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Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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(5) Aufklärungsfilm

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Meine Vorliebe fürs Kino und "Zutritt verboten"

In späteren Jahren hatte ich oft, wenn ich in einem Kino saß, die seltsame Sensation, daß mir eine Frau übers Haar fuhr oder mich auf den Nacken küßte. Was auf ein Kinoerlebnis zurückzuführen war.

Aber ich ging schon ins Kino lange vor diesem erstaunlichen und einmaligen Ereignis - ja ich darf dieses Erlebnis wohl als Ereignis bezeichnen.

Meine Vorliebe fürs Kino teilte ich mit vielen meiner Kameraden. Eine solche Institution hatte es in Würzburg nicht gegeben, jedenfalls meines Wissens nicht, und daher war mir auch die Existenz des Filmes unbekannt.

Natürlich prangte vor jedem Kino das Schild „Jugendlichen unter 18 ist der Zutritt verboten!" Aber es gab in der Motzstraße (das ist die lange Straße, die aus Südwesten zum Nollendorfplatz und zum Metropol führt), etwa zehn Minuten von unserer Schule entfernt, ein winziges Kino, einen schlauchartigen Saal mit etwa fünfundzwanzig oder dreißig Reihen, in denen jeweils fünf bis zehn Stühle standen.

Für uns waren es komische Untertitel (im Stummfilm)

Man ließ uns dort hinein, nachmittags, versteht sich, obwohl wir gerade zwölf waren. Stumm saß ich da und sah auf der Leinwand schöne Frauen und elegante Herren, die heftig gestikulierten. Was sie im einzelnen sagten, blieb freilich unbekannt, und nur die Zwischentitel belehrten über die jeweilige Situation.

Wie etwa: „Der Graf kommt unerwartet nach Hause!** Oder: „Mein Herr, Sie haben meine Frau verführt!**, worunter wir uns gar nichts vorstellen konnten. Oder: „Sie haben die zwei Millionen aus dem Safe entwendet!** Was immer unter einem Safe zu verstehen sein mochte - der Angeredete war offenbar ein Dieb.

Beseligt starrten wir auf die Leinwand. Uns störte nicht, daß es alle Augenblicke hell wurde, weil nämlich ein Akt abgelaufen war, und daß wir immer nachrücken mußten, von rechts nach links, weil neue Besucher kamen und die alten, das heißt die vor uns Gekommenen, mit ihren „abgelaufenen" Billetts fort mußten, ein Geschick, das auch uns schließlich ereilte.

Uns störte auch nicht der miserable Klavierspieler, der bei Verfolgungsszenen den „Wilhelm Teil" von Rossini intonierte, bei tragischen Szenen aber, etwa dem Tod einer alten Mutter, den zweiten Satz der Fünften von Tschaikowsky auf dem Harmonium spielte; uns störte nicht der Erklärer, der auch gleichzeitig die Billette herausgab und die Plätze zuwies, will sagen die Reihen, in denen zu sitzen uns die Billette berechtigten.

Dieser Mann erklärte gelegentlich die Handlung, besonders lyrische Stellen. Etwa: „Leidenschaften sind in Maries Busen entflammt!" Oder: „Was hat denn jetzt das Leben noch einen Sinn für ihn, da sie einen anderen liebt?"

Davon verstanden wir nicht allzuviel.
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In die Kino-Paläste - die heiliegen Hallen durften wir nicht

Mehr schon von den Abenteuern von Detektiven, die, selten mit einem Revolver, aber fast immer mit einem Monokel bewaffnet, stets den oder die Verbrecher zur Strecke brachten; wir wußten um so besser, daß es so kommen mußte, weil wir ja oft in der Mitte oder fast erst gegen Ende des Films den dunklen Saal betraten, das Ende also vor dem Anfang sahen. Aber das kümmerte uns nicht. Wir waren gespannt und entzückt zugleich.

Damals ahnte ich noch nicht, daß mich in gar nicht allzu langer Zeit eine andere Art von Entzücken in einem Kino erwartete, nicht in diesem, sondern in einem der wenigen sogenannten Kinopaläste.

Ein Ereignis, das viele Jahre meines Lebens prägen sollte.
Ich war damals, ich weiß es noch genau, zwölf Jahre und neun Monate alt, damals, als es geschah. Als leidenschaftlicher Besucher des kleinen Kinos in der Motzstraße und gelegentlich, aber nur selten, eben nur, wenn es sich machen ließ, anderer Flohkinos, kamen für mich die Kinopaläste in der Tauentzienstraße oder am Kurfürstendamm nicht in Frage.

Da wurde zu genau kontrolliert. Ich hätte nie die Argusaugen der Dame an der Kasse oder des uniformierten Portiers passiert, der darauf achtete, daß niemand unter achtzehn Jahren - beziehungsweise einer, dem man ansah, daß er noch nicht achtzehn war - die geheiligten Hallen betrat.
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Eine sehr elegante Dame bei uns zu Besuch

Nun erschien eines Tages eine sehr elegante Dame bei meiner Mutter zum Tee. Ich schätze, sie war so um die Fünfunddreißig, aber da mag ich mich irren. Sie war schon öfter bei uns gewesen, und meine Mutter bei ihr, kurz, die beiden waren Freundinnen, wenn auch vielleicht keine intimen. Diese Dame sagte einmal zu mir: „Curt, wenn du Lust hast, dann kannst du ja mal zu mir ins Kino kommen."

Und ob ich Lust hatte!

„Sie sollen ihn nicht so verwöhnen", meinte meine ahnungslose Mutter. Aber gerade das hatte die Dame im Sinn, und zwar in einer Weise, die meine Mutter kaum gebilligt haben würde.

Die Sache war überhaupt nur möglich, weil der Gatte der Dame, Direktor eines sehr großen Kinos am Kurfürstendamm, oft geschäftlich verreist war. Ich wurde von einem Billettabreißer auf ihre Weisung zur Direktionsloge geführt. Dort erwartete man mich bereits.
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Die Direktionsloge

Von dieser Loge aus konnte man die Leinwand sehen. Dann machte die Loge eine Art Knick, und es schloß sich, fast rechtwinkelig dazu und von den anderen Logen oder Plätzen nicht einzusehen, eine Art Wohnzimmer an, mit Stühlen, einer Couch, einem Tisch, an dem der Direktor wohl arbeitete, wenn er im Hause war.

Man gab damals den Film „König Motor". Ich weiß heute noch, wer mitspielte, und könnte die Handlung erzählen, allerdings nur etwa bis zur Hälfte. Dann spürte ich, wie die Hände der Dame sich in meinem Haar zu schaffen machten. Das störte mich in meiner Konzentration auf die Handlung, und ich muß wohl eine unwillige Bewegung gemacht haben. Denn sie sagte: „Wenn du jetzt nett bist, kannst du immer herkommen, jede Woche, wenn das Programm wechselt."

Dies war natürlich entscheidend. Ich folgte ihr also widerstrebend in den hinteren Teil der Loge. Auf dem Tisch standen Kuchen, Schlagsahne, ein damals bereits höchst seltener Luxus, und eine Kanne mit heißer Schokolade.

Ich aß und trank, obwohl ich nicht recht einsah, warum ich das nicht auch nach dem Ende des Films hätte tun können.
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Und von da an bekam ich den Film nicht mehr mit

Ich weiß nicht mehr genau, wie sie mich auf die Couch brachte, aber ich weiß nur, daß sie plötzlich auf mir lag und mich küßte, an meinem Hemd nestelte und meine Hose öffnete. Und dann geschah es.

Ich war, ja, was war ich eigentlich? Ich fand die Gefühle, die von mir Besitz ergriffen, köstlich. Ich hatte so etwas nie erlebt, nicht einmal die Möglichkeit von „so etwas" in Erwägung gezogen. Und ich war überzeugt, daß das etwas war, das noch niemand erlebt hatte.

Mache ich mich verständlich? Ich nahm an, dies sei etwas, das die Dame erfunden hatte für mich und für sich selbst, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob sie Ähnliches empfand wie ich oder überhaupt etwas. Es kümmerte mich auch nicht.

Ich war freudig erregt, und in steigendem Maße. Nur, als alles vorbei war, dachte ich, das sei doch eigentlich etwas sehr Unanständiges, was die Dame sich da ausgedacht hatte.

Etwas später, als ich meine Sachen wieder in Ordnung gebracht hatte, fragte sie, ob ich noch einen Wunsch hätte.
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„Ja, ich möchte den Film zu Ende sehen!"

„Aber, er ist doch schon zu Ende." Mist, die ganze Vorstellung war zu Ende, das Begleitorchester, das noch während der Geschichte auf dem Sofa zu hören gewesen war, hatte zu spielen aufgehört, das Kino war, soweit ich sehen konnte, leer.

„Zur Abendvorstellung kannst du natürlich nicht bleiben, deine Mutter würde sich Sorgen machen", sagte sie, die sich allerdings keine machte. „Und morgen gibt es ein neues Programm."

So kam es, daß ich nie erfahren habe, wie „König Motor" ausging. Das Letzte, woran ich mich, „König Motor" betreffend, erinnere, war Parfüm.

Sie kam noch einmal auf meine Mutter zu sprechen. Ich müßte hoch und heilig versprechen, meiner Mutter nichts von dem zu verraten, was sie als unser „süßes Geheimnis" bezeichnete. Ich dürfte überhaupt mit niemandem darüber sprechen. Ich gab ihr mein heiliges Ehrenwort.

„Dann darfst du auch immer kommen, wenn ein neues Programm läuft, und Schokolade trinken und Kuchen essen." - „Morgen?"
Sie lachte. „Ich weiß nicht, ob du das kannst."
„Warum sollte ich das nicht können?"
„Ich meine, ob es nicht besser wäre, in zwei oder drei Tagen wiederzukommen."
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Eigentlich verstand ich gar nichts mehr

Ich verstand nicht ganz, warum sie den Kinobesuch aufschob, schließlich verstand ich überhaupt nicht viel von dem, was sich da in der Loge abgespielt hatte. Nur, daß es eine Schweinerei gewesen war und sehr, sehr befriedigend.

Und dies erzählte ich auch schon am folgenden Tag meinem Freund Ewald, Schwur hin, Schwur her. Natürlich mußte auch er schwören, nichts weiterzusagen. Aber er hielt den Schwur wohl hauptsächlich, weil er kein Wort von dem, was ich berichtete, glaubte. Er war ein bißchen jünger als ich, noch ein rechtes Kind, zumindest in körperlicher Beziehung. „Das geht doch gar nicht!" erklärte er mit Überzeugung. „Das ist doch gar nicht möglich!"

Es war möglich, und zwar zumindest einmal pro Woche, wenn das Programm wechselte, und manchmal auch, wenn es nicht wechselte. Und es machte mir immer größeren Spaß - und ich meine nicht das Programm. Ich war bald mit Feuereifer bei der Sache. Es brauchte keiner Überredung mehr dazu und keiner Schokolade und keines Kuchens.

Ich weiß heute nicht mehr, wie lange es dauerte, nicht einmal, wie und warum es aufhörte. Vielleicht verreiste sie, vielleicht saß ihr Mann zu häufig in der Loge, vielleicht fand sie einen ihrem Alter angemesseneren Freund. Schließlich sah ich sie überhaupt nicht mehr. Sie kam auch nicht mehr zu meiner Mutter, die mir - das war sechs oder sieben Jahre später - so ganz nebenbei erzählte, ihre Freundin, ich erinnere mich ihrer wohl, habe sich erschossen. „Wir stehen alle vor einem Rätsel."
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Meine erste Wohltäterin hatte etwas in mir geweckt

Aber diese meine erste Wohltäterin - wenn dieser Ausdruck erlaubt ist - hatte etwas in mir geweckt. Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich fand einfach, diese Sache sei doch zu hübsch, als daß ich sie nicht weiter ausüben sollte.

Ich sah nicht ein, warum das nicht auch mit anderen Frauen möglich sein könnte. Inzwischen hatte ich natürlich begriffen, und auch durch Kameraden erfahren, daß es sich da nicht um eine Erfindung der Kinodirektorenfrau handelte.

Das seltsame war nur, daß ich mich auf Frauen konzentrierte, nicht unbedingt auf junge Mädchen - die auch, aber vor denen hatte ich eine gewisse Scheu, die ich mir nicht erklären konnte.

Die überwand ich später. Vorläufig war ich entschlossen, es mit jeder Frau, aber wirklich mit jeder, der ich begegnete, zu versuchen. Wozu waren denn Frauen da, wenn nicht dazu?

Es mag unglaubhaft klingen, aber es gelang fast immer. Ich weiß nicht, ob die Damen, die ich wählte, von mir angezogen waren, ich glaube eher, daß sie verblüfft und amüsiert waren, wenn ich sie, fast ohne Vorrede oder Zärtlichkeiten, überrumpelte.

Mein Konsum an Frauen zwischen meinem vierzehnten und achtzehnten Lebensjahr war enorm. Ich verbrachte oft halbe Nächte in fremden Betten, manchmal auch ganze, und ich hatte nicht selten Mühe, rechtzeitig in meinem Bett zu landen, um mich von Rosa und später von anderen Dienstmädchen wecken zu lassen.

Die Rechnung für diese Eskapaden sollte ich zehn Jahre später in Davos (Anmerkung : in einer TBC-Klinik) bezahlen.
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Meiner Mutter fiel es sehr wohl auf

Aber schon damals fiel meiner Mutter auf, wie schlecht ich oft aussah, und auch meine Scheu vor jungen Mädchen, die sich, wie gesagt, bald legte. Da sie sehr direkt war, schüttelte sie einmal den Kopf und fragte:

„Hast du denn gar nichts mit einem Mädchen? Ich verstehe das nicht, ich war in deinem Alter viel sinnlicher." Wenn sie ahnte! dachte ich damals. Und sie ahnte. Wenn auch nicht von meinen Kinobesuchen.

Mit Liebe hatte das alles nicht das geringste zu tun. Ich liebte keine der Damen, mit denen ich schlief. Ich war wohl schon siebzehn, als ich mich das erste Mal verliebte.

Es war buchstäblich Liebe auf den ersten Blick und völlig aussichtslos. So aussichtslos, daß ich nie versuchte, mit dem Objekt meiner Liebe irgendwie in Verbindung zu treten. Ja, ich darf wohl sagen, daß sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1975 nie von meinen Gefühlen erfahren hat.
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Mein erster Traum hieß Helene Thimig

Es handelte sich um eine junge Schauspielerin, mehr als zehn Jahre älter als ich, blond, mit dem Körper eines Knaben und dem Gesicht einer Madonna. Sie war schon recht bekannt, und ich, der Schulknabe, hatte doch einige Hemmungen, mich ihr in irgendeiner Form zu nähern. Da ich wußte, daß sie zu dem Ensemble des Deutschen Theaters gehörte, kam ich schließlich auf die Idee, mich ihretwegen an Reinhardt selbst zu wenden.

Ein Zufall kam mir zu Hilfe, will sagen, rettete mich davor, mich zu blamieren. Ich erschien wieder einmal zu einer Probe, und ich sah im Halbdunkel, daß die Angebetete unmittelbar neben Reinhardt Platz genommen hatte. Und während einer kurz darauf folgenden Pause sprach ich einen der Regieassistenten Reinhardts an, mit dem ich im Kassenraum zusammenstieß. Ich tat, als wollte ich wissen, so ganz beiläufig, wer das blonde Mädchen sei, das neben Reinhardt saß.

„Das weißt du nicht? Das ist doch die Thimig, Helene Thimig. Seine Freundin. Übrigens ist das kein Geheimnis, das weiß jeder. Sie werden wohl heiraten, wenn er erst von der Heims geschieden ist."
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Dieser "Traum" war also geplatzt

So war das also. Ich war ein bißchen traurig, wenn auch nicht
sehr. Es war immerhin erstaunlich - so jedenfalls sah ich es später -, daß ich sie nicht einmal in Gedanken in die Reihe derjenigen stellte, mit denen ich ein höchst zweifelhaftes Leben führte.

Wenn ich auch ernstlich daran dachte, daß ich sie später irgendwann einmal nach Beendigung der Schule heiraten würde. Sie oder keine! Wenn es nicht sein sollte, so gönnte ich sie am ehesten Reinhardt. Wenn schon nicht ich, dann wenigstens er. Dieser erste große Verzicht meines Lebens fiel mir nicht allzu schwer.

Es ist ein altes Klischee, von einem Menschen, den man liebt oder zu lieben glaubt, zu sagen, es sei schon beim ersten Blick so gewesen, als habe man sie oder ihn bereits Ewigkeiten gekannt.

So ging es mir jedenfalls im Falle Helene Thimig, nur daß es stimmte. Denn als ich wieder einmal zu den Ferien nach Würzburg fuhr, sah ich sie sofort. Ich sah sie in Kirchen, in Schlössern, auf Brücken in der Umgegend - überall, wo eine Madonna Riemenschneiders stand.

Das war sie. Wenn Helene Thimig Riemenschneider Modell gestanden hätte - seine Madonnen würden nicht anders ausgesehen haben. Das Rätsel meiner ersten Liebe war also gelöst. Die Lösung bestand darin, daß ich sie lange gekannt und wohl unbewußt geliebt hatte, bevor sie mir in Fleisch und Blut gegenübertrat.

Der Krieg ging weiter - oft nur mit Notabitur

Mehr und mehr Menschen wurden von ihm erfaßt. Schulkameraden, nur wenig älter als ich, machten ein Notabitur - besser: es wurde ihnen sozusagen auf einem silbernen Tablett überreicht -, nur um möglichst bald an die Front zu kommen.

Viele fielen sehr schnell, sie hatten ja keine Erfahrung, wie man sich draußen schützte. In den Zeitungen stand viel von „Heldentod" zu lesen, und das bekamen wir auch in der Schule zu hören.

Aber der Schuldirektor, der uns bei solchen Gelegenheiten zusammenrief, brachte nicht mehr allzu viel Pathos auf, in seiner Stimme tönte eher Trauer und Resignation. Die Kommuniques über den täglichen Stand des Krieges hatten längst ihre Glaubwürdigkeit verloren, zu oft war uns der große, alles beendende Sieg für die nächsten Wochen versprochen.

Es wurde schlimmer. Die Berliner froren und hungerten.

War es ein Wunder, daß sie längst kriegsmüde geworden waren? Ich kann nicht einmal das von mir behaupten. Für mich existierte der Krieg kaum, es interessierte mich nicht im geringsten, wer wo gesiegt hatte.

Und mein Stiefvater fand dieses mangelnde Interesse am Krieg immer unverständlicher, obwohl er selbst ungern über den Krieg sprach. Denn er, der nie glaubte, daß Deutschland ihn gewinnen könne, war nun längst überzeugt davon, daß Deutschland ihn verlieren müsse.

Aber er hatte recht, daß er es unbegreiflich fand, wie fast ausschließlich ich mich für das Theater, die Oper, Musik und Literatur interessierte. Vor allem mein Bedürfnis, ins Theater zu gehen, war unmäßig geworden, besonders da ich ja nun alt genug geworden war, um zu bestimmen, wann und wie oft ich gehen konnte.

Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kommt es mir vor, als ob ich von einer Art Rauschsucht, das Theater und die Oper betreffend, besessen war.

Das mit den Theaterbesuchen wurde immer schwieriger

Dabei waren die Besuche mit Schwierigkeiten verbunden. Ich mußte, um zu einer Aufführung zu gehen respektive zu fahren, die um sieben Uhr begann - im Krieg begannen die Vorstellungen früher als sonst -, das Haus um sechs Uhr (Abends) verlassen.

Es kam mehr als einmal vor, daß eine solche Vorstellung bis lange nach Mitternacht währte, besonders bei Reinhardt, der es haßte, Klassiker zusammenzustreichen.

Dann gab es keinen Pferdebus mehr, auch keine Untergrundbahn; ich mußte den Weg nach Hause, sicher so sieben bis acht Kilometer, zu Fuß zurücklegen, das heißt, wir mußten - denn Ewald war fast immer dabei.

Und wenn wir so um zwei, halb drei Uhr anlangten, war der Gesprächsstoff noch lange nicht ausgeschöpft. Wir gingen noch eine Weile, manchmal eine halbe, manchmal eine ganze Stunde hin und her, um zu diskutieren, ob der eine oder andere seine Rolle auch „richtig" aufgefaßt habe.

Ich begann damals auch sehr viel zu lesen

..... - heute frage ich mich, wann ich zwischen Schule, Frauen, Opern- und Theaterbesuchen dazu noch Zeit fand. Ich las nicht nur viel, ich las systematisch. Ich wollte nicht mehr und nicht weniger, als mir die Weltliteratur einverleiben.

Ich ging chronologisch vor. Zuerst Homer, dann Aeschylos, dann Sophokles, dann Euripides, Aristophanes, die alten Römer, die Großen der Renaissance, Shakespeare. Was ihn angeht, so ist mir die Systematik bis in meine späten Jahre erhalten geblieben.

Ich machte es mir während des größten Teils meines Lebens zur Regel, mindestens ein Drama Shakespeares pro Monat zu lesen. Wenn der Dreißigste oder der Einunddreißigste gekommen war, ohne daß ich dazu Zeit gefunden hatte, sagte ich alles ab, um mein Pensum zu absolvieren. Und habe es nie bereut.

Damals ließ ich nichts aus, bis ich wohl ein wenig früh, vielleicht zu früh, zu den Modernen kam, vor allem zu Strindberg. Ich sage, ich ließ nichts aus von dem, das mir lesenswert erschien. Das waren vor allem Dramen, keine Gedichte, die interessierten mich nie.

Romane verachtete ich - ich weiß wirklich nicht mehr, aus welchem Grund. Die waren für mich, vorläufig zumindest, keine Literatur; keine Literatur auch die Romane von Goethe oder Cervantes, die von Dickens oder Dostojewskij oder die von Thomas Mann. Zumindest vorläufig noch nicht.

Karl May habe ich nie gelesen, im Gegensatz zu einem damals noch unbekannten Adolf Hitler, und doch, so glaube ich noch heute, habe ich nichts versäumt.

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