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Die Welt des Films - Herbst 1927 - aus Sicht eines Engländers:

In diesem Buch aus London wird die internationale Entwicklung des Kino-Films bis zu den Anfängen des Ton-Films - diesmal nicht (nur) aus deutscher Sicht - vorgetragen. In einem weiteren Buch vom April 1927 von Denes von Mihaly (aus Berlin) wird eine ganz andere Sicht auf den Ton-Film verbreitet, die aber so nicht mehr stimmt. Nach dem März 1933 wurde dann die Geschichte des Ton-Films ebenfalls heftigst "verbogen", also nationalsozialistisch eingedeutscht. Darum sind die Ausführungen dieses Engländers Fawcett sehr hlfreich. Zwei deutsche Übersetzer hatten aber einiges "hinzugefügt". Die Einleitung beginnt hier.

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Der Zeichentrickfilm

Viel zu wenig hoch werden die Filme geschätzt, deren darstellendes Material nicht der lebende, sondern der gezeichnete Mensch ist. Denn die Herstellung eines solchen Laufbildes ist sehr mühselig und erfordert viel Geduld, Kunst und Geist.

Eine ungeheure Menge von Zeichnungen, deren jede eine einzelne Phase einer Bewegung wiedergibt, muß der Trickfilmzeichner anfertigen. Manchmal behilft sich allerdings der Künstler mit Figuren, deren Gliedmaßen beweglich sind. Solche Zeichnungen sind aber nur dann verwendbar, wenn die Bewegung in der Ebene der Bildfläche erfolgt und nicht nach der Tiefe.

Der Hergang bei dem Entstehen eines Zeichen- oder Scherenschnittfilmes (dessen Prinzip das gleiche ist) wickelt sich folgendermaßen ab:

Die Aufnahmen werden auf einem sogenannten Tricktisch gemacht. Dieser ist meist ein Gestell mit zwei wagrechten, aufeinanderliegenden Glasplatten, über denen sich in entsprechender Höhe der Aufnahmeapparat befindet.

Zwischen den beiden Glasplatten ordnet der Künstler die Stellung seiner Figuren an, macht von jeder Phase eine Aufnahme, d. h. ein einziges Bild auf dem Filmstreifen; darauf stellt er die nächste Phase und so bis zum Szenenende. Schon daraus ist ersichtlich, welch ungeheure Arbeitsleistung in solche einem Zeichenfilm steckt. Für einen Meter Film sind ungefähr 50 neue Zeichnungen oder zumindest neue Phasen notwendig. Die Betätigung der Kamera geschieht meist mittels automatischer Vorrichtung.

Während beim gewöhnlichen Zeichenfilm die Beleuchtung direkt, also von vorn erfolgt, wird sie beim Scherenschnitt film, um das Typische des Schattenrisses hervorzubringen, von hinten durch die Glasplatten durchgeführt.
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Wofür eignet sich der Zeichenfilm besonders ....

Der Zeichenfilm eignet sich besonders für grotesk-komische Sujets. Meister auf diesem Gebiete sind die Amerikaner. Vor allem Sullivan mit seinem köstlichen „Felix der Kater", Bud Fisher mit der Groteskserie „Mutt and Jeff", Henry F. Mayer, Briggs mit seinen Parvenusatiren „Bringing up father".

In Europa führte Schweden, wo Bergdaal mit seinem „Kapitän Grogg" gewissermaßen die klassischen Werke des Zeichenfilms schuf. Heute ist er allerdings überholt. In Deutschland wirkten Rudolf Leonard und Dely. Von besonderem künstlerischen Wert sind die Märchen-Scherenschnittfilme der Lotte Reininger-Koch. Österreich besitzt zwei einfallsreiche Künstler in Ladislaus Tuszynski und Peter Eng.
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Ahnlich wie die Zeichentrickfilme werden auch die Puppenfilme zuwege gebracht. Jede einzelne Bewegungsphase muß an der Puppe gerichtet und aufgenommen werden.
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Dekoration und Architektur

Der Filmarchitekt ist ein Präzisionsarbeiter geworden, denn er hat bald das Einsehen gelernt, daß die Kamera sich nicht täuschen läßt. Auf der Theaterbühne verursacht es keine besondere Störung, wenn eine Leinwandtüre plötzlich im Zuge zu flattern beginnt, aber die Kamera verträgt solche Mängel einfach nicht.

Saubere Dekorationsarbeit ist von allergrößter Bedeutung für das Gelingen eines Filmes. Zimmerleute und Stuckarbeiter sind zu unentbehrlichen Gehilfen des Regisseurs vorgerückt, und besonders der Modelleur muß ein Meister in seinem Fache sein; denn seine Arbeit erweckt oft größeres Interesse als jene der Darsteller.

Gegenwärtig herrscht in Amerika noch reiner Realismus vor, doch macht sich die modernere Auffassung der Schweden und Deutschen bereits fühlbar, und die in „Metropolis" vorgeführten szenischen Neuerungen beginnen auch die amerikanischen und englischen Filmbauten zu beeinflussen.

Der angedeutete Weg muß aber langsam beschritten und das Publikum erst nach und nach an einen neuen Stil gewöhnt werden. Die Deutschen haben bei dieser Pionierarbeit viel Geld geopfert, aber alle übrigen Produktionsländer werden früher oder später aus ihren Lehren Nutzen ziehen.
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Die Puppenhausarchitektur

Vorderhand steht man, wenigstens in Amerika, noch auf dem Standpunkt einer reinlichen Puppenhausarchitektur. Geld wird dort mit vollen Händen ausgegeben. Realistische Bauten, deren Vorderfronten bis ins kleinste Detail genau durchgearbeitet sind (wir nennen das inzwischen Kulissen), bedecken in wirrem Durcheinander weite Geländestrecken vor den Ateliers.

Die Rückwände zeigen eine scheußliche Anhäufung von Brettern, Balken, Draht, Maurer- und Tischlerabfällen und erinnern an die Kehrseite einer Scenicrailway.

Die absonderlichsten Gebilde sind da zu sehen: Zu einem mittelalterlichen Schloß führt eine lange steinerne Treppe empor, deren Stufen in der Mitte wie durch hundertjährigen Gebrauch abgenutzt erscheinen; chinesische Tempel mit ihrem tausendfältigen Zierat, die Front eines Riesengebäudes - es stellte ein Waisenhaus vor -, in welchem ein Brand ausgebrochen und gelöscht worden war, eine deutsche Eisenbahnstation, in der preußische und bayrische Waggons noch auf den Schienen ruhen, ein Pariser Boulevardcafe und viele andere Bauten stehen friedlich beieinander, alles mit sklavischer Realistik nachgebildet. Natürlich wird nur das absolut Notwendige gebaut, aber trotzdem ist der gesamte Materialverbrauch enorm.
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Alles muß genau so aussehen wie in Wirklichkeit

In Hollywood ist kaum jemals der Versuch gemacht worden, die Szenerie zu stilisieren. Alles, was der unerbittlichen Kamera ausgesetzt werden soll, muß genau so aussehen wie in Wirklichkeit. Die klare, trockene Luft Kaliforniens ermöglicht es, die Bauten auf unbegrenzte Zeit im Freien stehen zu lassen, so daß sie nach Bedarf wieder benutzt werden können; was natürlich die Regisseure immer wieder dazu verleitet, der realistischen Note treu zu bleiben.

Bei den ungeheuren Summen, die darauf verausgabt werden, sind die Leistungen nicht einmal gar so hervorragend. Soll etwa ein mittelalterliches Gebäude zur Darstellung gelangen, so wirken meistens die Mauern, zumal bei Nahaufnahmen, nicht echt - man merkt den frischen Mörtelbewurf und die Illusion geht verloren.

Realistische Details können oft für die dargestellte Szene ungemein bezeichnend sein und nehmen das Publikum gefangen. Jede Nachlässigkeit wird sofort wahrgenommen, jedes verabsäumte Detail kritisiert. Mit der Zeit könnten sich aber beim Film sehr wohl szenische Gestaltungsarten mit rein ästhetischer Wirkung durchsetzen.

Anstatt den Sinnen mit kleinlicher Zerstreuung zu schmeicheln, könnte etwa die Szenerie in einem tragischen Stück bloß angedeutet oder stilisiert werden - einige Schatten oder Lichter, um Tür, Fenster, Mauer fühlen zu lassen -, in einer Posse durch humoristische Architektureinfälle Belebung erfahren.
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Ein schönes Beispiel

Ein schönes Beispiel für realistische Darstellung bieten unsere Bilder aus dem Film „Der Hochzeitsmarsch" aus den Studios der Paramount, den Erich von Stroheim, ein ehemals österreichischer Offizier, inszeniert hat.

Die in Hollywood aufgenommenen Szenen von der Fronleichnamsprozession werden das Herz jedes alten Wieners erfreuen: man fühlt sich förmlich um zwanzig Jahre verjüngt.

Auch das Innere der Stefanskirche wurde vollkommen naturgetreu nachgebildet; kein Detail war vergessen: Kerzen, Bildstöcke, Kruzifixe, Grabmäler, Beichtstühle, alles eine getreue Kopie des altehrwürdigen Wiener Domes. Vor dem Hochaltar fanden sogar mehrere Trauungen von Filmleuten statt.

Stroheim, einer der erfahrensten Filmregisseure der Welt, hält die Zeit für eine Änderung der realistischen Auffassung noch nicht für gekommen. Seiner Ansicht nach würde das Publikum stilisierende Experimente nicht mitmachen - es würde einfach nicht mehr ins Kino gehen.
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Der Vorzug des Kinos vor dem Theater

Der Vorzug des Kinos vor dem Theater beruht eben großenteils in der Vorführung jedes realistischen Details. Die Aufnahmen an Ort und Stelle sind - wenigstens für amerikanische Produzenten - nahezu undurchführbar. Um etwa eine Szene aus dem Leben Kaiser Franz Josephs darzustellen, müßte das ganze Ensemble von Kalifornien nach Wien geschafft werden, und wenn man hier die Erlaubnis zur Benutzung von Schönbrunn für einige Tage erhalten hat, regnet es vielleicht gerade. Stroheim bleibt deshalb dabei, seine historischen Schauplätze in Kalifornien haargenau nachzubilden.
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Neu : Szenen in der richtigen Reihenfolge drehen

Vorderhand kann also noch keinerlei Bestreben wahrgenommen werden, die realistische Note der Filmbilder aufzugeben. Im Gegenteil. Bei einigen der neuesten Filme wurden in Hollywood ganze Zimmerfluchten mit soliden Zimmerwänden gebaut, so daß die Szenen in der richtigen Reihenfolge gedreht werden konnten.

Dies ist sonst bekanntlich nicht der Fall: Die Heroine stürzt heute verzweifelt aus einer Türe und erst am nächsten Tage bricht sie im Nebenzimmer weinend zusammen. Dagegen wurden bisher die in den gleichen Räumen stattfindenden Szenen ohne Rücksicht auf ihre Reihenfolge alle am selben Tag gedreht. Davon ist man jetzt teilweise abgekommen.

Für „Hotel Stadt Lemberg" war das ganze Haus samt Fassade gebaut worden. Der Aufnahmetechniker (gemeint ist der Kameramann) konnte den handelnden Personen mit seiner Kamera von einem Zimmer und von einem Stockwerk ins andere nachfolgen, was gewiß viel zur realistischen Wirkung beigetragen hat.
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Charly Chaplin war auch solch ein Pedant

Ein Fanatiker des Details ist auch Chaplin. Stundenlang kann er vor einem Riegel stehen oder die Stärke der Eisenstangen eines Löwenkäfigs prüfen und überlegen, ob die Szene wahrheitsgetreu wirkt.

Chaplin weiß ganz genau, daß alles Ungewöhnliche die Aufmerksamkeit des Publikums nur ablenkt; deshalb sind auch seine Szenenentwürfe immer von so bestrickender Einfachheit. Er verwendet nichts, was der Durchschnitts verstand nicht sofort begreift, ebensowenig verfällt er zur Erzielung eines billigen Effektes in Übertreibungen.
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Weitere Beispiele

Aber nicht allein für Außenaufnahmen werden architektonische Riesenleistungen vollbracht, auch innerhalb des Ateliers nehmen umfangreiche Bauten immer mehr überhand. Ein englisches Landhaus mit Zufahrt, Springbrunnen, Blumenbeeten und Büschen wird rasch in der ungeheuren Halle hervorgezaubert, Automobile fahren vor, die Schornsteine rauchen, die Bewohner sehen beim Fenster heraus und alle Szenen können unabhängig von Wetter und Beleuchtung bequem gedreht werden.

Besonders die Beleuchtung ist wichtig. In Kalifornien scheint ja die liebe Sonne neun Monate hindurch ununterbrochen, aber leider steht die Erde nicht still und die Schatten verändern rasch ihre Stellung. Eine kleine Störung in der Aufnahme, und zwei aufeinanderfolgende Bilder haben ganz verschiedene Beleuchtungen. Die Sonne genießt überhaupt in Hollywood so wenig Vertrauen, daß ihre Strahlen, selbst bei Freilichtaufnahmen abgeblendet werden. Die tragbaren Jupiterlampen werden überall mitgenommen, um die Sonne zu verstärken oder ganz zu ersetzen.
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Die Filmarchitektur bestimmt mit den Erfolg eines Films

Der Filmarchitektur kommt zweifellos auf den Erfolg eines Filmes großer Einfluß zu und der europäischen Produktion wird mit Recht vorgeworfen, daß sie dieses wichtige Moment etwas vernachlässigt und zu wenig Abwechslung in die Szene zu bringen weiß.

Ein mittelmäßiges Filmbuch gewinnt durch sorgfältige Ausarbeitung der Szenerie; uninteressante Dekorationen können dagegen einen sonst brauchbaren Film zugrunde richten. Läßt der szenische Entwurf an Gefälligkeit und Erfindungskraft zu wünschen übrig, so drückt sich dies sofort in der Stimmung des Publikums aus.

Kleinigkeiten sind da oft maßgebend: In ein Zimmer scheint die Sonne und die Strahlen fallen im richtigen Winkel - die Tür eines Landhauses öffnet sich und man erblickt eine liebliche Gartenlandschaft u. dgl. Der Kinobesucher wünscht in der Regel ein freundliches anheimelndes Milieu zu genießen - sein eigenes Heim entbehrt oft genug jeden Behagens.

Aber auch moderne Wohnungsausstattungen, neuartige Möbel, Erfindungen interessieren ihn. Er wünscht fremde Länder, Einrichtungen und Gebräuche kennen zu lernen. Die Amerikaner verstehen es, eine saubere und nette Arbeit hervorzubringen, vor der die Kritk verstummt und die den Kinobesucher anzieht. Es wirkt alles ziemlich selbstverständlich und dies hat zur Popularität des amerikanischen Filmes im Ausland viel beigetragen.

Die den Amerikanern zum Vorwurf gemachten szenischen Mißgriffe, besonders wenn es sich um europäische Länder handelt, sind oft absichtlich herbeigeführt. Das amerikanische Publikum kann nämlich gewisse europäische Eigentümlichkeiten nicht verdauen.

Lubitsch drehte beispielsweise „Lady Windermeres Fächer" in einem rein englisch ausgestatteten Hause: hohe Doppeltüren, schwere Gesimse, überladene Kamine usw. Nahezu alle amerikanischen Kinobesitzer tadelten dann diese Ausstattung als unrichtig und verfehlt.

Das Durchschnittspublikum hat ziemlich feste Ansichten darüber, wie die Szene auszusehen habe und man muß bestrebt sein, ihm genau das vorzusetzen, was es zu sehen wünscht. Man nennt das richtige Einschätzen aller Publikums wünsche „Filmgefühl".
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Schlußwort

Zu allen Zeiten hat es Krittler und Puritaner gegeben, die über den Niedergang der Kunst Klage führten, und zu allen Zeiten hat das zahlende Publikum recht behalten. Denn wer sein Vergnügen bezahlt, hat wohl das Recht, zu verlangen, daß er das zu sehen bekommt, was ihm zusagt.

Es gibt eben leider in der Weltliteratur Höchstleistungen, deren Schönheiten seit Jahrhunderten gerühmt werden und die doch niemals imstande waren, ein Theater zu füllen; während andererseits der Durchschnittsgeschmack Schöpfungen bevorzugt, die einer strengen Kunstkritik nicht immer standzuhalten vermögen.

Das Publikum wird also immer nur das bezahlen, was es zu sehen verlangt; aber es wird noch aus anderen Gründen das Filmtheater gerne aufsuchen, denn außer der Billigkeit bietet es auch große Bequemlichkeiten.

Keine Toilettenvorschrift zwingt uns zum zeitraubenden und kostspieligen Wechsel der Kleidung, kein Garderobezwang veranlaßt uns zu weiteren lästigen Ausgaben; wir können kommen wann wir wollen und gehen, wann es uns beliebt; die Sitze sind meist gut und weich gepolstert; die Luft ist rein und wird stets erneuert, die Temperatur ist gerade recht; gefällige Musik versetzt uns in angenehme Stimmung.

Auch werden wir vor keine Probleme gestellt: die auf der Leinwand an uns vorbeiziehenden Bilder entführen uns in alle Weltteile; der Film zeigt uns die überraschendsten Neuigkeiten; er macht uns mit Helden und Königen bekannt, die uns bisher nichts bedeutet hatten; er versetzt uns in Gegenden, er macht uns zum Zeugen von Ereignissen, die uns für immer unerreichbar hätten bleiben müssen, und er bedient uns mit einer weisen Mischung von Tränen und Lachen.

Alles in allem gewiß keine überwältigend künstlerische Angelegenheit, aber harmlos, angenehm und wahrlich gesünder, als in Wirtshäusern und Branntweinschenken zu sitzen oder sich auf der Straße umherzutreiben.
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Millionen Menschen brauchen heute den Film

Vielleicht aber gerade deshalb ein idealer Zustand. Denn Millionen Menschen brauchen heute den Film - sie haben sonst nichts und empfangen durch ihn die heftigsten Sensationen. Man beobachte nur die im Lichtspieltheater bei manchen Stücken herrschende Spannung, wie die Leute mitgehen, wie ernst sie die Handlung nehmen; sie erleben alles selbst, ja sie sprechen sogar mit: „Gebens acht, Fräulein," rief unlängst eine besorgte Zuseherin im Vorstadtkino der bedrohten Heroine zu, „dort hinterm Klavier is einer versteckt!" Das einfache Gemüt des Volkes, dem die überfeinerten Lüste des modernen psychologischen Schauspiels nicht zusagen, reagiert sofort auf Urtriebe: Verfolgte Liebe, bestraftes Laster, Rache, Mutterliebe.

Im Filmtheater eilt der Besucher nicht nur vom arktischen Schneesturm zur tropischen Wüstenglut, er erlebt auch alle Sensationen, die seinen innersten Gefühlen am sinnfälligsten entsprechen. Der Film bietet überdies noch eine besondere Eigentümlichkeit, die ihn vom Theater unterscheidet: der Besucher ist zur völligen Passivität gezwungen. Die Handlung spielt sich ab, ohne daß er durch Applaus oder Mißfallen darauf den geringsten Einfluß nehmen könnte.

Das Äußerste, das er tun kann, ist den Saal zu verlassen, und gerade das ist ihm unmöglich, denn wie gebannt starrt er auf die verzauberte Leinwand und kann sich von ihr nicht losreißen. Im Theater ist ihm noch immer in irgendeiner Weise ein Einfluß auf den Gang der Ereignisse eingeräumt - hier nicht! Kein enthusiastischer Beifall verbessert den Film oder ermuntert die Darsteller zu höheren Leistungen, kein Zischen lenkt sie ab oder bringt sie in Verwirrung. Ein Mechanismus arbeitet da nach unerbittlichen physikalischen Gesetzen.
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Das Bedürfnis, einen Film ein zweitesmal zu sehen ??

Dies ist auch der Grund, warum man fast nie das Bedürfnis hat, einen Film ein zweitesmal zu sehen. Es ist die Abwechslung, das Neue, die Überraschung, die am meisten dazu beitragen, die Massen immer wieder ins Kino zu locken. An uns liegt es, diese neue Form des Zeitausdruckes zu erfassen, wir müssen auf dem frisch entdeckten Pfade rastlos vorwärtsschreiten und nicht zurückblicken.

Die große Masse der schwer arbeitenden Bevölkerung flüchtet sich fast täglich vor dem Greuel des Alltags zu dieser unerwarteten, bisher ganz unbekannten Zerstreuung. Gönnen wir den Leuten diese Illusion, verderben wir ihnen nicht die Lust daran; bieten wir dem Publikum, was es verlangt, in möglichst verfeinerter Gestalt und es wird uns willig Folge leisten - aber hüten wir uns davor, ihm etwas aufoktroyieren zu wollen, was es nicht zu sehen wünscht! Der Mißerfolg ließe nicht lange auf sich warten.
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Die Zukunft ..... vom Film zum Fernsehen ? .. in 1928 ?

Wo wird der Film, wie wir ihn jetzt kennen, angelangt sein, wenn wir einmal den "Fernseher" verwirklicht haben ? - Auf einer Atelierbühne wird sich eine glänzende Versammlung aller hervorragendsten Stars befinden und zu den Klängen eines Orchesters von unerreichter Vollendung eine künstlerische Schöpfung versinnbildlichen.
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.... der amerikanische "Fernsichtapparat" ??? in 1927

Dies wird durch eine märchenhafte Erfindung ermöglicht werden, die alle Funktionen der Kamera, des Projektionsapparates und des Radios in sich vereint, und an zahllose Theater aller Länder werden diese vollendeten Aufführungen übermittelt werden - das gesprochene Wort ebenso wie die Musik in Übereinstimmung mit den Gebärden der Darsteller, die man in natürlichen Farben, plastisch wird bewundern können.

Die gespannte Erregung, wie sie heute bei einer hervorragenden Opernvorstellung herrscht, wird sich auf alle Theater des Landes übertragen. Dies wird eine Abkehr von den eingetrichterten Sensationen einer Filmatelieraufnahme bedeuten, es wird ein Zurückfinden zur reinen Theaterkunst, zur großen Oper sein. Während diese Zeilen geschrieben werden, bringt bereits eine amerikanische Firma einen "Fernsichtapparat" auf den Markt - wie lange noch - und eine neue Erfindung wirft alle unsere Pläne über den Haufen.
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Mit jedem neuen Tage macht ja der Film selbst Fortschritte

Auf allen Gebieten und mit jedem neuen Tage macht ja der Film selbst Fortschritte; nicht allein das rein Technische, auch die künstlerische Vollendung ist geradeso im Aufstieg begriffen, wie der ungeheure Einfluß auf die Massen. Worüber man vielmehr staunen muß, ist gerade unser Konservativismus.

Zahlreiche Leute, die den Film gründlich studiert haben, sind heftige Gegner des Farbfilmes und geben der schwarz-weißen Sepiatönung den Vorzug. Ebenso heftig ist auch oft die Abneigung gegen stereoskopische Effekte auf der Film wand.

Freilich, weder in der Farbtönung noch beim Stereoskop wurde Brauchbares bisher (wir sind in 1928) geboten, aber Versuche in dieser Richtung wären wohl wert, ermuntert zu werden; denn als neue Kunst kann der Film gar nicht beim Althergebrachten stehen bleiben.

Er muß sich den ganz geänderten Auffassungen und Geschmacksrichtungen unserer Zeit anpassen und veraltete Schönheitsbegriffe können ihn in seinem Siegeszuge nicht aufhalten. Die großen Künstler aller Epochen haben aus den sie umgebenden Zeitumständen und für ihre Zeitgenossen geschaffen. Ihre Leistungen sollen wir stets in Ehren halten, doch es ist die Frage, ob unsere Zeit sie noch verdauen kann.

Hätte Shakespeare, der praktische Theatermann, in unseren Tagen gelebt, er wäre vermutlich Filmregisseur geworden und hätte Filmmanuskripte verfaßt. Ebenso wie Bernard Shaw ein begeisterter Anhänger des Kinos ist, wenn er auch den Weg zum Film noch nicht gefunden hat.

Der Film hat noch viel zu lernen.

Aber er wird ein gelehriger Schüler sein. Heute schon befriedigen manche Aufführungen im Film mehr als auf der Bühne; wogegen manche Meisterwerke früherer Epochen - offen gestanden unmodern geworden sind. Die alte griechische Tragödie mit dem ganz unzeitgemäßen Chor weiß unserer Jugend nichts mehr zu sagen; manche Dramen Shakespeares mit ihren unaufhörlichen Kämpfen längst in Vergessenheit geratener Dynastien, mit ihren blutigen Metzeleien, können heute nicht mehr mitempfunden werden. Die poetischen Schönheiten der Sprache werden bei der Lektüre stets erhebend wirken; im Theater verfehlen jedoch die Shakespeareschen Schlachten auf den modernen Zuseher fast nie ihre humoristische Wirkung.

Der Film ist eine lebendige Kunst und muß sich als lebendiger Ausdruck des Zeitgeistes seine Konflikte selbst erfinden. Dies ist in zahlreichen Fällen schon geschehen. Der aufrichtigste Bewunderer des klassischen Dramas wird sich der Leistung eines Jannings im „Weg allen Fleisches" nicht entziehen können und der begeistertste Verfechter der Komödien eines Aristophanes, eines Molieres oder Nestroys kann den humoristischen Eindruck eines Charlie Chaplin nicht leugnen.

Die Schwierigkeit besteht darin, für die neue Kunst einen neuen Stil zu schaffen. Wir müssen neue Ausdrucksmittel finden oder sie zu entwickeln trachten. Sklavische Nachahmung und zweckloses Kopieren längst entschwundener Schönheitsbegriffe kann da zu nichts führen. Wir müssen die Gegenwart auf uns einwirken lassen und aus ihr Kraft zur Gestaltung einer neuen Zeitkunst schöpfen.
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Eine neue Richtung aus Amerika - das Melodrama

In Amerika macht sich bereits eine neue Richtung bemerkbar, das sog. Melodrama, ein Gemisch tragischer und komischer Elemente; ein Bestreben, sich mehr vom Theater zu entfernen und dem rein Filmischen näherzukommen; seelische Emotionen, wenig Titel, reiche Handlung, mehr Lebenswahrheit.

Der anfänglich so verachtete Film hat sich langsam aber sicher allgemeine Achtung zu erringen vermocht. Die vollendetsten Intelligenzen fühlen sich jetzt plötzlich imstande, ihn als Ausdrucksmittel ihrer tiefsinnigsten Gedanken zu gebrauchen. Auch in dieser Hinsicht werden unablässig Fortschritte zu verzeichnen sein, obwohl die große Masse wohl nie aufhören wird, die leichter verständlichen Abarten der Filmkunst vorzuziehen, wie es ja bei allen Künsten der Fall ist.
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Der ungeheure Machtfaktor "Film"

Ein ungeheurer Machtfaktor, eine Naturkraft gleich der Elektrizität ist uns im Film entstanden. Lernen wir ihn zu beherrschen und hüten wir uns, ihn gering zu schätzen. Betrachten wir ihn als ein Moment der natürlichen Entwicklung des Menschengeschlechtes, bemühen wir uns, ihn vorwärts zu bringen und bemächtigen wir uns dieses neuen Betätigungsfeldes für das menschliche Genie.

Er ist der wahrhaftigste Ausdruck modernen Lebens mit seiner Hast, dem raschen Wechsel der Szene, der harten Wirklichkeit seines Ausdruckes und wir können nicht ahnen, was uns von ihm noch bevorsteht. Überlassen wir seine Entwicklung nicht dem Zufall, lenken wir ihn in die richtigen Bahnen zur wirklichen Beglückung und Befreiung aller Menschen.
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Filmliteratur im Jahr 1927

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  1. Lehmann, H.: Die Kinematographie. B. G. Teubner, Leipzig, Berlin.
  2. Caissac, C. Michel: Histoire du Cinematographe. Edition du „Cineopse", Paris.
  3. Le Cinema (Encyclopedie par l'image). Librairie Hachette.
  4. Schrott, Dr. Paul: Leitfaden für Kinooperateure und Kinobesitzer. Julius Springer, Wien, Berlin.
  5. Gad, Urban: Der Film (Seine Mittel - Seine Ziele). Schuster und Loeffler, Berlin.
  6. Baläzs Bela: Der sichtbare Mensch. Knapp, Halle a. d. S.
  7. Knetz, Rudolf: Expressionismus und Film. Lichtbildbühne, Berlin.
  8. Stindt, Georg Otto: Das Lichtspiel als Kunst form. Atlantisverlag, Bremerhaven.
  9. Moholy-Nagy, L.: Malerei, Photographie, Film. Albert Langen, München.
  10. Harms, Rudolf: Philosophie des Films. Felix Meiner, Leipzig.
  11. Beyfuß, Dr. E. und Kossowsky, A.: Das Kulturfilmbuch. Chryselius & Schulz, Berlin.
  12. Nestriepke, S.: Wege zu neuer Filmkultur. Volksbühnenverlag, Berlin.
  13. Morek, Kurt: Sittengeschichte des Films. Paul Aretz, Dresden.
  14. Mühsam, Dr. Kurt: Film und Kino. Dünnhaupt, Dessau.
  15. Zimmerschmidt: Film im Zeitbild. Poeschel, Leipzig.
  16. Bagier, Dr. Guido: Der kommende Film. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
  17. Gro, Lajos: A film ütja. Altalänos könyvkiadö, Budapest.
  18. Magnus, Erwin: Lichtspiel und Leben. Dürr & Weber, Berlin.
  19. Kerr, Alfred: Russische Filmkunst. Ernst Pollak, Berlin.
  20. Lihatschew, B.: Kino u Rossii. Akademia, Leningrad.
  21. Höllriegel, Arnold: Hollywood Bilderbuch. E. P. Tal, Wien-Leipzig.
  22. Altenloh, E.: Zur Soziologie des Kinos. Eugen Diederichs, Jena.
  23. Bernhardt, Felix: Wie schreibt und verwertet man einen Film? Bruno Bauer, Berlin.
  24. von der Groth, Franz: Der Filmschriftsteller. Weimarer Schriftstellerzeitung, Weimar.
  25. Poulaille, Henry: Charles Chaplin. Bernard Grasset, Paris.
  26. Lubitsch, Ernst; Dupont, E. A.: Hollywood, das Filmparadies. Lichtbildbühne, Berlin.
  27. Mihäly, Denes von: Der sprechende Film. Krayn, Berlin.
  28. Seeber, Guido: Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten. Lichtbildbühne, Berlin.
  29. Mühsam, Dr. Kurt und Egon Jacobsohn: Lexikon des Films. Lichtbildbühne, Berlin.
  30. Mandelstamm Valentin: Hollywood (Roman). Hesse & Becker, Leipzig.
  31. Goetz, Wolfgang: Das Gralswunder (satyrischer Filmroman). Wegweiserverlag, Berlin.
  32. Porges, Friedrich: Mein Filmbuch. Mein Film-Verlag, Berlin-Wien.

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Diese Kapitel hat es hier gegeben

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  • I. Geschichtliche Übersicht
  • II. Das amerikanische Filmgeschäft
  • III. Filmmagnaten
  • IV. Reklame
  • V. Das Filmparadies
  • VI. Im Atelier
  • VII. Publikum als Diktator
  • VIII. Regisseure und Stars
  • IX. Biographische Notizen
  • X. Europa
  • XI. Lichtspiel als Kunstform
  • XII. Kulturfilm
  • XIII. Filmmanuskript und Drehbuch
  • XIV. Technisches
  • Schlußwort


Die Kapitel XI-XIV wurden nur für die deutsche Ausgabe verfaßt.
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