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Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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(8) Amerika

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1924 - In New York war alles größer, schneller, besser.

Das haben damals wohl alle erzählt, die zu jener Zeit, also noch während der zwanziger Jahre, von Europa nach Amerika fuhren. Und es erging mir nicht anders als ihnen.

Da waren vor allem die Wolkenkratzer. In Deutschland und in den europäischen Städten, die ich kannte, waren die Häuser drei, allenfalls vier Stockwerke hoch. Ich hatte wohl gewußt, daß es in den Staaten höhere Häuser gab, hatte auch gelegentlich Photos von Hochhäusern gesehen.

Aber daß sie so hoch sein konnten - zwanzig, vierzig, ja sechzig Stockwerke - das konnte ich nun zwar mit eigenen Augen sehen, aber lange nicht fassen. Und immer wieder stand ich auf der Straße und zählte die unzähligen Stockwerke.

Ich tat das mindestens zehnmal am Tag. Ich konnte an keinem Wolkenkratzer vorübergehen, ohne mit dem Zählen zu beginnen. Das geschah noch ein halbes Jahr nach meiner Ankunft.
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  • Anmerkung : Hier vermisse ich den Übergang bzw. die Reise nach Amerika. Curt Riess läßt uns im Unklaren darüber, wann er wie in die USA gekommen war. Das ist schade.

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Und erst das Tempo der Veränderungen - faszinierend

Ebenso faszinierend war wohl, wie und in welchem Tempo sich New York veränderte. Irgendwo standen eben noch zwei oder drei ältere, aber keinesfalls baufällige Häuser mit mehreren Stockwerken - ein paar Wochen später waren sie verschwunden, und wieder ein paar Wochen danach stand dort ein Gerüst, das in den Himmel ragte: ein Wolkenkratzer sollte gebaut werden, nein, er wurde schon gebaut.

Ein Heer von Arbeitern war damit beschäftigt. Drei Dutzend bauten an der Unterkellerung, andere am 7. Stockwerk, wieder andere am 23. oder 44. Es war ein seltsames Schauspiel, das sich da dem Auge bot. Und immer standen Hunderte von Zuschauern herum, die sich daran nicht sattsehen konnten.

Ich habe nie und nirgends wieder erlebt, daß der Bau eines Hauses zum Schauspiel für Zuschauer wurde. Und sie schienen alle Zeit der Welt zu haben.
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Das amerikanische Tempo?

Das gab es auch, aber die Menschen fanden eben doch noch Zeit, wenn etwas Interessantes zu bestaunen oder zu besichtigen war. Oder gar ein Unglücksfall!

In dem berühmten amerikanischen Tempo verwandelte sich auch die sagenhafte Fifth Avenue. Sie war, als ich 1924 ankam, vom Washington Square, dort nahm sie ihren Ausgang, bis zur 70. oder 80. Straße eine Avenue eleganter Privathäuser, übrigens damals noch die einzige Avenue ohne Straßenbahnverkehr.

Hier wohnten die Astors und die Goulds und die Vanderbilts. Und dann wichen immer häufiger und immer schneller die Privathäuser Geschäftshäusern, und zwar vom Süden nach Norden hin.

Ich erinnere mich noch an den Tag, da bekanntwurde, daß das Kaufhaus Saks - übrigens auch heute noch (im Jahr 1977) an der 34. Straße und der Seventh Avenue gelegen - an der Fifth Avenue eine Filiale bauen wollte.

Gewiß, Saks gehörte zu den feineren Warenhäusern - aber ein Warenhaus welcher Kategorie auch immer an der Fifth Avenue, dort "ergingen" sich Millionäre - undenkbar! Doch bald darauf wurde Saks in der Fifth Avenue eröffnet, und schon in den dreißiger Jahren gab es Hunderte von Geschäften und sicher ein halbes Dutzend Warenhäuser an der einst so vornehmen, ja fast geheiligten Fifth Avenue.

Für ein Greenhorn aus Europa war das imponierend

Dies alles war damals außerordentlich imponierend für ein Greenhorn aus Europa, heute kaum mehr nachfühlbar; denn auch in Europa gibt es ja jetzt (also 1977) überall Wolkenkratzer, und zumindest seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird auch hier schnell gebaut, und ganze Stadtteile verwandeln sich im Nu. Aber in den zwanziger Jahren ...
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Amerika 1924 - das war für Europäer die "Heile Welt"

Trotzdem: dies war nicht das, was mir an New York und an Amerika am meisten imponierte. Das imponierendste war vielmehr, daß alles so war, wie es sein sollte - zumindest kam es mir so vor. Eine heile Welt, wie man diesen Zustand später zu nennen pflegte.

Ich war nach Amerika gekommen aus einem verzweifelten, hungernden, an der Inflation zugrunde gehenden Deutschland und lernte eine Welt kennen, in der es alles im Überfluß gab.

Ich war abgefahren mit dem festen Entschluß, Kaufmann zu werden und Geld zu verdienen, denn nur so konnte man dem Elend entgehen, dem, zum Beispiel, Schriftsteller oder Universitätsprofessoren oder Schauspieler ausgeliefert waren - und hatte nicht die geringste Mühe, kaufmännischer Angestellter zu werden.
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Fünfzehn Dollar pro Woche in einer Seidengroßhandlung

Ich erhielt durch eine entfernte Verwandte meiner Mutter eine Stellung in einer Seidengroßhandlung. Fünfzehn Dollar pro Woche für den Anfang, achtzehn Dollar nach zwei Monaten. Meine Arbeit bestand darin, das Lager in Ordnung zu halten, und war ungeheuer langweilig. Aber immerhin konnte ich von meinem Gehalt leben.
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Überhaupt kein Vergleich mehr mit Deutschland

Wer konnte das in dem ruinierten Deutschland? Ich wußte, was die Angestellten meines Vaters verdienten, und sie verdienten im Rahmen des Möglichen gar nicht so schlecht. Und trotzdem hätten die jungen weiblichen Büroangestellten nicht von dem existieren können, was man ihnen ausbezahlte; sie lebten davon, daß sie bei ihren Eltern wohnten und von ihnen verköstigt wurden, wofür sie freilich einen Teil ihres Gehalts abgeben mußten.

Es gab kaum einen männlichen Angestellter, dessen Frau nicht mitarbeitete. Und kaum einer der Angestellten in der Firma meines Vaters - genauso wie in anderen Firmen - hätte sich nebenher viel leisten können, sei es auch nur, gelegentlich ins Theater oder ins Kino oder auch mal in die Oper zu gehen.

Es gab in Deutschland keine Angestellten, geschweige denn Arbeiter, die ihr eigenes Auto besessen hätten; in den Vereinigten Staaten hatten unzählige Arbeiter ihre Autos.

Einer der stärksten Eindrücke, die das Land auf mich machte: die überdimensionalen Parkplätze vor den Fabriken außerhalb New Yorks, dicht besät mit Autos, mit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Autos.

Ich weiß, das ist alles heute (1977) in Europa auch so. Aber 1923 oder 1924 standen vor einer Fabrik allenfalls zwei oder drei Autos, die den Besitzern oder vielleicht dem Prokuristen gehörten.
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Jeder, der arbeiten wollte, konnte arbeiten .......

Ja, das außerordentliche an Amerika war: Jeder, der arbeiten wollte, konnte arbeiten, und jeder der arbeitete, konnte sich davon ernähren.
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Nun doch ein Blick auf die Überfahrt nach USA

Die Überfahrt war stürmisch gewesen. Die Stürme hörten gar nicht auf, sie waren so schlimm, daß ein Passagier - man bedenke! - über Bord gespült wurde; was allerdings seine Schuld war, denn er hatte sich auf einem Deck ergangen, das offiziell gesperrt war.

Die Geschichte sollte geheimgehalten werden, aber sie sickerte doch schnell durch, weil das Schiff eine halbe Stunde lang stoppte oder im Kreis um den vermutlichen Unglücksort fuhr, aber auch weil an diesem Abend nicht getanzt werden durfte.

Ich überstand den Sturm ohne Schwierigkeit - ich wurde auch später nie seekrank -, aber er machte alles ein bißchen schwierig: das Essen, das Lesen, das Ankleiden, sogar den Schlaf, denn man kullerte immer wieder aus dem Bett.

Außerdem war es langweilig, sich in den Speisesälen und Gesellschaftsräumen aufzuhalten, die zu drei Viertel leer waren, weil die übergroße Mehrheit der Passagiere mehr tot als lebendig in ihren Kabinen lag.

Es stand schlecht um meine Englischkenntnisse

Das schlimmste: Ich entdeckte, daß ich trotz der Miß in Würzburg, trotz vieler Jahre Englischunterrichts und meiner Überlegenheit über den Englischlehrer in Berlin diese Sprache weder richtig sprechen noch verstehen konnte, wenn es darauf ankam.

Ich war nach der ersten Unterhaltung mit meinem Steward respektive Kellner völlig fassungslos. Wie würde das drüben sein?

Auf dem Schiff hatten die Leute ja Zeit für mich oder mußten sich die Zeit nehmen. Aber in der großen Stadt? Um es gleich zu sagen: Es dauerte nur ein paar Tage, und ich konnte mich verständlich machen, und nur ein paar Wochen, und ich konnte verstehen, was man mir sagte.

Das große Problem blieb noch etwa vier Wochen lang das Telefon. Wenn man mich anrief, verstand ich überhaupt nichts. Aber auch hier wurde es schließlich anders. Nicht langsam, sondern ganz plötzlich. Gestern noch verstand ich kein Wort am Telefon, heute verstand ich jedes.

Ein Tip von Freunden Lesen Sie Zeitung und gehen Sie ins Kino

Man riet mir, um die Sprache schneller zu erlernen, viel Zeitungen zu lesen und oft ins Kino zu gehen, das ja noch stumm war. Ich konnte also die Darsteller nicht hören oder gar verstehen - das konnte niemand -, aber ich erfuhr durch die Zwischentexte, um was es ging.

Eines half mir entscheidend: die amerikanische Mentalität. In den USA oder in New York hielt es niemand für ungewöhnlich oder gar für tadelnswert, daß ein anderer mit starkem Akzent und grammatikalisch nicht einwandfrei sprach.

Amerika war das tolerante Land der Einwanderer

Hier hatte fast jeder einmal (klein) angefangen, will sagen der Vater oder der Großvater oder der Urgroßvater. Das Wissen darum machte die Menschen tolerant. Sie versuchten - mit Maßen natürlich - einander behilflich zu sein.

Es mag erstaunlich klingen, aber es war doch so, wenigstens damals so: Verglichen mit den Amerikanern, waren die Europäer viel härter, viel rücksichtsloser, bereit, um des Überlebens willen einander die Kehle durchzuschneiden.

Ich ging übrigens nicht nur ins Kino, um Englisch zu lernen, sondern weil es mir, wie in Berlin, viel Spaß machte. Es gab in New York Kinopaläste von geradezu unheimlicher Größe.

Das "Capitol", damals das bedeutendste Kino am Broadway

Das Capitol faßte wohl an die viertausend Zuschauer. Die meisten Filme - natürlich alle aus Hollywood stammend, Importe gab es noch kaum, obwohl sie ja durch Auswechseln der Zwischentexte hätten verständlich gemacht werden können - lagen weit über dem Durchschnitt der europäischen Filme, dazu gab es noch eine Bühnenschau von überdimensionalen Ausmaßen, kurz, man war gut bedient.
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In USA wurden die Filmrollen bereits "überblendet"

Was mich besonders erfreute, war, daß jeder Film durchgespielt wurde, es gab nicht mehr, wie noch in Europa, eine Einteilung in sogenannte Akte, die jeweils mit den Worten begannen: „1. Akt" . . . „2. Akt" . . . etc. und mit „Ende des 4. Aktes" etc. endeten.

Das hatte natürlich damit zu tun, daß selbst die großen europäischen Kinos nur über einen Vorführungsapparat verfügten, der eben nur eine Filmrolle abspulen konnte, die amerikanischen Kinos aber je zwei Apparate besaßen, so daß, ohne daß die Spule ausgewechselt werden mußte, die Vorführung gewissermaßen nahtlos weitergehen konnte.
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Die Filme wurden ununterbrochen rund um die Uhr "gedudelt"

Was mich ärgerte, war, daß von zwölf bis vierundzwanzig Uhr und manchmal noch länger unterbrechungslos durchgespielt wurde, so daß man nie genau wußte, wann der Hauptfilm anfangen würde.

Die Dame an der Kasse wußte es auch nicht, und so platzte man fast unweigerlich mitten hinein. Das verminderte das Vergnügen und, natürlich, vor allem die Spannung.

Ich erinnere mich noch, daß Ernst Lubitsch, der oft aus Hollywood nach New York kam, klagte: „Da zerbricht man sich den Kopf, wie man einen Film besonders effektvoll beginnen und ihn mit einem guten Gag abschließen könnte - aber wer sieht schon einen Film von Anfang bis zum Ende. Die meisten kommen in der Mitte und gehen auch wieder in der Mitte. Es ist zum Verrücktwerden!"

Die MET, die berühmte Metropolitan Oper

Ein großes Erlebnis für mich war natürlich die Met, das sagenhafte Opernhaus, in welchem die bedeutendsten Sänger der Welt auftraten - Caruso war allerdings schon gestorben. Meines Wissens war die Met das erste Haus in der Welt, in dem die Opern im Urtext gebracht wurden, selbst russische und tschechische.

Da es aber keine amerikanischen oder englischen Opern gab, jedenfalls keine, die der Aufführung als würdig erachtet wurden, sang man ironischerweise in der Met nie englisch. Es gab drei Ensembles, ein italienisches, ein deutsches und ein französisches. Es gab drei Kapellmeister.

Undenkbar, daß ein Deutscher eine italienische Oper dirigierte oder umgekehrt. Ich glaube, da hat nur Toscanini eine Ausnahme gemacht, der freilich, als ich das erste Mal nach drüben kam, längst nicht mehr an der Met seines Amtes waltete, wohl aber die Philharmoniker leitete. Er war - das war wohl 1911 - für den todkranken Gustav Mahler eingesprungen und hatte den „Tristan" dirigiert.
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Völlig neu : die Undiszipliniertheit des Publikums

Zu meiner Zeit machte man nur noch gelegentlich mit großen Stars eine Ausnahme. So durfte, was sage ich, mußte die Jeritza die „Tosca" singen, so sang Elisabeth Rethberg die „Butterfly". Viele solcher „Gastspiele" in fremden Ensembles, wenngleich im selben Haus, gab es nicht.

Was mich an der Met so störte, daß ich vor jugendlicher Entrüstung fast barst, war die Undiszipliniertheit des Publikums.

Nicht nur, daß es ging und kam, wann immer es wollte, es klatschte auch in die schönsten Stellen hinein, wenn es ihm paßte. Kaum war eine Arie zu Ende, kaum begann sich der Vorhang zu senken, etwa am Ende des zweiten Aktes der „Meistersinger" während einer besonders leisen und zarten Stelle, da brach der Beifallssturm los.

Ich habe gewisse Nachspiele von Arien und Duetten in der Met nie gehört. Ich sah nur, daß der Dirigent noch die Arme bewegte.

Ich glaube, in Berlin wären solche Störenfriede - es waren wohl hauptsächlich musikbegeisterte Italiener, die ja überhaupt den größten Teil des Met-Publikums ausmachten - gelyncht worden.
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Oft wurden Teile der Oper einfach "gestrichen" / gekürzt ...

Fast noch schlimmer, wenn etwas schlimmer sein konnte, waren die Striche. Die Vorstellungen in der Met begannen damals nie vor 20.30 Uhr. Und mußten um Mitternacht zu Ende sein. Da wurde auch bei Wagner oder dem „Rosenkavalier" keine Ausnahme gemacht.

Ich hatte bis dahin geglaubt, daß ich meine geliebten Opern nicht ertragen könnte, falls auch nur ein Takt fehlte. Jetzt erlebte ich, zum Beispiel, die „Meistersinger" mit einem ersten Akt, in dem weder David noch die Lehrbuben sehr viel zu singen hatten, und mit einem zweiten Akt, in dem Hans Sachsens Lied an Eva auf eine Strophe gekürzt war, mit einer Schusterstube, in der Stolzing sein Preislied ebenfalls nur einstrophig ausprobieren durfte.

Ich dachte, die Welt würde untergehen. - Aber sie ging nicht unter.
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Völlig neue "Sitten" in der MET, es wurde fast nie geprobt

Schlimm war auch, daß die Sänger, die zusammen auftraten, sehr oft einander nicht einmal kannten. Sie waren erst wenige Stunden zuvor aus Europa, aus Südamerika, aus Chicago oder Montreal angereist.

Von Proben oder auch nur Verständigungsproben konnte da keine Rede sein. So kam es immer wieder vor, daß ein Neuankömmling, der vom Ensemble mit Blick nach rechts erwartet wurde, von links auftrat oder überhaupt nicht oder viel zu spät kam.

Auch daß bei Ensemblesätzen plötzlich nicht mehr alles oder alle zusammen waren, daß es also zu dem kam, was man in Berlin, in München oder Dresden einen Schmiß genannt hätte, war offenbar gang und gäbe, so daß niemand aus der Fassung geriet.
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Und trotzdem! Und trotzdem! Die Met blieb für mich die Met.

Dieses Riesenauditorium in rotem Plüsch und Gold, nicht nur imposant, sondern wirklich schön, wirkte immer festlich. Das hatte mit der Geschichte der Met zu tun.

Hier waren die berühmtesten Sänger ihrer Zeit aufgetreten, und viele traten immer noch auf. Hier saßen in ihren Logen - es waren wirklich die ihren, sie kauften sie zu horrenden Preisen für je eine Saison - die Rockefellers, die Vanderbilts, die Morgans, die Astors, kurz, hier war mehr Geld und Macht versammelt als irgendwo sonst auf der Welt, mit der möglichen Ausnahme der Wallstreet, die aber schließlich nichts anderes war als eine Schlucht, von Wolkenkratzern umrandet, mit Tausenden von anonymen Büros, in denen sich die Geschichte von ganzen Völkern, wenn nicht Erdteilen entschied, ohne daß die Betroffenen die blasseste Idee hatten, wo die Wallstreet lag und wer dort wen „regierte".
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Die Met war eben ein Show-place ........

....., und die Millionärinnen trugen weltberühmte Colliers und Ringe und waren oft genug von Leibwächtern flankiert - die Juwelen, nicht die Damen. Dies alles zusammen, die Internationalität, die großen Stars, die Gesellschaft, das also machte die Met zum prominentesten Opernhaus der Welt, wenn auch keineswegs zum besten.

Aber man spürte: hier mußte man gewesen sein, hierher mußte man kommen - wie man das von New York überhaupt sagen konnte.
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Mein (neuer oder jeweiliger) Beruf langweilte mich tödlich.

Ich wechselte die Stellungen - das konnte man, indem man am Samstag erklärte, man würde am Montag nicht wiederkommen - und fand die neue Stellung genauso langweilig. Ich zählte die Stunden bis zum Feierabend, schließlich sogar die Minuten.

Am Tage vegetierte ich, nur am Abend lebte ich auf: die Met und Kino, seltener Theater, denn das war teuer, Boxen, das mich faszinierte, und Sechstagerennen, die für mich eine erstaunliche Anziehungskraft gewannen.

Wie viele Nächte habe ich mir nicht im Madison Square Garden, im alten, im ursprünglichen am Madison Square, um die Ohren geschlagen.

Und sonst ? - Was war noch .....

Sonst? Es herrschte die Prohibition, aber das war für mich ohne Bedeutung. Ich konnte gut ohne Wein und Bier auskommen, und Whisky kannte ich fast nur vom Hörensagen. Was mir gelegentlich Bekannte als Gin anboten, den sie in der eigenen Badewanne, ich weiß nicht wie, zusammengebraut hatten, bereitete mir eher Kopfschmerzen.

Und erst das mit den Mädchen und den Frauen

Schlimmer war das mit den Mädchen und Frauen. Nämlich daß eigentlich gar nichts war. Amerika hatte den außerehelichen oder vorehelichen Beischlaf noch nicht entdeckt.

Natürlich gab es reiche Männer, verheiratet oder unverheiratet, die Verhältnisse hatten oder Frauen aushielten. Zu dieser Kategorie (der Reichen) gehörte ich - leider - nicht. Ich konnte mich auch nicht den Schauspielern, Sängern oder Kabarettisten zugehörig fühlen, die wohl in puncto Sexualität in den Augen des Bürgertums und in der Öffentlichkeit überhaupt ein skandalöses Leben führten.

Ich hätte, das gebe ich zu, sehr gern da mitgemacht. Zehn Jahre später wäre es auch gar nicht schwierig gewesen, und was meine Wenigkeit betraf, war es dann die einfachste Sache der Welt.

Die USA, noch eine Zeit lang eine puritanische Welt .....

Nicht aber zu Beginn der zwanziger Jahre. Da konnte ein junger Mann wie ich allenfalls ein hübsches Mädchen küssen. Und die amerikanischen jungen Mädchen waren verdammt hübsch, sie hatten in der Mehrzahl unvergleichliche Beine, und viele sahen aus, als wären sie gerade aus einem Hollywoodfilm geschnitten worden. Aber mehr als ein bißchen Küssen - nein, das war nicht drin.

Man konnte knutschen - Petting genannt. Man konnte auch eventuell - das war schon gewagt - die Brust eines Mädchens oder einer Frau streicheln, freilich meist nur durch den Kleiderstoff hindurch - aber weiter gehen, will sagen weiter nach unten gehen oder gar ins Bett - undenkbar!

Das hätte ja bedeutet, daß das Mädchen nicht mehr als Jungfrau hätte in die Ehe wandern können, also vermutlich überhaupt nicht zu verheiraten gewesen wäre. Hinzu kam die durch nichts zu beruhigende Furcht vor dem Kind, auch bei den wenigen verheirateten Frauen, mit denen ich zusammenkam, so daß man schließlich mehr Angst hatte als Vergnügen.
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Manchmal dachte ich mit Wehmut an die Berliner Nächte.

Wenn ich meinen amerikanischen Freunden davon erzählte, starrten sie mich teils neidisch, teils entgeistert an und konnten sich dergleichen gar nicht vorstellen. Wie gesagt, sie sollten es bald lernen. Und wie sie es lernen sollten! Männer und Frauen!

Ich lernte vieles in Amerika - auch über Deutschland.

Vor allem, daß die Welt nicht nur aus Deutschland bestand. „Über alles in der Welt" - nein, auf diesen Gedanken konnte man in New York nicht kommen, geschweige denn, es aussprechen. Die Leute hätten nur darüber gelacht.

Deutschland war ein Land unter vielen anderen und - der Krieg lag ja noch nicht so weit zurück - durchaus nicht besonders beliebt.

Ein Beispiel für viele: Der Berliner Ernst Lubitsch firmierte, übrigens ohne sein Zutun, lange Zeit als österreichischer Filmregisseur - eigentlich unlogisch, weil ja auch Österreich im Krieg als „Feind" gegolten hatte.

Die Deutschen wurden mindestens genauso freimütig und kritisch beurteilt wie andere auch.
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Als der erste deutsche Präsident Friedrich Ebert starb

So erinnere ich mich noch des allgemeinen Befremdens nach dem Tode des ersten deutschen Präsidenten Friedrich Ebert, als ein Nachfolger gesucht und ausgerechnet in der Person des Generals Hindenburg gefunden wurde. Er konnte als ehemaliger Generalstabschef im Krieg kaum auf Sympathien im Westen rechnen.

Zudem verstand er vielleicht etwas vom Militärischen - ich sage, vielleicht, denn immerhin hatte er den Krieg verloren, und daß er nicht zu gewinnen war, erst knapp vier Jahre später entdeckt, deutlich später als mein Vater, der nicht General war.

Und von Politik verstand er nicht das geringste. Wie und wann hätte er Politik auch erlernen sollen; und besonders gescheit war er nicht, und ein besonders lauterer Charakter war er ja auch nicht, wie wir im Laufe eines Bestechungsskandals Anfang der dreißiger Jahre zu unserem Schmerz erfahren sollten.
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Die „New York Times", eine großartige Zeitung ...

Wer dieser Hindenburg war, der noch heute, bald ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod, in Deutschland sowohl was seine Intelligenz als auch seinen Charakter angeht, stark überschätzt wird, erfuhr ich damals wie so vieles andere aus der „New York Times", die ich bereits für eine großartige Zeitung hielt und die ich mindestens seit Mitte der dreißiger Jahre für die beste Zeitung der Welt halte. Und da habe ich mich wohl nicht geirrt.
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Aber sonst habe ich mich sehr oft geirrt - leider sehr oft

Sonst habe ich mich sehr oft geirrt, man könnte fast sagen, daß mein Leben eine Kette von Irrungen war. Zum Beispiel irrte ich mich in dem Glauben, der überhaupt nur in einer Zeit wie der damaligen entstehen konnte, man müsse Kaufmann werden, um sein Brot verdienen zu können.

Das mochte für viele stimmen, für mich jedenfalls nicht. Die Langeweile, die mir meine kaufmännische Tätigkeit in New York bereitete, wurde zu einer Art Alpdruck, und meine Leistungen waren entsprechend.

Manchmal mußte ich gar nicht am Samstag mitteilen, daß ich am Montag nicht wiederkommen würde - es waren meine Chefs oder Abteilungsleiter, die mir das abnahmen. Und ich war darüber keineswegs unglücklich.

Ich erinnere mich noch eines besonders grotesken Hinauswurfs. Ich hatte in einem großen Warenhaus den für Kunden reservierten und für Angestellte „verbotenen" Fahrstuhl benutzt - man bedenke!
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Und dann hatte ich mich angesteckt - Typhusverdacht

Und geradezu erleichtert war ich, als ich mich eines Abends so erbärmlich fühlte, daß ich hoffen durfte, zu krank zu werden, um am nächsten Morgen ins Geschäft fahren zu können. Am nächsten Morgen war ich zu krank, um mich über irgend etwas freuen zu können.

Am Abend holte meine besorgte Zimmerwirtin einen Arzt aus der Nachbarschaft. Diagnose: Typhus oder zumindest Typhusverdacht ...

Ich war schon zu schwach, um nur das Nötigste in einen Koffer zu packen. Im Taxi glaubte ich vor lauter Schwäche - Schwäche, nicht Schmerzen - sterben zu müssen. Mir war schon alles egal. Die paar Minuten, die ich auf dem Korridor des Krankenhauses warten mußte, bis meine Personalien festgestellt waren, schienen mir Ewigkeiten.

Nochmalige und endgültige Diagnose: Typhus, der damals übrigens in New York grassierte. Quarantäne, natürlich. Die nächsten Wochen vergingen in einer Art Halbschlaf, und das einzige, woran ich mich später erinnerte, war, daß ich unter unerträglichen Kopfschmerzen litt.
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Zum Glück - mein Vater nach New York geeilt

Als ich - ich glaube, nach etwa sechs Wochen - aus der Quarantäne entlassen wurde, war ich so elend, daß ich ohne fremde Hilfe keinen Schritt tun konnte. Diese fremde Hilfe war vor allem mein Vater, der, von Bekannten über meine Erkrankung unterrichtet, nach New York geeilt war. Natürlich wollte er mich nicht in einem Land lassen, wo „so was" geschehen konnte.

Es ging zurück nach Deutschland

Und so dampften wir bald - so drei oder vier Wochen später -wieder nach Europa ab. Ich trat diese Rückfahrt nicht ohne Wehmut an. Gewiß, meine Aktivitäten in New York hatten mir keine Freude bereitet. Aber die Stadt New York - das war etwas anderes. Die war einmalig! Ich kam mir vor wie einer, der aus dem Mittelpunkt der Welt in die tiefste Provinz verstoßen wurde. Und so war es auch in gewissem Sinn.

Freilich, auf dem Schiff ging es hoch her.

Ich tanzte und flirtete. Ich verbrachte jede Nacht in einem anderen Bett, nur nicht in meinem. Ich teilte die Kabine mit meinem Vater, der sich nicht genug darüber wundern konnte, wo ich denn so lange geblieben sei. Natürlich konnte er es sich nicht vorstellen, daß ich mit diesen Frauen, die doch alle erster Klasse fuhren und zur besseren Gesellschaft gehörten ... daß die so etwas überhaupt ...!

Ich mußte stets am nächsten Morgen, in meinen Liegestuhl gebettet, meinem Vater eine Art Sexualunterricht, europäische Frauen und das zwanzigste Jahrhundert betreffend, erteilen. Zu seinen Zeiten habe es „das" noch nicht gegeben, behauptete er.

Man tat „das" - aber sicher nicht mit Mädchen oder Damen der besseren Gesellschaft. Außerdem war er besorgt. Ich war doch eben erst sehr krank gewesen.

Aber ich fühlte mich gar nicht mehr schwach, und wenn, dann sicher nicht als Folge des Typhus.

Freilich: ich war nicht nur krank gewesen, ich war es noch immer. Ernsthaft krank. Der Lebenshunger, den ich während der Überfahrt kaum befriedigen konnte, auch während der nächsten Jahre nicht, war nur ein Symptom der recht gefährlichen Krankheit.

Das wußte ich damals noch nicht. Ich fühlte mich ungemein wohl. Aber nur noch ein Jahr oder zwei ...
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