch auch sie nur leiten dürfe. Auch das hätte man in Berlin eigentlich wissen müssen. Ich erfuhr es erst viel später, lange nach dem Krieg und eher zufällig, denn ich hatte nie die Absicht, in der Schweiz eine Zeitung zu „machen".
.

Auch die Zeitung in Paris wurde ein Flop

Walther Steinthal ließ die Idee einer Pariser Zeitung schon nach ein paar Tagen wieder fallen. Er kam mit immer neuen Ideen, besser: er hatte immer von neuen Ideen gehört. Da war einer, der wollte eine Wäscherei aufmachen. Eine Schnellbügelanstalt! Ein Restaurant mit - ausgerechnet - Berliner Spezialitäten.

Steinthal rief mich drei- oder vier- oder auch fünfmal am Tag an, er mußte mich immer ganz dringend sprechen, es handelte sich jeweils um einen neuen Plan - und aus keinem wurde etwas.

Ich verlor ihn schließlich aus den Augen. Viele Jahre später sah ich ihn noch einmal in Zürich, er verhandelte dort mit irgend jemandem, es war wieder so ein ganz unrealistisches Projekt.

Und dann, schon zu Beginn des Krieges, sah ich ihn in Ellis Island wieder, wo er bei dem Versuch, in die Vereinigten Staaten einzuwandern, zwecks Überprüfung seiner Papiere festgehalten wurde. Er hatte mich als Referenz angegeben. Es gelang mir, ihn loszueisen.

Er zog dann weiter, nach San Francisco, wo er an einer Universität einen Lehrstuhl bekam und über Moses und die Geschichte der Juden las. Ich war erstaunt. Ich hatte niemals gewußt, daß er sich mit Geschichte abgab, vermutlich hatte er es auch früher nie getan. Ein Projekt, das glückte.

Wieder einige Jahre später, schon nach Beendigung des Krieges, erreichte mich ein Brief von ihm in Berlin. Er habe Amerika gründlich satt, er wolle nach Deutschland zurück, ob ich ihm wohl eine Stellung besorgen könne. Es ging damals weniger um die Stellung als darum, die alliierten Behörden zu veranlassen, seiner Rückkehr zuzustimmen. Meine ermutigende Antwort kreuzte sich mit der Nachricht von seinem plötzlichen Tod.
.

Nur wenige Emigranten in Paris erkannten die Realität

Eigentlich gab es damals in Paris nur wenige Emigranten, die sich darauf einrichteten, daß sie vielleicht nie wieder nach Deutschland zurückkehren könnten. Zu diesen gehörten vor allem die jungen Leute vom Film, die seltsamerweise - oder vielleicht war es gar nicht so seltsam - in einem zweitklassigen Hotel, „Ansonia", unweit vom Arc de Triomphe, lebten.

Das waren Billy Wilder, der Komponist Franz Waxmann, Peter Lorre, Hans Lustig, bisher Journalist bei Ullstein, der Musiker Allan Grey, trotz seines englischen Namens ein Deutscher und ein Spezialist für Filmmusik, und andere mehr.

Billy Wilder, der bisher nur Drehbücher geschrieben hatte, gelang es, einen französischen Film auf die Beine zu stellen, sich selbst zum ersten Mal als Regisseur zu betätigen und ein völlig unbekanntes und vom französischen Film bisher nicht beachtetes blutjunges Mädchen namens Danielle Darieux in der Hauptrolle herauszubringen. Es wurde übrigens ein gewisser Erfolg.
.

Die Filmleute wollten nach Hollywood ins gelobte Land

Die Leute aus dem „Ansonia" hatten keineswegs den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Sie wollten Hollywood erreichen. Das schien anfangs eine ganz aussichtslose Sache zu sein; man hielt in Hollywood nicht viel vom deutschen Film - trotz Lubitsch. Aber der Sprung gelang ihnen allen.

Fritz Lang war übrigens auch in Paris, aber, da arriviert, wohnte er in einem der ersten Hotels und drehte auch bald mit dem schon bekannten Schauspieler Charles Boyer, den er aber für den Film entdeckte.

Lang, der Anfang der zwanziger Jahre die „Nibelungen" inszeniert hatte, war von Goebbels dazu ausersehen gewesen, eine Art Filmzar des Dritten Reichs zu werden. Aber er wartete nicht ab, bis der Propagandaminister herausbekam, daß er so arisch nicht war, sondern nahm nach seiner ersten und letzten Konferenz mit Goebbels den nächsten Zug nach Paris. Er war nicht einmal in seine Wohnung zurückgekehrt, um auch nur das Notwendigste zu packen.

  • Anmerkung : Das hatte Riess aber in einer der anderen Bisogrfien anders dargestellt. Fritz Lang war nach demGoebbels Gespräch sehr wohl Nachhause gefahren, hatte sein gesamtes Bargeld eingesteckt und den Assistent weit weg geschickt und war dann unerkannt abgehaun. Der Link auf diesen Artikel kommt noch.

.

Otto Katz schrieb in Paris das sogenannte "Braunbuch"

Auch unter den Journalisten gab es einige, die nicht recht an eine Rückkehr glaubten; vor allem die politischen Emigranten, also die Kommunisten. Da war Willi Münzenberg, Herausgeber verschiedener kommunistischer Zeitungen in Berlin.

Er saß in einem kleinen Büro auf dem linken Ufer der Seine und machte zusammen mit Otto Katz, dem ehemaligen Verwaltungsdirektor der kommunistischen Piscator-Bühne, das sogenannte Braunbuch, dem einige weitere folgten: Sammlungen von Missetaten der Nazis.

Das Gute, ja Beispielhafte an dem Unternehmen war, daß hier zum ersten Mal versucht wurde, die Naziverbrechen - natürlich die der ersten Zeit - systematisch gesammelt zu publizieren. Das schlimme war, daß die Braunbücher keineswegs verläßlich waren.

Man konnte das den Herausgebern nicht allzusehr anlasten. Sie hatten ja keine Möglichkeit, die Meldungen, die sie auf mehr oder weniger illegale Weise erhielten, auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen, etwa durch Rückfrage bei den Nazibehörden.

Wie dem auch sei: die nach Deutschland eingeschleusten Exemplare der Braunbücher ließen die Leute erschauern, teils durch ihren Inhalt, teils aber auch, weil es nahezu lebensgefährlich war, dergleichen im Dritten Reich zu lesen.
.

Der Verleger Emil Oprecht produzierte die verbrannten Bücher

Das galt in gewissem Sinne auch für die Produktionen des Züricher Buchhändlers und Verlegers Emil Oprecht, der bald nach Hitlers Machtergreifung begonnen hatte, im Reich verbrannte oder verbotene Bücher wieder herauszubringen und auch die neuen der in Deutschland verfemten Autoren.

Sein Europa-Verlag sollte in den nächsten Jahren der wichtigste Emigrationsverlag werden - übrigens nicht zuletzt dank der Mitwirkung seiner mutigen und zu allem entschlossenen Frau Emmie -, denn auch in der Schweiz wühlten die Nazis und protestierten in Bern gegen die Aktivitäten Oprechts.
.

Das ,Pariser Tageblatt' und „Das Neue Tagebuch"

Von den emigrierten Journalisten waren die wichtigsten: Georg Bernhard, bis vor kurzem Chefredakteur der „Vossischen Zeitung" in Berlin; er gründete zusammen mit Kurt Caro, ehemals Chef der „Berliner Volkszeitung", das „Pariser Tageblatt", das täglich vierseitig erschien.

Leopold Schwarzschild, bisher Herausgeber und Leitartikler der bemerkenswert klugen, politisch liberalen Wochenzeitschrift „Das Tagebuch", publizierte nun in Paris „Das Neue Tagebuch". Obwohl mehr als beschränkt in ihren Mitteln, brachten diese Blätter verläßlichere Informationen über das Dritte Reich als die großen Pariser Zeitungen.

Aber wer las sie schon? Ich behauptete zynisch, und hatte nicht so unrecht: „Die Redakteure des ,Pariser Tageblatts' lesen das ,Neue Tagebuch', und dessen Redakteure lesen das ,Pariser Tageblatt'." Vielleicht wurden diese beiden Publikationen auch am Quai d'Orsay überflogen oder in der Downing Street, aber Einfluß auf die öffentliche Meinung hatten sie - leider - nie und nirgends.
.

Zum Glück - mein völliger Mangel an Heimweh

Das war wohl einer der Gründe, warum ich gar nicht erst versuchte, dort unterzukommen, was mir wohl auch kaum gelungen wäre. Und obwohl ich nicht wußte, nicht wissen konnte, was aus mir werden würde - unglücklich war ich eigentlich in dieser Zeit nicht.

Das hatte viele Gründe. Der entscheidende war wohl mein völliger Mangel an Heimweh. O ja, ich sehnte mich wohl oft nach dem Berlin der zwanziger Jahre zurück- aber ich machte mir nicht vor, daß es noch existiere.

Ich war unsentimental genug, mich nicht in eine Stadt, in ein Land zurückzuwünschen, das es zumindest bis auf weiteres nicht mehr gab. Nach der Gesellschaft von SS- und SA-Männern gelüstete es mich nicht.
.

Ich fühlte, ich könne noch alles schaffen - in Paris.

Ein anderer Grund für meine eigentlich unbegründbar gute Laune war wohl meine Jugend. Ich fühlte, ich könne noch alles schaffen. Da gab es für mich keinerlei Zweifel, obwohl ich eigentlich viele hätte hegen sollen.

Und dann: Paris! Ich kannte es ja von vielen Reisen, aber erst jetzt lernte ich das Paris des Alltags kennen und das der kleinen Leute. Ich frühstückte wie sie an der Bar einer kleinen Kneipe - Kaffee und Brioches. Ich wanderte durch die Straßen und bemerkte vielleicht zum ersten Mal, wie herrlich Paris war.

Nicht das Paris der Museen, nicht das Paris der berühmten historischen Plätze, nicht das repräsentative Paris der weltbekannten Bauten, sondern das Paris der engen Gäßchen und der winzigen Geschäfte und der Bistros und der kleinen Dirnen ...

Die Hallen, in denen man spät nachts oder sehr früh am Morgen Zwiebelsuppe aß ... Die Cafes am linken Ufer ... Die ganz unansehnlichen Feinschmeckerlokale, in denen man nur Einheimische traf, ja, eigentlich nur Bewohner des betreffenden Quartiers ... Die Studiokinos, in denen man besondere Filme zu sehen bekam - sehr alte und ultramoderne -, die nie an die großen Boulevards gelangten.
.

Paris war eine gute Stadt - warm und herzlich .....

....., wenn man die kleinen Pariser kannte. Ich konnte mir kaum vorstellen, noch anderswo zu leben als hier. Von Hitler verbannt?

Ins Paradies verbannt! Es dauerte lange, bis ich wieder die Panik, die Angst, ja ich darf wohl sagen die Lebensangst, der ersten Pariser Hotelnacht nachfühlen konnte. Paris war herrlich und - nach wenigen Wochen schon - mir eine Art Zuhause geworden.
.

Der Sportjournalist Edgar Katz aus Essen

Das war nicht zuletzt Edgar zuzuschreiben. Edgar, mit dem Nachnamen Katz, stammte aus Essen, war wie ich Sportjournalist gewesen, und da er für eine staatliche Agentur - ich glaube, es war die Telegraphen-Union - arbeitete, war er sehr bald nach der Machtergreifung entlassen worden, fristlos natürlich, und hatte
sich nach Paris abgesetzt.

Er hatte wohl nie über anderes als Sport geschrieben, aber im Unterschied zu mir verstand er sehr viel davon. Und er konnte sehr leicht und mit einem gewissen Charme schreiben. Ich hatte ihn irgendwo kennengelernt. Während eines Sechstagerennens oder einer Tennisveranstaltung; aber er gehörte eben ins Rheinland und ich nach Berlin.

Nun waren wir beide in Paris. Wir wurden bald Freunde.

Wir hatten das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Das war wichtiger als das, worüber wir sprachen. Vor allem über Sport. Wenn wir das taten, konnte man glauben, das Schicksal der Welt hinge von dem Ausgang eines Matches oder der augenblicklichen Form eines Tennisstars ab.

Es ist mir noch erinnerlich, aber kaum nachfühlbar, daß wir stundenlang das, was wir gesehen hatten, analysierten: Wenn der Tennisspieler X in diesem Augenblick ans Netz gegangen wäre ... Wenn der Fußballspieler Y, anstatt mitzustürmen ...

Sonst hatten Edgar und ich wenig Gemeinsames - so schien es mir jedenfalls. Es dauerte Jahre, bis ich entdeckte, daß der kleine, etwas dickliche junge Mann mit der schweren Brille und dem schwarzen krausen Haar hochgebildet war, Shakespeare und Balzac immer wieder las und sich intensiv mit Schopenhauer beschäftigte.
.

Die Pariser Opernhäuser waren nicht berauschend

Mein Interesse am Theater teilte er nur mit Maßen, meine Begeisterung für Musik noch weniger. Kein Wunder bei dem damals deplorablen Standard der Pariser Opernhäuser. Gemeinsam hatten wir allerdings die Vorliebe, gut zu essen.

Edgar besaß die Fähigkeit, ungeheure Mengen zu vertilgen, was damals in Paris nicht allzu kostspielig war, da man etwa auch in den bescheidensten Restaurants Hors d'oeuvres ä discretion vorgesetzt bekam. Er kompensierte seine Freßsucht durch eine ebenso maßlose chronische Hypochondrie. Immer tat ihm etwas weh, immer war er eigentlich krank und hätte überhaupt nichts essen dürfen, bedurfte aber auch während dieser Krisen keinerlei Zuspruchs, es doch zu tun.

Wie oft saßen wir auf der Terrasse irgendeines Cafes, betrachteten die Passanten, diskutierten über dies und das; selten über Mädchen, seltener noch - dies war eigentlich merkwürdig - über Politik. Wir waren Hitler entkommen - so dachten wir jedenfalls. Sollten die in Deutschland doch sehen, wie sie mit ihm auskamen, oder ihn gefälligst abschaffen ...
.

Die Franzosen marschierten? Nein, sie schlenderten.

Einmal marschierten einige hundert französische Soldaten den Boulevard hinunter und an uns vorbei. Marschierten? Nein, sie schlenderten.

„Wie schön, daß sie nicht so stramm marschieren!" meinte ich. Wie ich mich entsinne, rauchte sogar der eine oder andere Soldat, wenn auch diskret, das heißt, er hielt die Zigarette durch die Hand fast verdeckt.

„Wir sind eben in einem zivilisierten Land", kommentierte Edgar. Er hatte zweifellos recht. Freilich, dieses Land sollte bitter dafür bezahlen, daß seine Soldaten so wenig Begeisterung beim Marschieren zeigten. Wir übrigens auch, Edgar und ich.
.

Meine sehr bescheiden beginnende Karriere

Edgar war indirekt schuld an meiner nun beginnenden, sehr bescheiden beginnenden Karriere. Da er früher als ich in Paris eingetroffen war, hatte er sich die Stellung eines Pariser Sportkorrespondenten für fast alle in Frage kommenden Zeitungen, die zwar nicht in Deutschland, aber in deutscher Sprache erschienen, gesichert.

Das war vor allem der in Zürich dreimal pro Woche erscheinende „Sport", dessen Redakteure, besonders der ungemein emsige Walther Jacob, gern den Emigranten etwas abnahmen. Mir blieb dort nur der Radsport. Das war - trotz Tour de France - zu wenig, um davon zu leben. Ich durfte auch noch ein bißchen für österreichische und holländische Blätter über Sport schreiben - aber was konnten die denn zahlen?
.

Ich traute mich zum „Paris-soir", einem Boulevardblatt

So nahm ich all meinen Mut zusammen und ging zum „Paris-soir". Das war ein Boulevardblatt, das seinem Namen zum Trotz schon im Laufe des Vormittags erschien, und zwar mit einer Troisième Edition - eine erste und zweite gab es wohl nie - und dann immer wieder den ganzen Tag hindurch, um schließlich mit einer Sixième und dann mit einer Dernière Edition zu schließen, die erst in den frühen Abendstunden herauskam.

„Paris-soir" war wie „Paris-midi" noch vor wenigen Jahren ein Blatt ohne Bedeutung gewesen und dann von einem Industriellen namens Jean Prouvost gekauft worden. Der hatte einem kleinen, schmalbrüstigen Jüngling - zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt, bis dahin Presseagent des Revuestars Mistinguett - den „Paris-midi" übergeben. Sein Name: Pierre Lazareff. Und im Handumdrehen war „Paris-midi" ein lesbares und bald auch sehr viel gelesenes Blatt geworden.

Was Pierre Lazareff dann mit dem „Paris-soir" anstellte, war schiere Zauberei und wurde Zeitungsgeschichte. In wenigen Jahren avancierte er nicht nur zum gelesensten Blatt Frankreichs, sondern des europäischen Kontinents.
.

Der „Paris-soir" war einfach schneller

Der Sport spielte schon damals für die Auflage des „Paris-midi" eine gewisse Rolle. „Paris-soir" sahnte in dieser Beziehung ab. Bisher waren - um nur ein Beispiel zu nennen - Ergebnisse einer Etappe der die ganze Nation erschütternden Tour de France erst in den Morgenblättern des folgenden Tages erschienen.

„Paris-soir" konnte sie mitsamt dem Rennbericht noch am Abend desselben Tages bringen. Die anderen Pariser Blätter ließen sich die Berichte - etwa einen Boxkampf in Marseille - mit Eilbriefen zusenden. „Paris-soir" erhielt sie telephonisch noch in der Nacht, und am Morgen waren sie auf der Straße, und am folgenden Nachmittag die Fußballberichte aus ganz Frankreich.
.

Meine Erfahrung aus Berlin mit ausländischen Sportjournalisten

Während meiner Berliner Sportjournalistenzeit war ich oft im Ausland gewesen, um über Sportereignisse zu schreiben, vor allem in London und öfter noch in Paris. Dort lernte ich die prominentesten ausländischen Sportjournalisten kennen.

Sie waren zum Teil recht seltsame Käuze. Während der Tour de France zum Beispiel überlegten gewisse französische Kollegen sich schon nach jedem Start, wo sie am Mittag die Fahrt, das heißt die Autofahrt hinter den Radfahrern her, unterbrechen sollten.

Sportliche Gründe - etwa eine lange Fahrt durch ebenes Gelände, wo vermutlich nichts von Belang sich ereignen würde und man mit gutem Gewissen Halt machen und etwas essen konnte? Nein, dergleichen spielte nicht mit.

Wichtig war nur: Wo aß man am besten? Alle Routiniers der Tour waren verfressen, wie mir schien, und alle hatten ihre Geheimtips, kleine Lokale in Seitenstraßen von Städten, in denen man die beste Gänseleberpastete bekam oder ein Ragout aus Hummern oder irgend etwas, das es sonst nirgends gab, zumindest nirgends so gut; gegen Mittag fand ein veritables Wettrennen der Presseautos statt, um vor den anderen an Ort und Stelle zu sein -die Geschlagenen brachen dann fast zusammen, wenn sie feststellen mußten, daß die drei oder vier Tische des betreffenden Geheim-Gourmet-Lokals schon besetzt waren. Sie mußten nun - o herbes Geschick! - „irgendwo" „irgendwas" zu Mittag essen.

Es gab noch mehr unvergeßliche Geschichten

Oder da war der italienische Sportjournalist, der - das war in Brüssel - einen veritablen Weinkrampf bekam, als ein italienischer Boxer in der ersten Runde durch k. o. verlor. Der Boxer heulte übrigens auch und, wie mir schien, mit mehr Grund.

„Il Duce wird mich aufhängen lassen", schluchzte er, was aber dann doch nicht geschah. Oder da waren die beiden Italiener, die bei einem mörderischen Straßenrennen Paris - Roubaix - Paris, das nur von wenigen Radfahrern, wie ich mich erinnere, ohne Unterbrechung in etwa sechsunddreißig Stunden bewältigt werden konnte, mich bestechen wollten, einen österreichischen Fahrer zu überreden, sich zurückfallen zu lassen und einen weit hinten liegenden italienischen Matador wieder ans Feld, das heißt an die Mehrheit der anderen Fahrer heranzubringen.
.

Oder da war, unvergeßlich, Gaston Benac, ......

........ ein großer, etwas zu dicker, gutaussehender und gutmütiger Mann mit einem mächtigen Schnurrbart, den er wie sein Haar noch lange schwarz färben sollte, Sportchef des aufkommenden „Paris-soir", der immer mit dabei war und der eigentlich gar nicht viel sehen konnte, weil er immer, aber auch immer schrieb; denn er bediente neben seiner eigenen Zeitung noch etwa zehn Provinzzeitungen. Damit verdiente man nicht wenig.
.

Als ich noch in Berlin war ... gab Ilse ein Essen für Benac

Mehr um Gaston Benac einen Gefallen zu tun, als des Geldes wegen - erheblich waren die Summen nicht, die er damals zahlen konnte -, telephonierte ich ihm von Berlin aus Sportberichte nach Paris durch. Und als Benac einmal mit seiner Frau nach Berlin kam, lud ich ihn zum Abendessen ein.

Ilse ließ Rebhühner servieren mit Sauerkraut, das mit Champagner zubereitet war und - damals großer Luxus - in dem Ananasstückchen schwammen. „So etwas bekommen Sie ja doch nicht in Paris!" meinte Ilse.

Als das Essen serviert wurde, lachte Madame Benac: „Ich habe dir ja gesagt: die Deutschen essen nur Sauerkraut!"

Benac, der sich mehr als Europäer denn als Franzose verstand, der stets bei allen Sportereignissen mit einem Zeiss-Feldstecher erschien und prinzipiell nur deutsche Photoapparate kaufte, geriet ganz außer sich.

„Deutsche essen nicht nur Sauerkraut!" donnerte er und entschuldigte seine Frau: „Sie kommt nie aus Paris heraus. Sie weiß gar nicht, wie es in der Welt zugeht!"
.

Als ich 1933 nach Paris kam, war Gaston Benac berühmt

Der von Benac geleitete Sportteil des „Paris-soir" wurde immer umfangreicher, immer wichtiger, und damit avancierte er selbst auch. Als ich 1933 nach Paris kam, war er wohl der prominenteste Sportjournalist Frankreichs geworden.

Ich hatte also - im Gegensatz zu den meisten Emigranten - eine richtige „Beziehung" in Paris. Benac zeigte sich ehrlich erfreut, als ich ihn nun in seiner Redaktion aufsuchte. Ich schlug ihm vor, für ihn zu arbeiten.

Ich konnte natürlich die deutschen Sportresultate oder überhaupt Neuigkeiten aus den deutschen Sportbezirken schneller besorgen als seine Redakteure, indem ich eben in Berlin, Köln oder Hamburg bei ehemaligen Kollegen anrief.

Das sah er ein. Er engagierte mich also vom Fleck weg. Ich mußte sehr früh in der Redaktion erscheinen, denn ich sollte und wollte auch für den „Paris-midi" tätig sein. Ich telephonierte also ein paarmal und schrieb dann meine Meldungen.

Übrigens mit der Hand, denn Schreibmaschinen gab es damals, immerhin 1933/34, in einer "so modernen" Redaktion wie der des „Paris-soir" nicht oder allenfalls nur für Sekretärinnen.
.

Mein Name war jetzt fast täglich in einer der großen französischen Zeitungen

Natürlich machte ich auch Interviews mit deutschen, österreichischen oder schweizerischen Tennisspielern, Leichtathleten, Boxern, wenn sie nach oder durch Paris kamen. Ich schrieb mir die Finger wund, aber es kam nicht viel dabei heraus - ich meine, was das Finanzielle anging. Auch davon konnte ich auf die Dauer nicht leben.

In den Augen der anderen Emigranten, soweit ich sie kannte oder sie mich kannten, war ich freilich eine Art Weltwunder geworden. Gestern noch einer von vielen, von viel zu vielen, war ich plötzlich eine sehr wichtige Persönlichkeit geworden.

Man bedenke: mein Name war fast täglich in einer großen französischen Zeitung zu finden! Ich war Angestellter in einem französischen Betrieb. Mir war gelungen, was fast keinem sonst gelingen konnte. Ich war also wer.

In Berlin: Redakteur eines relativ kleinen Blattes. In Paris: Redaktionsmitglied des mächtigen „Paris-soir". So sahen es die Emigranten jedenfalls. Ich war plötzlich viel prominenter als die Prominenten von gestern.
.

In Paris fand überhaupt eine Art Umwertung aller Werte statt

Leopold Schwarzschild, mit dem ich befreundet war, fragte mich etwa: „Was hält man im ,Paris-soir' von der letzten Hitler-Rede?" Oder Georg Bernhard sondierte: „Glauben die im ,Paris-soir', daß die Vereinigten Staaten . . ."

Ach, du lieber Gott! Als ob man mit mir darüber gesprochen oder mir auch nur eine Andeutung gemacht hätte! Gewiß, ich gehörte zum „Paris-soir". Aber ich war dort doch nur ein kleines Würstchen.

Nicht, wie gesagt, in den Augen meiner Mitemigranten. In diesen Jahren fand überhaupt eine Art Umwertung aller Werte statt.

Wir alle mußten vom Nullpunkt starten. Und den meisten fiel dieser Start sehr schwer. Ich muß nur an den erwähnten Walther Steinthal denken. Oder etwa an den bedeutenden Schriftsteller Joseph Roth, der in einem drittklassigen Pariser Hotel saß und Meisterwerke schrieb und viel zuviel trank, aber, wenn er nicht rechts und links gepumpt hätte, wohl bald verhungert wäre.

Vor ein, zwei Jahren noch hatte er mit seinen gut gehenden Büchern viel Geld verdient. Und jetzt? Und würde es je anders werden?
.

Für manche sollte es in der Tat Jahre und Jahre dauern

So ging es vielen. Es sollte in der Tat Jahre und Jahre dauern, bis diejenigen, die Anspruch darauf hatten, wieder langsam an die Oberfläche kamen, und diejenigen, die jetzt Zufallserfolge einheimsten, wieder auf den ihnen gebührenden Platz zurückfielen. Nun, sagen wir, es kam schließlich wieder eine Art Ordnung in die Dinge.

Manche haben das freilich nicht erlebt. Joseph Roth etwa. Oder Walter Hasenclever, der sich - später - auf der Flucht aus Frankreich nach Spanien das Leben nahm. Oder Kurt Tucholsky, der sich aus Verzweiflung umbrachte, in Schweden, glaube ich; Verzweiflung nicht über sein eigenes Schicksal, sondern über den Zustand der Welt.

Oder der große Anwalt Max Aisberg, der es nicht verwinden konnte, daß man ihn vor deutschen Gerichten nicht mehr plädieren ließ - und das, obwohl er von der Sorbonne ein Lehrstuhlangebot erhalten hatte. Er erschoß sich im Schweizer Engadin.

Von diesem Selbstmord und vielen anderen erfuhren wir sehr schnell, obwohl sich diese Ereignisse anderswo abspielten. Wenn die Emigration auch keine Gemeinschaft war, wie Goebbels immer wieder behauptete - das konnte sie auch gar nicht sein, dazu waren wir politisch, geistig, ökonomisch und geographisch viel zu weit voneinander entfernt -, so ging es uns doch an, wie es den anderen erging.
.

Rolf Nürnberg wollte auch möglichst alles über mich erfahren

Was zu Hause, dem ehemaligen Zuhause, sich abspielte, besser: wie es den dort Gebliebenen erging, interessierte uns kaum noch und sicher nicht mehr, als diese sich für uns interessierten. Mit meinen Eltern, vor allem mit meinem Vater, hielt ich Kontakt. Er war immer noch überzeugt davon, das „alles" werde bald anders werden.

Mit meiner Frau? Sie war natürlich interessiert, wie es mir erging. Und Rolf Nürnberg wollte auch möglichst alles über mich erfahren. So kam es, daß die beiden, die sich nicht hatten leiden können, immer öfter zusammenkamen, um einander die Briefe zu zeigen, die ich schrieb.
.

Und eines Tages schlug Ilse mir die Scheidung vor.

Wir trafen uns in Zürich, um alles zu besprechen. Sie meinte, die Tatsache, daß ich in Paris lebe, bedeute für sie und natürlich auch für unseren nun bald dreijährigen Sohn Michael eine gewisse Gefahr. Das war sicher übertrieben, aber sie glaubte es eben.

Also Scheidung. Ich war, da von Berlin abwesend und nicht Einspruch erhebend, der Schuldige. Wir blieben trotzdem oder vielleicht gerade darum Freunde. Rolfs Name wurde nicht einmal erwähnt.
.

Aus Tel Aviv hörte ich von Ewald.

Er war todunglücklich dort. Er hatte zwar in Rekordschnelligkeit Hebräisch gelernt, aber er konnte sich nicht eingewöhnen. Durch Zufall kam ich in Paris in Verbindung mit einem Russen, der für die Sowjetunion junge Ärzte suchte.

Auch Emigranten - warum nicht? Ich stellte die Verbindung zwischen ihm und Ewald her. Es klappte. Ein paar Monate später war Ewald in Moskau. Er dankte mir. Später habe ich mich oft gefragt, ob ich ihm mit dieser Empfehlung - um mehr handelte es sich ja nicht - einen Dienst erwiesen hatte.

Ob er nicht besser in Palästina geblieben wäre? Darüber wird noch zu sprechen sein.

Und ich selbst? Ich lebte gern in Paris.

Aber - wie würde es weitergehen? Ich hatte eine kleine Anstellung - doch wie konnte ich sie ausbauen? Wie ich mich auch bewegte, wenn ich nur den geringsten Schritt vorwärts tat, wenn ich mehr versuchte, als kleine Nachrichten zu vermitteln, mußte ich meinen französischen Kollegen ins Gehege kommen.

Sie waren zwar sehr nett zu mir. Aber wenn ich mich zum Konkurrenten auswuchs? Übrigens, so gut französisch schreiben wie sie konnte ich natürlich nicht.
.

Eine paradoxe Situation. Die Emigranten beneideten mich.

Die Emigranten beneideten mich, weil ich eine Stellung hatte. Und gerade weil ich sie hatte, wußte ich viel besser als sie, die eine ersehnten, daß Paris auf Zeit gesehen keine Aussichten bot. Eine Station am Weg, ja. Aber nicht mehr.
Es mußte etwas geschehen.
.

- Werbung Dezent -
Zur Startseite - © 2006 / 2024 - Deutsches Fernsehmuseum Filzbaden - Copyright by Dipl. Ing. Gert Redlich - DSGVO - Privatsphäre - Redaktions-Telefon - zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - kostenlos natürlich.