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Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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(22) Krieg aus nächster Nähe

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Es passierte etwas "völlig Abnormales" - Coggins brüllte ...

Ich betrat wie immer, wenn ich nach Washington kam, zuerst mein Büro, bevor ich bei Coggins antrat. Das heißt, diesmal betrat ich es nicht, ich versuchte nur, es zu betreten. Es war abgeschlossen. Ich wollte den Matrosen fragen, der das Büro bewachte, aber da war kein Matrose. Ich stand einen Augenblick ratlos vor der Tür, dann ging ich hinüber in das Büro von Coggins. Ich mußte im Vorzimmer einen Augenblick warten, auch das war ungewöhnlich.

Dann sagte die uniformierte Sekretärin: „Lieutenant-Commander Coggins läßt bitten."

Ich ging zu ihm hinein. Er sagte nicht „Guten Tag", er wies auch nicht auf einen Stuhl, er schrie mich, hochrot im Gesicht, an:

„Woher wissen Sie?"
„Woher weiß ich - was?"
„Das mit der Invasion!"
„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen!"
„Sie wissen wohl auch nicht, daß von Zeit zu Zeit alle unsere Schreibtische durchsucht werden? Alle, auch der meine, auch der von Captain Zacharias?"
„Nein, das wußte ich nicht. Es ist für mich auch ganz unwichtig."
„Auch, daß man Ihren Schreibtisch durchsucht?"
„Natürlich. Was kann man denn da finden?"
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„Ein Manuskript!" - Mir begann etwas zu dämmern.

In der Zeit, die ich in Washington verbrachte oder auch anderswo, arbeitete ich an meinem neuen Buch, „The Invasion of Germany".

Die Grundidee des Buches war, daß der Krieg erst dann zu Ende sein würde, wenn die Alliierten auch die letzten Quadratmeter deutschen Bodens besetzt hätten - eine Hypothese, die sich drei Jahre später als durchaus richtig erweisen sollte.

Ein Teil des Manuskripts war wohl bei einer der routinemäßigen Untersuchungen aller Büros der "Naval Intelligence" in meinem Schreibtisch gefunden worden.

Gewaltige Aufregung. Ich wurde zu Zacharias zitiert, und man drohte mir, mich wegen Hochverrats vor ein Militärgericht zu stellen. Ich verstand nicht, was man von mir wollte.

Schließlich fragte mich Zacharias: „Nun sagen Sie einmal offen: Was wissen Sie von unseren Invasionsplänen?"
„Nichts!"
„Sie wissen nicht, daß wir in der nächsten Zeit ..." Er unterbrach sich selbst.
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„Und wie kommt es, daß Sie dann ein Buch darüber schreiben?"

„Ich arbeite an einem Buch über die Invasion von Deutschland." Ich erklärte ihm, worum es sich handele.
Er schien sichtlich erleichtert. „Dann handelt es sich natürlich um Spekulationen! Und wie können Sie das beweisen?"
„Sie brauchen ja nur das Manuskript zu lesen. Ich nehme an, Sie haben es."
„Ja, wir haben es."

Und er zog eine Akte aus dem Schreibtisch, in der mein Manuskript lag, und offenbar auch eine Expertise über dieses Manuskript. Dann sah er auf. „Ich fürchte, wir haben Ihnen unrecht getan."
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Die Sache war nämlich die:

Im geheimen wurde bereits die Invasion Nordafrikas vorbereitet. Nur wenige wußten davon, und ich zum Beispiel konnte und durfte davon nichts wissen. Aber der Titel meines Manuskripts hatte Zacharias und andere auf die Idee gebracht, daß ich eben doch etwas wüßte und sogar darüber schreiben wollte.

Allgemeines Händeschütteln. Ich war also doch kein Verräter.

Rückblickend muß ich immer wieder feststellen, wie erstaunlich viel ich während des Krieges gereist bin. Die meisten Menschen konnten ja damals entweder überhaupt nicht reisen oder nur unter Schwierigkeiten, und das galt sogar für die Amerikaner innerhalb des Landes, wenn die Schwierigkeiten auch nicht so groß waren wie in Europa.

  • Anmerkung : In einer neuen New Yorker Zeitschrift aus Juni 1945 !!! konnte der Leser aus einigen kleinen Artikeln entnehmen, daß die US-Bands und die US-Combos und die US-Jazzer riesen Probleme ab 1941 hatten, - dem Kriegseintritt der USA -, denn der Treibstoff ganz allgemen, also auch Diesel, war auf einmal rationiert. Sie durften und konnten nicht mehr mit ihren alten klapprigen Vans und Station-Cars "durchs Land" gondeln / fahren und überall mal tageweise auftreten. Und viele - sehr viele - waren am Existenzminimum, als Hobby-Musiker sowieso ein Dauerzustand. Dann versuchten sie es mit Schallplatten - und da stammen auch diese raren Artikel darüber her. Wir nach 1945 geborenen Deutschen wußten davon auch Jahrzehnte danach nichts, also daß es die "beneideten glorreichen" Amerikaner gar nicht so leicht hatten, im 2.Weltkrieg mitzumachen.

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Immerhin . . .

In den 1930er Jahren war ich bis zu sechsmal im Jahr zwischen Europa und New York unterwegs gewesen, immer mit Schiffen, versteht sich. Es gab kaum einen großen Dampfer, außer den deutschen natürlich, den ich nicht kannte und auf dem man mich nicht kannte, denn ich hatte mir einen besonderen Reisestil zugelegt - es lohnte sich ja.

Ich aß stets allein an einem kleinen Tisch im Speisesaal. Ich nahm an keiner der unzähligen Veranstaltungen wie Tischtennis, Shuffle-Board, Bridgeturnieren teil. Mein Liegestuhl stand immer an der Stelle, an der keine anderen standen.

Ich sprach niemanden an, und ich ließ mich auch nicht ansprechen. Diese transatlantischen Reisen waren ja meine einzige Erholung. Natürlich war ich auch in Europa - ausserhalb Deutschlands - viel hin- und hergereist - bis zum Ausbruch des Krieges.

Edgar, der mich in Paris oft zur Bahn brachte oder abholte, sagte einmal ganz richtig: „Unser Leben spielt sich auf Bahnsteigen ab."
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Zweimal mit Truppentransporten nach Übersee

Jetzt ab 1941, im Krieg, fuhr ich entweder nach Washington oder flog nach Hollywood. Zweimal fuhr ich auf Schiffen nach England - das waren Truppentransporte "nach Übersee".

Die Dampfer waren grau gestrichen, alle Namenszeichen waren entfernt, auch die Aufschriften wie „Speisesaal" oder „Zum Sonnendeck". Und doch wußte ich jedesmal, auf welchem Schiff ich mich befand, ich kannte ja die Schiffe von früher her.

Meistens aber flog ich nach England. Das taten oder durften nur verhältnismäßig wenige, und nur solche, die nach Ansicht der Behörden „kriegswichtig" waren. Die hatten Priorität oder vielmehr Prioritäten, von denen es viele Stufen gab. Ich besaß eine ziemlich hohe Priorität, dank meinem Rang in der Naval Intelligence.

Ich wußte nie, wann ich fliegen würde. Manchmal wurde es mir erst ein oder zwei Stunden vorher mitgeteilt, und ich hatte daher, durch Erfahrung gewitzigt, in meinem Washingtoner Büro stets ein Suitcase stehen mit Pyjama, Zahnbürste und ein bißchen Wäsche.
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Übrigens ging es meistens nach London.

In London traf ich viele Emigranten und unter ihnen Freunde von früher. Etwa den hochbegabten Feuilletonisten Hans Tasiemka, der wie ich am „12-Uhr-Blatt" gearbeitet hatte.

Nach dem Krieg richtete er in London ein Archiv ein, das seither von zahlreichen englischen, deutschen und holländischen Zeitungen ständig benützt wird. Auch einen Beratungsdienst für Zeitungen und Fernsehanstalten. Alles ganz einmalig.

Ich traf auch Paul Markus, der als „Pem" schrieb. Er war fast unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung nach Wien gefahren und von dort, als sich der Krieg abzeichnete, nach London.

Er war einst der erste Klatschkolumnist der deutschen Presse - jedenfalls glaube ich es. Der kleine kräftige Mann kannte jeden und wußte, wo einer oder eine spielte oder schrieb, oder wer mit wem ...
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In Wien war Paul Markus auf die originelle Idee verfallen ....

...., jede Woche oder vielleicht auch jede zweite einen „Privatbericht", später in London „Private Bulletin", herauszugeben. So erfuhren wir, die Emigranten, wo die anderen Emigranten steckten, wer welche Erfolge hatte und vieles andere mehr. Er wußte einfach alles. Und so half er uns, Kontakt miteinander zu halten.

Wann immer ich in London war, erzählte er mir die neuesten Geschichten und preßte mich nach Material aus: Was tat Lubitsch? Wo steckte Vicki Baum? Hatte der letzte Film von Fritz Lang Erfolg gehabt?

Einmal wurde ich von London nach Algier geflogen, oder vielmehr zu einem Militärhafen etwa hundert Kilometer von der Stadt entfernt. Ich wäre über dieses Flugziel erstaunt gewesen, hätte ich nicht durch die Geschichte mit der „Invasion of Germany" von der kommenden Invasion in Afrika etwas geahnt.
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Robert Murphy (Bob) war in Algier der US-Generalkonsul

Das waren abenteuerliche Tage, die wir in Algier verlebten. Wir befanden uns zwar im unbesetzten Frankreich, aber es wimmelte dort nur so von Nazis, Saboteuren und Agenten, und Robert Murphy, der US-Generalkonsul, der die Landung der Truppen vorbereiten sollte, führte ein recht gefährliches Leben.

Sein Mut und seine durch nichts zu erschütternde Ruhe waren um so imponierender, als er ja eine Rolle spielte, auf die er keineswegs vorbereitet war.

Murphy war nämlich Berufsdiplomat. Groß, schlank, sehr gut aussehend, mit viel Charme. Wir wurden schnell Freunde und sind es geblieben, denn wir sollten noch oft zusammen arbeiten, besser: ich unter ihm.

Damals war ich für Bob eine Art Verbindungsmann zur Navy, einer von dreien übrigens.
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Die US-Navy spielte bei der Invasion nur die Rolle des Transporteurs.

Es handelte sich um eine „Army Show". Man weiß heute ja, wie glatt damals - Ende 1942 - alles ablief. Hochstimmung bei den amerikanischen Truppen, auch bei den Franzosen, soweit sie nicht Kollaborateure der Nazis waren. Besäufnisse, Festlichkeiten, usw. .....

Josephine Baker war auch in Algier - sie war ausgewandert

Eines Tages lief ich sozusagen in die Arme von Josephine Baker. Sie hatte geheiratet, einen reizenden jungen Franzosen, Sohn eines Großindustriellen namens Levy, im Krieg Flieger, der schon in den ersten Monaten abgeschossen worden war. Sie hatten sich nach Algier abgesetzt.

„Ich gebe morgen abend eine Gala-Soiree für die Amerikaner. Du mußt natürlich kommen!"

Ich kam. Die Sache fand in einem riesigen Saal statt, voll von amerikanischen und französischen Offizieren und Soldaten. Eine Jazzband spielte, und Josy trat auf, in einem goldenen Abendkleid. Jubel. Sie sang ein Chanson.

Stärkerer Jubel. Sie verschwand. Erst nach etwa fünfzehn Minuten kam sie wieder. In einem anderen Kleid. Abermals Jubel. Zweites Chanson. Enormer Jubel. Pause von fünfzehn Minuten. Sie trat in einer neuen Creation auf. Jubel, Chanson, Jubel.

Als sie wieder abgegangen war, gingen auch schon einige wenige Zuschauer. Nach dem vierten Chanson oder nach der fünften Toilette strömten bereits Hunderte zu den Ausgängen. Nach dem zehnten Kleid waren wir nur noch ein kleiner Kreis.

Wir hatten das Gefühl, der Oper „Parsifal" beigewohnt zu haben. Josy weinte bitterlich, als ich sie in ihrer Garderobe besuchte. Sie war nicht dazu gekommen, alle ihre Kleider herzuzeigen. „Und ich hatte es doch so gut gemeint. Ich dachte, es würde den Jungen Spaß machen!"
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Etwa 18 Monate später (als wann ??)

Ich traf Bob Murphy in London wieder - es war wohl achtzehn Monate später. Und dann kam sein Vorschlag, mit Allen Dulles „zusammenzuarbeiten", und meine etwas abenteuerliche Reise in die Schweiz und die folgenden „Besuche nach Deutschland", über die ich ja schon berichtet habe.

Als es mir nach meinem gesundheitlichen Zusammenbruch in Zürich (1943) wieder besser ging, riet mir Dulles telephonisch, doch ein paar Tage zur Erholung in die Berge zu fahren. Ich fuhr nach Davos. Der Ort war übrigens ganz leer. Und bald fühlte ich mich gesünder denn je.

„Wenn Sie wollen, können Sie in der Schweiz bleiben", sagte Dulles wieder über das Telephon. Nur wollte er nicht, daß ich nach Bern käme.
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„Und was könnte ich für Sie tun?"

„Ehrlich gesagt - nichts." - Das war natürlich nicht die Wahrheit.

Erneute heimliche Erkundigungsfahrten nach Deutschland hätten doch immer wieder nur die gleichen Resultate ergeben: die Deutschen waren kriegsmüde, die Popularität der Männer an der Spitze schwand rapide, aber es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß die Deutschen revoltieren würden oder auch nur wollten.
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Dann erst kam die wirkliche echte Frage raus ...

Übrigens sah ich Dulles dann doch noch in Zürich, wohin er ein paar Tage später kam. „Eine Frage, die ich nicht am Telephon stellen wollte: Halten Sie es für möglich, daß es innerhalb der Armee Widerstände gegen Hitler gibt?"

„Ich halte es für möglich. Aber Genaueres weiß ich nicht."
Er schien irgend etwas zu wissen oder doch zumindest einen Tip bekommen zu haben.

„Sie hatten ja keine Gelegenheit, mit hohen Militärs zu sprechen, als Sie drüben waren . . .?"
„Natürlich nicht. Und wenn, würden Sie ja wohl kaum einem Unbekannten etwas dieser Art erzählt haben."
„Warum glauben Sie dann, daß Militärs gegen Hitler . . .?"
„Ich habe nicht gesagt, daß ich es glaube, ich habe gesagt, daß ich es für möglich halte."

„Warum?"

„Weil höheren Offizieren militärisch nichts vorzumachen ist. Sie müssen doch wissen, daß der Krieg längst verloren ist. Unter sich reden sie sicher auch darüber."
„Sie meinen, diese Herren, die Hitler so lange geduldet haben . . ."

„Für mich war es immer ein Rätsel, daß er ihnen sympathisch war oder vielleicht noch ist. Ich glaube das allerdings nicht. Wenn sie ihn geduldet haben, so, weil er Erfolg hatte. Innerhalb Deutschlands. Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Im Krieg - Polen, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Belgien, Holland."

„Und jetzt, wo sich die Niederlage abzeichnet?"
„Ja, ich könnte es mir vorstellen, daß sie jetzt losschlagen. Ich persönlich glaube es allerdings nicht. In Deutschland wird Gehorsam groß geschrieben."
Allen Dulles stand schon auf. „Mein Zug geht in einer halben Stunde."
„Ich möchte auch von hier weg. Ich möchte wieder nach London."
„Warum nicht zurück nach Washington?"
„Ich möchte mit dabei sein. Jetzt, da sich der Krieg seinem Ende nähert."
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Meine Reise im Spätherbst 1943 aus der Schweiz nach London zu arrangieren war für Dulles relativ einfach.

Der sehr dicke und relativ gemütliche US-Generalkonsul in Zürich schickte von Zeit zu Zeit US-Flieger, die in der Schweiz notgelandet und dort - wie es das Völkerrecht vorschrieb - interniert worden waren, per Flugzeug nach Lissabon. Das war zwar - offiziell - von den schweizerischen Behörden streng verboten, aber die schlössen die Augen und, was die Proteste der Berner Nazi-Botschaft anging, auch die Ohren.

Auf einem der nächsten Transporte befand auch ich mich. In London erwartete mich eine Überraschung: das nicht mehr ganz taufrische Kabel einer amerikanischen Presseagentur, die mir zu beachtlichen Bezügen anbot, ihr dreimal pro Woche einen Artikel zu kabeln. Ich wollte schon absagen, als Bob Murphy geradezu dringlich zur Annahme riet. „Eine solche Tarnung kann immer von Nutzen sein", sagte er.
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Da war ein kleiner, drahtiger Mann - sein Name: Lucius D. Clay

Das Ganze spielte sich in einem amerikanischen Offiziersklub im West End von London ab. Ein General, der neben Allen Dulles saß, nickte. Er war ein eher kleiner, drahtiger Mann mit einem intelligenten Gesicht und überaus wachen Augen. Sein Name: Lucius D. Clay.

Damals ahnte ich noch nicht, welche Rolle er in meinem Leben spielen sollte. Er bemerkte nur trocken: „Kann sein, daß Sie die Arbeit, die Sie für Allen gemacht haben, noch einmal machen müssen. Und je weniger Leute wissen, daß Sie nicht nur Reporter sind, desto besser. Übrigens kann auch ich Sie in nächster Zeit ganz gut brauchen."

Ich machte ein verständnisloses Gesicht. „In der nächsten Zeit, Sir . . .?"
„Nun ja, wenn wir in Deutschland sind."

In nächster Zeit ...
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Es dauerte fast noch ein volles Jahr, bis es zur Invasion kam.

Über die Invasion vom Juni 1944 ist ja viel geschrieben worden, auch viel Mist, und zwar von Leuten, die behaupten, auf einem der ersten Schiffe gewesen zu sein. Ich will das von mir nicht sagen, ich weiß überhaupt nicht, auf dem wievielten Schiff ich war - ich weiß nur noch, daß die Schiffe so eng nebeneinander herfuhren, daß man das Wasser des Kanals kaum sehen konnte.

Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich im Radio Goebbels erregt ausrufen hörte, die Deutschen würden die Invasoren ins Wasser zurückwerfen. Er hätte uns bestenfalls aufs nächste Schiff zurückwerfen können. Aber auch das konnte er nicht.
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Kaum an Land (Juni 1944), wurde ich zu Clay gerufen.

„Welchen Eindruck wird die Invasion auf die Deutschen machen?"
„Sie wird die Glaubwürdigkeit des Regimes noch stärker erschüttern. Hitler hat schließlich versprochen, daß es nie zu einer Invasion kommen wird."
„Und wenn die Sache für uns schiefgeht?"
„Das wäre mehr als eine militärische Katastrophe."
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Clay, grimmig: „Sie wird nicht schiefgehen."

Das bewiesen die nächsten Wochen des Juli 1944. Und nicht zuletzt ging das Verdienst daran auf das Konto Clays. Er war sozusagen der Architekt der Invasion, was wenige wissen.

Ich erinnere mich, daß Eisenhower - ich war damals als Korrespondent seinem Stab zugeteilt - sehr aufgebracht war, als man ihm sagte, die Räumung des Hafens von Le Havre, den die Nazis durch versenkte Schiffe blok-kiert hatten, würde mindestens drei Wochen in Anspruch nehmen.

Clay wurde gerufen und schaffte es in genau sieben Tagen.
Um diese Zeit war Paris längst befreit, das alliierte Hauptquartier befand sich bereits im Hotel „Trianon" nahe Versailles, und wir Korrespondenten saßen im Hotel „Scribe" in Paris.

Warum? Das war das Hotel der deutschen und Deutschland verbündeten Korrespondenten gewesen. Das Hotel „Scribe"! Dort hatte ich immer gewohnt, wenn ich in den 1930er Jahren von Amerika herüberkam. Dort kannte mich jeder Portier und jeder Liftjunge. Ich wurde behandelt wie ein König - ansonsten war man im „Scribe" nicht gerade begeistert von der neuen „Besetzung".
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Edgar Katz hieß jetzt "Joubert"

Ein anderes Wiedersehen: Edgar, der sich jetzt Joubert und nicht mehr Katz nannte, hatte sich bei Kriegsausbruch freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet, dort allerlei nicht allzu Lustiges durchgemacht, war schließlich entlassen worden - dank der Intervention einer schweizerischen Zeitung - und hatte sich nach Marseille durchgeschmuggelt, just in dem Augenblick, als die Deutschen dort einrückten.

Sie besetzten ja nun auch das „garantiert" unbesetzte Frankreich. Edgar war untergetaucht - neuer Name, eben Joubert, den er dann übrigens beibehalten sollte, falsche Papiere, Mitarbeiter an einer Untergrundzeitung.

Er war schließlich nach Paris gekommen, zuerst an ein kommunistisches Blatt, ging aber bald, übrigens auch auf meinen dringenden Rat hin, zu „Paris-Presse", einem gehobenen Boulevardblatt.

Edgar war immer noch der alte, trotz vieler "Erfahrungen"

Er hatte viele Abenteuer bestanden, zahlreiche Gefahren hinter sich, aber davon sprach er kaum und brüstete sich nie damit. Er war der alte geblieben und blieb es auch später. Seine - bemerkenswerte - Stärke: sich nie, auch nicht durch die erschütterndsten Ereignisse und Erlebnisse, aus der Fassung bringen zu lassen.

Der ehemals brillante Sportjournalist war nun auch ein vorzüglicher Allround-Journalist und wurde bald als solcher bekannt. Er war ja nicht mehr Emigrant, sondern Franzose und hatte mehr und härter für Frankreich gekämpft als die meisten Franzosen.
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Ich dachte an meinen Freund Ewald, den Augenarzt.

War er überhaupt noch am Leben? Wo mochte er stecken? War er Arzt in der Roten Armee geworden? Wann würde ich ihn wiedersehen?
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Mein Buch über Goebbels ........

Ich hatte noch in Washington ein Buch über Goebbels angefangen, das heißt ich hatte angefangen, Material über ihn zu sammeln. Nach meiner Meinung war Goebbels nicht nur die interessanteste Figur des Dritten Reichs, er war es auch - nicht Hitler oder Himmler -, der durch seine skrupellose, aber geniale Propaganda die Deutschen so lange und immer noch bei der Stange hielt.

Ich war im Begriff, so etwas wie ein Goebbels-Spezialist zu werden, und als ich eine bestimmte Rede - gegen Ende 1944 - von ihm las, sagte ich zu Eisenhower und Clay, es würde mich gar nicht wundern, wenn die Deutschen in den nächsten Tagen eine neue Offensive starteten.

Denn die ganze Richtung seiner Propaganda in diesen Tagen deutete darauf hin, daß die Deutschen etwas unternehmen würden. Wenn Hitler das nicht beabsichtigte, hätte Goebbels anders gesprochen und seine Zeitungen hätten einen anderen Ton angeschlagen.
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Keiner glaubte mir, sie lächelten ....

Die Generäle lächelten, und auch die amerikanischen Zeitungen, die von meiner Agentur beliefert wurden, druckten den betreffenden Artikel, das heißt, den mit der „Prophezeiung", nur mit Vorbehalt.

Eine Woche später: die Ardennen-Offensive. Eisenhower sah mich etwas komisch an. Clay sagte so ganz nebenbei: „Können Sie auch Karten legen?" Er hielt das Ganze eher für ein zufälliges Zusammentreffen.
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Pierre Lazareff und seine Frau Helene Gordon kamen zurück

In diesen Tagen kam auch Pierre Lazareff nach Paris zurück. Er war, als die Nationalsozialisten Frankreich besetzten, mit seiner Frau, einer außerordentlich begabten und bezaubernden Journalistin namens Helene Gordon, via Lissabon nach Amerika geflohen.

Ich hatte ihn drüben oft gesehen; unsere Freundschaft wurde durch die Tatsache nicht tangiert, daß der „Paris-soir" vorübergehend - er ging dann ganz schnell ein - von ganz anderen Leuten gemacht wurde, die mich natürlich nicht brauchen konnten. Man stelle sich vor: eine französische Zeitung unter Nazikontrolle, in der ein deutscher Emigrant schreibt!

Pierre war dann von der Propagandaabteilung der amerikanischen Armee angestellt worden und hatte jahrelang die Propagandasendungen nach Frankreich überwacht, teilweise auch selbst geschrieben. Jetzt kam er wieder und übernahm innerhalb eines Tages - nicht nur mit Duldung, sondern auf Wunsch der westlichen Alliierten - eine kleine Widerstandszeitung, die aus einem einzigen, beidseitig bedruckten Blatt bestand. Sie war eine von ungefähr zwei Dutzend, die es damals in Paris gab.
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Später nannte er dieses Blatt „France-soir"

Er machte auch noch aus diesen zwei Seiten etwas, und wenig später nannte er dieses Blatt „France-soir". „Paris-soir" durfte er es nicht nennen, denn es bestand bereits ein französisches Gesetz, daß der Name einer Zeitung, die in der Besetzungszeit erschienen war, nicht wieder verwendet werden dürfe.

Der einzige alte Name, der weiterhin auf einer Zeitung stand, war „Figaro". Aber der hatte eben an dem Tag, an dem Hitler Paris betrat, sein Erscheinen eingestellt.

Natürlich wurde ich einer der ersten neuen Mitarbeiter am „France-soir". Und ich schickte auch Meldungen aus Deutschland, wohin ich als amerikanischer Korrespondent flog.

Ich war jetzt im Hauptquartier der Sixth Army

Mein ständig wechselnder Standort: das Hauptquartier der Sixth Army, Seventh Army-Corps unter General Bradley. Ein Glücksfall, wie sich bald herausstellen sollte.

Ich hatte von den Bombardierungen deutscher Städte gelesen und war von England aus sogar einige Male als Beobachter in amerikanischen Bombern mitgenommen worden. Aber ich müßte lügen, wollte ich von starken Eindrücken sprechen.

Draußen Nacht, nur für Augenblicke taghell erleuchtet durch die Flak. Die deutschen Geschütze erreichten uns übrigens niemals. Kurze Befehle via Mikrophon. Ich hatte nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein, obwohl das ohne Zweifel der Fall war. Alles wirkte viel zu anonym.

Ähnlich erging es mir nach der Invasion mit Panzern und Jeeps. Natürlich hatte ich wie alle einen Stahlhelm auf dem Kopf. Nur nahm ich ihn immer wieder ab - er war mir zu schwer - und verlegte oder verlor ihn denn auch prompt.

Der in Frage kommende Offizier verpaßte mir stirnrunzelnd einen neuen Helm - vielleicht rettete er mir so das Leben. Die umherfliegenden Granatsplitter waren ja schließlich nicht ungefährlich.

Bald war ich der teuerste Soldat "unserer" Armee!

Eisenhower, der zufällig davon hörte - seine Pressekonferenzen waren immer sehr informell - grinste: „Sie sind der teuerste Soldat unserer Armee! Was Sie uns an Helmen kosten, ist gar nicht auszurechnen!"

Aber ich hatte auch ohne Helm nie das Gefühl der Gefahr. Wie gesagt, ich hatte von den Bombardierungen deutscher Städte gelesen - ohne besondere Gefühle. Warum sollten deutsche Städte nach englischen, belgischen oder französischen nicht bombardiert werden?
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Jetzt sah ich, was geschehen war, aus nächster Nähe.

So war das also! Ich war erschüttert, obwohl ich mir sagen mußte, daß die deutsche Luftwaffe ja mit den Bombardements der Städte angefangen hatte.

Aber sicher wurden doch immer wieder die Unschuldigen getroffen. Um so mehr, als wir schon in Deutschland standen und alle Deutschen, die ich auf der Straße ansprach - sie erschraken heftig darüber: ein amerikanischer Offizier, der ein makelloses Deutsch sprach! -, mir versicherten, sie seien nicht in der Partei und schon immer gegen Hitler gewesen.

Bis mir die Journalistin Dorothy Thompson einmal entgegenschleuderte: „Idiot! Sollen die etwa einem Amerikaner gestehen, daß sie Nazis sind? Warum denn?" So blöd konnte man sein.
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Ein Ausflug in die Schweiz ... Gelegentlich ....

Gelegentlich machte ich, wenn ich genug von Trümmern hatte, einen Ausflug in die Schweiz. Jetzt ging das ganz leicht, und der Ausflug war offiziell.

Am ersten Abend ging ich ins Berner Stadttheater und sah Lortzings „Waffenschmied", eine leichte, komödiantische Oper. Wie schon berichtet: Ich heulte zum nicht geringen Erstaunen meiner Nachbarn den Abend durch. Es war seit so vielen Jahren das erste Mal, daß ich wieder deutsch spielen sah und hörte.

War Deutsch noch meine Muttersprache? Die „Weltwoche" aus Zürich, die in all diesen Jahren gegen Hitler geschrieben hatte, bat mich um Artikel.

Warum nicht? Ich sprach so gut Deutsch wie eh und je. Aber als ich vor der Schreibmaschine saß, konnte ich keinen ordentlichen deutschen Satz zustande bringen. Es war wie verhext.

Eine Sekretärin vom amerikanischen Generalkonsulat nahm meine Artikel auf englisch auf. Dann wurden sie übersetzt. Erst allmählich legte sich diese mir auch heute noch unerklärliche Hemmung vor dem Schreiben in deutscher Sprache.
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Allen Dulles meldete sich noch einmal.

Ich solle doch die Tochter Mussolinis, Edda Graziani, besuchen. Sie war mit den Tagebüchern ihres von den Faschisten, besser von ihrem eigenen Vater, wegen Verrats erschossenen Mannes während der letzten Kriegszeit in die Schweiz geflohen.

Dort hatte man sie aufgenommen, aber die Schweizer Regierung legte natürlich Wert darauf, daß sie in der Öffentlichkeit nicht gesehen wurde. Das war aus vielen Gründen wichtig. Nicht zuletzt deshalb, weil man sie vielleicht umgebracht hätte, denn sie hatte eine nicht gerade passive Rolle in den Jahren der Faschisten und der Nazis gespielt.

Allen Dulles wußte natürlich, wo man sie „versteckt" hatte: Sie lebte in einem Sanatorium in einem winzigen Ort oberhalb von Montreux.
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„Sehen Sie zu, daß Sie die Tagebücher bekommen!"

Ich fuhr also nach Montreux und mit einer Art Bergbahn, die in jenen Kriegszeiten selten verkehrte, nach dem betreffenden Ort. Ich sprach mit dem leitenden Arzt des Sanatoriums.

Der war auf mein Kommen schon vorbereitet, er las die paar Zeilen, die mir Allen mitgegeben hatte, und bemerkte dann trocken: „Wenn es nach mir ginge ... übrigens weiß ich gar nicht, ob die Patientin Sie empfangen will."

Und ob sie wollte! Sie hatte seit Wochen niemanden gesehen außer dem Personal. Sie wußte nicht, was seither in der Welt, vor allem in Italien und Deutschland, vor sich gegangen war. Sie sah mich immerfort an und bemerkte schließlich: „Sie sehen ihm ähnlich!"

Ich verstand erst nicht. Dann wurde mir klar, daß sie mich mit ihrem Mann Gian Galeazzo Ciano verglich. Es war zwar nicht unbekannt, daß sie ihm keineswegs treu geblieben war - und das beruhte auf Gegenseitigkeit -, aber jetzt, nach seinem häßlichen Tod - er hatte sich ungern erschießen lassen und sich dabei sehr feige benommen -, sah sie ihn wohl in jedem Mann.
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„Die Ciano-Tagebücher wollen Sie?"

Was ich denn damit anfangen wolle? Ich antwortete nicht ganz wahrheitsgemäß, mein Verlag wolle die Tagebücher herausbringen. Ironie des Schicksals: das geschah dann auch später.

Allen leitete das Manuskript weiter an den Verlag Doubleday, nachdem er sie hatte photokopieren lassen. „Die Tagebücher?" sagte sie noch einmal fragend. Ja, die könne ich haben - morgen früh.

Sie war immer noch eine attraktive Frau und wollte die Nacht nicht allein verbringen ........
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12. April 1945 - Präsident Roosevelt war gestorben

Gerade als ich - im April 1945 - wieder nach Paris und von dort an die Front fliegen wollte, kam die Nachricht von Präsident Roosevelts Tod. Überraschend. Als wir die letzten Photos von ihm mit denen aus seiner ersten Präsidentschaftszeit verglichen, begriffen wir, wie krank er gewesen sein mußte.

Ich war traurig, ich hatte einen guten Freund verloren. Ich war traurig, daß Roosevelt so kurz vor dem Ziel - der Vernichtung des Nationalsozialismus - hatte sterben müssen.

Ein paar Monate später wußte ich es besser.

Der Tod im Angesicht des sicheren Sieges war wie der Tod von Moses, der das Gelobte Land nur noch sehen und nicht mehr betreten durfte.

Ein paar Monate später - und Roosevelt hätte erlebt, wie verläßlich seine sowjetischen Verbündeten waren; ein Schock, eine bittere Enttäuschung, die alles, was er in den letzten Jahren unternommen hatte, in Frage stellte.
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Die Legenden mit den Ultimaten ...

Wieder mit der Sixth Army. Heidelberg war verschont geblieben, auf Wunsch eines Mitgliedes der US-Regierung und, das munkelte man freilich erst später, weil die Amerikaner dort ihr Hauptquartier zu errichten gedachten.

Ich glaube das übrigens nicht. Von meiner Heimatstadt Würzburg wurde später behauptet, man habe ihr nicht weniger als dreimal ein Ultimatum gestellt, sich zur offenen Stadt zu erklären. Davon wurde auch im Hauptquartier Eisenhowers gesprochen.

Später erklärten einige Historiker - beileibe nicht alle -, solche Ultimaten seien nie gestellt worden, es sei nur ganz allgemein ein Ultimatum an alle deutschen Städte ergangen - von Eisenhower, natürlich -, sich zu ergeben.
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Würzburg war wirklich nicht zu verteidigen

Aber es wäre nur logisch gewesen, wenn Würzburg sich zur offenen Stadt erklärt hätte. Denn die in einem Talkessel gelegene Stadt war wirklich nicht zu verteidigen.

Wie dem auch sei: Würzburg wurde von den Briten im März 1945 bombardiert. Die Sache dauerte zwanzig Minuten, und dann gab es wenig mehr als Trümmer.

Als dann rund vier Wochen später das Seventh Army Corps der Sixth Army sich anschickte, Würzburg zu erobern, wäre es immer noch vernünftig von den Deutschen gewesen, keinen Widerstand zu leisten.

Aber der Gauleiter, ein Zahnarzt namens Helmuth, wußte es besser. Er wollte die Stadt, besser die Trümmer, bis zum letzten Blutstropfen verteidigen - wenn auch nicht dem seinen.

Als die Trümmer nach sechs Tagen wilden Kampfes schließlich erobert wurden - ich wanderte mit einigen Offizieren fassungslos durch die Ruinen -, war vom Gauleiter keine Spur mehr zu finden. Damals erklärten die überlebenden Würzburger, sie würden ihn, falls sie ihn fänden, in Stücke reißen.

Sie fanden ihn damals nicht. Er landete in einem Lager. Nach ein paar Jahren Haft ließ er sich in Kassel als Zahnarzt nieder. Bis Ende der 1960er Jahre, vielleicht auch länger, kam er alljährlich nach Würzburg, wo er bei diesen Gelegenheiten wie ein Held gefeiert wurde.

Niemand hielt ihm vor, daß er ganz allein schuld sei an der Zerstörung einer der schönsten Städte Deutschlands. Niemand dachte mehr daran, ihm ein Haar zu krümmen. So kurz ist das Gedächtnis der Menschen.
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Und die Nazis waren auch nach 15 Jahren nicht ausgestorben

Und als ich in den 1960er Jahren einmal nach Würzburg kam, erzählte mir der Taxifahrer, der mich zum Hotel brachte, die Stadt sei nicht mehr so schön wie früher, und das sei die Schuld der amerikanischen „Hunde".
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Auch von dem Konzentrationslager Dachau will in den Orten nebendran keiner etwas gewußt haben

Ende April, Anfang Mai 1945 kamen wir dann schließlich nach Dachau und von dort zu dem berüchtigten Konzentrationslager, von dessen Existenz die wenigsten der nur ein paar Kilometer entfernt wohnenden Augsburger etwas gewußt haben wollten.

Die Straße verlief parallel zu Eisenbahnschienen, und auf ihnen stand ein endlos langer Güterzug, und auf den Waggons standen so eng zusammengepfercht, daß sie nicht fallen konnten, die Leichen von KZ-Sträflingen, die aus einem anderen KZ, vermutlich Buchenwald, vor den anmarschierenden Russen „gerettet" werden sollten und unterwegs verhungert oder erfroren waren.
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Von einem Turm im KZ Dachau wehte eine weiße Flagge.

Als die ersten unserer Soldaten das Lager betraten, wurden sie von einem Maschinengewehr hinter der weißen Fahne beschossen. Einige der Unsrigen erlitten Verletzungen. Fünfzehn Minuten später standen die mutigen Schützen der Lagerwache an einer Mauer. Ihr Ende.

Im Lager begegneten uns nur Gestalten, wie wir sie auf den Eisenbahnwaggons gesehen hatten. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß Menschen so ausgemergelt sein können.

Ein Pressephotograph knipste. Ein Kameramann kurbelte. Plötzlich rief jemand: „Warten Sie!" Es war ein KZ-Sträfling, der mit einem zweiten einen Kapo - so hießen die Wächter - herbeischleppte. Wieder die Stimme: „Jetzt filmen Sie!" Und dabei schnitt er dem Kapo die Kehle durch.

Inmitten des Rondells stand ein anderer Kapo. Es gab keine Möglichkeit des Entkommens für ihn, denn das Rondell war von Häftlingen umstellt. Obwohl es Anfang Mai war, begann es zu schneien. Als ich viele Stunden später an derselben Stelle vorbeikam, war der Kapo schon fast zugeschneit. Man ließ ihn wohl erfrieren.

Unmenschlichkeit? Man muß die aufgestapelte Wut der Insassen bedenken und unsere Empörung über ihren Zustand. Ich konnte diese spontane Empörung damals nicht nachfühlen. Ich lebte damals und in den folgenden Wochen wie in Trance. Ich hatte das Gefühl, mein Verstand habe ausgesetzt.
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Noch einmal nach Würzburg zurück

Ungefähr vierzehn Tage später kehrte ich noch einmal nach Würzburg zurück. Ich wollte mir alles gründlicher ansehen. Diesmal übermannte mich doch der Schmerz. Ich fand übrigens niemanden mehr, den ich von früher her kannte.

Dann erkundigte ich mich nach Rosa. Ja, jemand erinnerte sich an Rosa und daran, daß sie bis zuletzt in Würzburg gearbeitet hatte. Und dann fuhr ich mit meinem Jeep in ein etwa zwanzig Kilometer entferntes Dorf namens Bastheim, wo Rosa geboren war und wo ihre Familie noch lebte, um mich nach ihr zu erkundigen. Dort erfuhr ich, daß sie an jenem Katastrophentag in Würzburg gewesen sei, und seit dieser Zeit habe man nichts mehr von ihr gehört.

Ich erfuhr auch, wieder ein paar Wochen oder Monate später, daß sie in dem Keller des Hauses, in dem wir so lange gelebt hatten und in dem ich, nicht zuletzt von ihr, großgezogen wurde, elend verbrannt war.
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