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Die Welt des Films - Herbst 1927 - aus Sicht eines Engländers:

In diesem Buch aus London wird die internationale Entwicklung des Kino-Films bis zu den Anfängen des Ton-Films - diesmal nicht (nur) aus deutscher Sicht - vorgetragen. In einem weiteren Buch vom April 1927 von Denes von Mihaly (aus Berlin) wird eine ganz andere Sicht auf den Ton-Film verbreitet, die aber so nicht mehr stimmt. Nach dem März 1933 wurde dann die Geschichte des Ton-Films ebenfalls heftigst "verbogen", also nationalsozialistisch eingedeutscht. Darum sind die Ausführungen dieses Engländers Fawcett sehr hlfreich. Zwei deutsche Übersetzer hatten aber einiges "hinzugefügt". Die Einleitung beginnt hier.

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Kapitel XI - Das Lichtspiel als Kunstform

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Das Kunstbedürfnis unserer Zeit - der Film

Jedes Zeitalter schafft sich seine eigene Kunstform und es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Film mit dem Kunstbedürfnis unserer Zeit auf das engste verknüpft ist. Es hat, seit Menschen die Erde bewohnen, noch niemals eine Volkserbauung gegeben, die derartige Dimensionen auch nur annähernd angenommen hätte.

Was sind die griechischen und römischen Amphitheater, was sind alle kirchlichen Ansammlungen, Prozessionen, militärische Paraden und politische Umzüge im Vergleich mit dieser Völkerwanderung an Schaulustigen, die sich Tag für Tag in sämtliche Lichtspieltheater der Welt ergießt ?

Der Film bietet also weitgehende Gefahren und Möglichkeiten, ebenso furchtbare wie fruchtbare Entfaltungsaussichten für das Schicksal der geistigen Gesamtheit, für die Beeinflussung des seelischen Lebens der Menschheit; die heilsamsten Kräfte für die Veredlung des menschlichen Daseins und ebenso die verderblichsten Einflüsse für dessen Verrohung können durch ihn ins Spiel gesetzt werden.
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Das Publikum will nicht belehrt werden

Vom Lehrfilm oder vom Kulturfilm mit seinen fabelhaften technischen und sonstigen Möglichkeiten ist beim täglichen Kinobesucher nicht viel zu erwarten; denn die 25 Millionen Menschen, die täglich ins Kino gehen, wollen ja gar keinen Kulturfilm sehen! Sie wollen sich zerstreuen, nicht belehrt werden und die Frage ist, ob dieser Riesenapparat mit seinen Spielfilmen, die, da sie eine Illusion vortäuschen, das Unterhaltungsbedürfnis der Menschen befriedigen, zu einem Mittel der Kunst werden kann, ob er künstlerisch aufzufassen und Kunst zu vermitteln vermag.

Hier ist zunächst die materielle Seite der Frage ins Auge zu fassen. Die Filmproduktion ist bekanntlich ungemein kostspielig und ebensoviel Geld verschlingt die Reklame. Die Folge davon ist, daß ein Film, der nur als Kunstwerk und nicht als Kassenerfolg zu werten ist, entweder überhaupt nicht hergestellt werden kann oder für die Massen verloren geht. Denn kein Mensch kann es sich leisten, künstlerisch hochstehende Filme zu erzeugen, die dann nur von einer kleinen Gruppe ausgewählter Menschen genossen werden und die Produktionskosten nicht decken.

Trotzdem ist das wiederholt geschehen, aber der finanzielle Erfolg war ruinös.

  • Anmerkung : Alleine Deutschland (Ost und West) konnte es sich nach dem 2.Weltkrieg aus bitterer Erfahrung leisten, solche kulturell vielleicht wertvollen aber absolut erfolglosen Kultur-Filme zu finanzieren.

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Auch der begeisterte Filmmäzen lernt dazu

Der Filmmäzen wurde noch nicht ausfindig gemacht, der sich dieses kostspielige Experiment ein zweites Mal leisten könnte; auch werden Mäzene nicht ermuntert, ihre Kunstbegeisterung beim Film auszutoben, ja sie werden davon geradezu systematisch abgeschreckt.

Immer wieder wird ihnen von der Presse versichert, der Film hätte keine Zukunft, der Kinematographie fehlten die Elemente der Kunst und das Kino selbst sei eine für die niedersten Instinkte des Volkes berechnete, oberflächliche Unterhaltung. Man vergaß die künstlerischen Möglichkeiten, die trotz alledem im Filme schlummern.

Die Geschäftsleute aber, die rascher und gründlicher denken, ließen sich vom Film nicht abreden, ließen den Bereich der Kunst einstweilen beiseite und machten ein großes Geschäft daraus.
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Geschäftsleute brauchen den geschäftlichen Instinkt

Zweifellos hat sie ihr geschäftlicher Instinkt richtig geführt, denn in Amerika wurden ungeheure Summen mit dem Film ins Rollen gebracht und von den vier ganz großen Filmmagnaten hat jeder unter den drückendsten Verhältnissen begonnen: einer war Tapeziererlehrling, ein zweiter handelte mit alten Kleidern, ein dritter war Kommis und der letzte Musikant.

Es gelang ihnen aber, die nötigen Kapitalien aufzubringen, weil sie andere Geldleute davon überzeugen konnten, daß beim Film Geld zu verdienen sei. Künstlerische Erwägungen sprachen da nicht mit.

Von den künstlerischen Möglichkeiten des Filmes

Heute, da jene die schwierige Pionierarbeit geleistet und alle Risken auf sich genommen haben, hört man wieder viel von den künstlerischen Möglichkeiten des Filmes reden. Auch die führenden Persönlichkeiten der literarischen und politischen Kreise treten dem Film sympathisch näher und sind bereit, ihm ihre künstlerischen Experimente zu widmen. Hat doch sogar Max Reinhardt mit den United Artists vereinbart, im Herbst 1928 mit Lilian Gish das „Mirakel" zu verfilmen. Nach wie vor bleibt aber die einzige gesunde Erwägung bei der Herstellung eines Filmwerkes die, ob die Kosten hereingebracht werden können.

Hebung des künstlerischen Niveaus - was ist das ?

Ansätze zur Hebung des künstlerischen Niveaus sind heute schon wahrnehmbar und wer die technische Vervollkommnung sowie die höhere Bewertung künstlerischer Momente beim Film genau verfolgt hat, wird die Fortschritte leicht erkennen. Aus den realistischen Bildern verschwindet die falsche Sentimentalität, bei den illusionistischen Szenen herrscht mehr Phantasie; durch die richtige Verwendung von Naturaufnahmen, durch die Belebung der toten Materie, geschmackvolle Anordnung der Architektur, sparsame und treffende Titel werden heute schon tiefe künstlerische Wirkungen erzielt.

Vor allem aber müssen die Produktionsfirmen trachten, die horrenden Spesen hereinzubringen, und das ist nicht allein durch die Qualität zu erzielen; es muß zunächst die gangbare Durchschnittsware erzeugt werden.

Auch hierin macht sich übrigens schon eine Besserung bemerkbar. Joseph Schenk, der Chef der United Artists, beabsichtigt, von nun an nicht mehr als höchstens 20 Filme im Jahr zu drehen; doch müssen diese auf solcher Höhe stehen, daß jeder von ihnen die Lichtspieltheater mindestens 2 bis 3 Wochen füllt.

Man sieht also, daß ein Filmmagnat selbst die Ambition beweist, sich als ein Lorenzo de Medici von Hollywood aufzuspielen und es wäre nur zu begrüßen, wenn seine Berufskollegen diesem edlen Beispiel folgen würden. Es ist aber anzunehmen, daß die geschäftliche Seite der Angelegenheit kaum außer acht gelassen werden wird.
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Eigentlich sind es zwei große, fast feindliche Lager

Wie wir sehen, sind also die an der Filmherstellung beteiligten Fachleute in zwei große, fast feindliche Lager getrennt. Die einen sehen im Film nichts anderes als ein gegenwärtig sehr gangbares Mittel, einträgliche Geschäfte zu machen, eine Ware, die man den Wünschen der Zwischenhändler oder Verbraucher anpaßt; die anderen betrachten das Lichtspiel als ein neues Gebiet schöpferischen Gestaltungswillens, als ein Mittel zu neuartiger Formung und Ausdeutung von Lebenskräften, kurz: als eine neue Kunst.

Billigerweise muß man beide Standpunkte gelten lassen, denn schließlich kann man diese Zweiteilung von Kunst und Geschäft, Schöpfung und Betrieb, Erhebung und Zerstreuung, Werk und Ware auch bei den anderen Kunstzweigen beobachten.

Wir wollen hier keine „Philosophie" der Filmkunst bieten und damit die Reihe spekulativer Betrachtungen auf diesem Gebiete vergrößern. Es liegt uns daran, durch kritische Festlegungen auf die künstlerischen Möglichkeiten hinzuweisen, die das Lichtspiel aus seiner unorganischen Abhängigkeit von Literatur und Theater befreien sollen.

Die Entwicklung der Filmkunst - in welche Richtung

Namentlich das letztere hat auf die Entwicklung der Filmkunst nach den ihr innewohnenden Gesetzen nachteilig eingewirkt, da die äußerlichen Ausdrucksmittel: Handlung, Körperlichkeit des Schauspielers, Pantomime beziehungsweise Gebärden den Irrtum einer Verwandtschaft bestärkt haben.

Sobald der Film das Theater nachäfft, befindet er sich aber auf Abwegen und schafft Dramenbastarde, die von vorneherein zu Unfruchtbarkeit und Wirkungslosigkeit verdammt sind.

Alle am Film Schaffenden sollten sich stets vor Augen halten, daß das Bühnendrama vor allem aus dem Wort seine höchsten Wirkungen holt, also aus einem begrifflich-geistigen Gebiet, während der Film (Anmerkung : wir sind in 1927 - also zur Zeit noch "stumm")eine stumme Kunst ist; er schafft seelische Werte durch eine Reihe von Bilderleb-nissen, denen ein bestimmter Rhythmus innewohnt.

Trotz seiner Schaubarkeit liegt dem Film die Epik viel näher als das Drama. Diese Erkenntnis hat sich scheinbar schon bei vielen Dramaturgen und Filmdichtern durchgesetzt, was an der Wahl der Sujets, die in jüngster Zeit zur Verfilmung gelangten, deutlich bemerkbar ist.

Vom Verstand aufgestellte oder durch ihn lösbare Probleme sind nun einmal durch das Lichtspiel nicht zu gestalten, was z. B. an den Fehlleistungen der verfilmten Ibsendramen besonders kraß zutage tritt.

Einfache Urgefühle, von Charakteren getragen, die ewige natürliche Typen bilden, vermag der Film mit gewaltigster Eindringlichkeit zu veranschaulichen und zur Höhe wahrhaft großer Kunst zu formen.

Freilich haben erst die allerletzten Jahre bei den meisten Filmkünstlern bewirkt, daß sie dem wahren Wesen einer filmischen Kunst näher kommen konnten und wenn auch nicht vollkommen geschlossene Werke in künstlerischem Sinne, so doch große, beachtenswerte Teilleistungen hervorgebracht haben.

In Deutschland waren es vor allem Ernst Lubitsch, Paul Wegener und später der Wiener Fritz Lang, die dem Filmband seelischen Ausdruck zu verleihen vermochten.
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Die technischen Möglichkeiten für die künstlerischen Wirkungen

Zunächst sind es die technischen Möglichkeiten, die dem Film eigenartige Bezirke künstlerischer Wirkungen erschlossen haben. Schon die Fähigkeit, den Blick sämtlicher Zuschauer - im Gegensatz zum Bühnenbild - auf ein und dieselbe Stelle festzuzwingen, das Räumliche in die für alle Betrachter geltende Fläche der Bildwand aufzulösen, hat es mit sich gebracht, daß viele, dem Theater versagte Eindrücke und Effekte hier Gestalt gewinnen können. Durch Näherbringen und Hervorheben gewisser Bildteile in der Großaufnahme vermögen Entscheidungspunkte ungemein eindringlich betont zu werden.

Ein für die künstlerische Filmdramaturgie besonders beachtenswertes Merkmal ist die Gleichwertigkeit aller Wesenheiten als Ausdrucksmittel, ob es nun Mensch, Tier, Pflanze oder Sache ist. Denn auch die gemeiniglich als tot bezeichneten Dinge gewinnen Leben und seelischen Gehalt. Daß die Natur auf dem Filmbild lebendige Wirkung erzielt, wie sie kein Gemälde, keine Schilderung, aber auch keine Theaterdekoration zu vermitteln vermag, braucht Menschen mit empfänglichen Augen nicht erst versichert zu werden.

Das eigentlich Filmische besteht aber außer in der Naturbelebung auch noch in der bildhaften Umsetzung der wechselseitigen Einflüsse von Mensch und Natur. Demzufolge wird der „abstrakte" d. i. gegenstandslose Film stets nur die Bedeutung eines Versuches zur Erschließung einer neuen Welt „räumlicher Konfigurationen" erlangen können.

Niemals kann er Selbstzweck sein und auf künstlerischen Eigenwert Anspruch erheben, da seine Bewegungsspiele zum überwiegenden Teil bloß Kompositionen ornamentalen Formgehaltes sind und leicht im Kunstgewerblichen versanden, gleichsam das Material zum Gehalt erheben.

Der Film darf sich nicht von seiner engsten Bindung an die jeder Kunstgestaltung innewohnenden Realität loslösen, ohne Gefahr zu laufen ins Leere zu sinken. So vermag die Weiterentwicklung des abstrakten Filmes dem mit wahrer Menschlichkeit und Naturbelebung erfüllten Spiel- oder Handlungsfilm wohl neue fruchtbringende Elemente zuzuführen, niemals aber mit vollen künstlerischen Gestaltungen an seine Stelle zu treten.
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Die Tage des (stummen) Spielfilms seien gezählt

Man spricht wohl in gewissen Zeiträumen immer wieder von einer Krise des Spielfilms, man hält seine Tage für gezählt und ergeht sich - wie es auch beim Theater oft geschah - in den düstersten Prophezeiungen. Es ist freilich nicht zu leugnen, daß in jüngster Zeit eine Abnahme des Interesses für das rein Spielmäßige zu beobachten ist.

Auch muß unbefangene Prüfung zugeben, daß es manchen Filmwerken ohne laufende Handlung gelungen ist, durch ausgesprochen filmische Elemente, durch Plastik und dramatische Wucht der Geschehnisse Wirkungen hervorzubringen, die von keinem Spannungsmomente einer geschlossenen Spielhandlung übertroffen werden können.

Man denke nur an „Berlin, die Symphonie einer Großstadt", „Chang", an viele Russenfilme! Trotz alledem kann mit Sicherheit behauptet werden, daß der Spielfilm nicht verschwinden wird. Wohl besteht die Notwendigkeit einer Wandlung sowohl im Hinblick auf die Wahl der Stoffe, wie auch in bezug auf die Behandlung des Spielmäßigen.

Es muß eine Loslösung von dem Hervorheben des äußeren Ereignisablaufes stattfinden zugunsten einer stärkeren Betonung des rein Menschlichen, des Naturhaften und der erst durch den Film wirklich erkannten Sprache der Dinge.
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Auf die Sensationslust der Massen berechnete „Spielfilme"

Was die geistig gerichteten Schichten lange vom Laufbild ferngehalten hat und noch fernhält, sind minderwertige, auf die Sensationslust der breiten Massen berechnete „Spielfilme". Mit dem langsamen Fortschreiten in der Erkenntnis des wahrhaft Filmischen ist es jedoch in künstlerischer Beziehung besser geworden.

Sogar die Amerikaner haben sich allmählich bequemt, von ihrem naiv-harmlosen Handlungsschema und der knalligen Charakterzeichnung abzukommen, ja selbst das viel verteidigte „happy end" aufzugeben, wenn es die innere Entwicklung der Bildereignisse erfordert, und einer künstlerischen Entwicklung die Wege zu bahnen.

Daß die nach Hollywood in Massen berufenen europäischen Regisseure und Darsteller in dieser Richtung Pionierarbeit geleistet haben, bedarf kaum der Erwähnung.
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Die geistigen Oberschichten vom Lichtspiel überzeugen ?

Hand in Hand mit diesem Streben der filmerzeugenden Faktoren nach einer Kunstform des Laufbildes geht der Versuch, die geistigen Oberschichten von dem Bestehen einer neuen Kunstgattung - eben dem Lichtspiel - zu überzeugen, das Lebendige und Zeitgemäße dieser Erscheinung zu beweisen.

Schon haben sich auch uneigennützige, von idealen Absichten geleitete Menschen gefunden, die den verheißungsvollen Anfang einer kulturell hochstehenden Filmkunst zum gedeihlichen Wachstum bringen und dem künstlerisch wertvollen Film seinen Weg bereiten wollen, auch wenn er kein Kassenerfolg sein sollte.

Ein solches Unternehmen ist das „Vorhutkino" (Cinema d'avantgarde) in Paris und die Gesellschaft „Neuer Film" in Berlin. Die Erfolge dieser Vorkämpfer stehen noch abzuwarten.

Welche Stoffgebiete menschlicher Phantasiegestaltung sind es nun, die einer künstlerischen Gestaltung durch den Film die größten Entfaltungsmöglichkeiten bieten? Als Antwort müssen wir
unserer Überzeugung dahin Ausdruck verleihen, daß der sogenannte Gesellsehaftsfilm vom Standpunkte des künstlerischen Filmes aus eine Verirrung darstellt.

In den meisten Fällen ein leerer Blender, erschöpft er nicht einmal die technischen Besonderheiten zur Hervorbringung eigenartiger Wirkungen. Wir sind der Ansicht, daß Filmsujets im Hinblick auf die Ausdrucksmöglichkeiten des Laufbildes in erster Linie im Bereich des Phantastischen und des Märchens liegen.

Leider genießen gerade solche Stoffe seitens der Maßgebenden bloß kümmerliche Pflege, was um so verwunderlicher ist, als echte Regiekünstler schon längst die Eignung des Filmes zur Hervorbringung vollkommener Märchenstimmungen erkannt und ausgewertet haben.

Was ist ein Märchen ?

Der Begriff Märchen ist allerdings nicht landläufig eng und einseitig zu fassen. Auch der Alltag trägt Keime des Märchenhaften in sich und Chaplins wunderbare Vagabundenschicksale sind reine „Märchen des Lebens". Denn auch Märchen ist Wirklichkeit - wenn auch auf anderer Ebene als auf jener des Alltags.

Gerade die heute erreichte Entwicklungsstufe der Filmtechnik vermag das Unwahrscheinlichste glaubhaft zu gestalten. Was der Vorstellung unglaublich dünkt, zeigt der Film als sichtbares Ereignis; er ist imstande, das unfaßbare Abenteuer kraft seiner zweidimensionalen Schwebung zwischen Schein und Wirklichkeit in unsere geistige Sichtnähe zu rücken.

Man denke an die Selbstverständlichkeit, mit der sich uns die Wegenersehen Phantasien, Paul Lenis „Wachsfigurenkabinett", Ludwig Bergers „Verlorener Schuh", mystische Szenen in den „Nibelungen" von Fritz Lang offenbaren und wie sie ihre Märchenwelt nahtlos und ohne Bruch an die unsrige anschließen. Hier entfaltet die Filmkunst ihre lebendigsten Kräfte!
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Die Frage zur Zukunft des farbigen und sprechenden Films

Wie weit die Frage nach dem Künstlerischen beim farbigen und sprechenden Film zu stellen und zu beantworten ist, entzieht sich heute noch der Beurteilung. Denn diese Probleme sind gegenwärtig ausschließlich technischer Art und ihre Lösung erst auf dieser Stufe abzuwarten, bevor ihre Möglichkeiten eine Deutung nach der Seite des Formalen und Seelischen grundsätzlich zulassen.

Auf alle Fälle mögen sich die Wirklichkeitsfanatiker die Erfahrungen des programmatischen Naturalismus vor Augen halten und bedenken: Kunst ist niemals sklavisch getreue Naturnachahmung. Kunst ist seit jeher Auswahl, Übersteigerung, Stilisierung durch eine ringende Menschenseele, die zur Natur ihre eigene Stellungnahme behauptet.

Filmkunst ist Ausdruck und Gestaltung von seelischen Werten in einer Folge von rhythmischen Bildereignissen.
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Filmmusik und Begleitmusik

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Die Musik sollte ursprünglich den Krach der Maschine übertönen

Die Filmmusik, ursprünglich wohl zu dem Zwecke eingeführt, die Nebengeräusche der Projektionsmaschine zu übertönen und gleichzeitig den Sinnen des Kinobesuchers zu schmeicheln, hat sich als feststehende Institution eingebürgert, kann heute kaum mehr abgeschafft werden und ist zu einem notwendigen Bestandteil, zu einem ästhetisch mitwirkenden Faktor des Filmtheaters geworden.

Sie steht gewiß noch in den Anfangsstadien der Entwicklung und gerade deshalb ist jenen Kreisen, die zur Hebung des Filmes im Sinne von Kunst und Kultur beizutragen wünschen, hier ein weites Feld der Betätigung eröffnet.

Es soll nicht geleugnet werden, daß Musik bei manchen Filmstücken die Phantasie zu steigern und die Stimmung - dem Zuseher vielleicht unbewußt - zu erhöhen vermag und daß sogar schon recht gute, sogar künstlerisch vollwertige Filmmusik geboten wurde; aber in der Regel bekommt man - in Europa wenigstens - ein scheußliches Potpourri der ödesten und abgedroschensten Melodien zu hören, die oft lächerlich wirken und die Stimmung geradezu gefährden.

Für einen guten Film sollte stets seine eigene Musikbegleitung geschrieben werden, was bei den riesenhaften Herstellungskosten gar nicht mehr in die Wagschale fällt. Denn es ist nicht einerlei, wenn das Ohr sich entsetzt, während das Auge sich weiden soll.

Die Wechselbeziehungen zwischen den Sinneswerkzeugen sind einmal so innige, daß die dem Ohr vermittelten Unlustgefühle sich dem Auge mitteilen. Optisches und akustisches Erleben müssen einander entsprechen.
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Die Auswahl der Musik im Lichtspieltheater

Damit soll nicht gesagt sein, daß anerkannte Meisterwerke der Musik, sofern sie das verfilmte Thema zu illustrieren und zu beleben imstande sind, im Lichtspieltheater nicht vorgetragen werden dürfen; allein die Auswahl muß gewissenhaft und von kundiger Hand vorgenommen werden, die einzelnen Phrasen durch gefällige Übergänge verbunden sein und das Ganze vor kitschigen Effekten bewahrt bleiben.

Jedenfalls ist in künstlerischer Hinsicht die besondere Komposition der reinen Illustrationsmusik vorzuziehen. Unter diesen Voraussetzungen kann die Begleitmusik sehr wohl zum Bindeglied zwischen Bildleinwand und Publikum werden und den Wert des Filmes steigern. Aber das Herunterleiern mehrerer Opernarien und Gassenhauer, die mit dem Inhalt des Stückes in keinerlei Zusammenhang stehen, könnte ebensogut durch ein besseres Grammophon besorgt werden.
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Neu aus Amerika im Jahr 1927 - der Film-Ton

Dies hat auch die großen amerikanischen Produktionsfirmen (die ja bekanntlich selbst Kinobesitzer größten Stiles sind) bewogen, der Frage der mechanischen Filmmusik näherzutreten und in Amerika stehen bereits mehrere neuartige Apparate in Verwendung, die freilich vorderhand noch manches zu wünschen übrig lassen, vielleicht aber den Keim zur Lösung der Musikfrage im Filmtheater bergen.

Sie bestehen in der Regel aus einem überdimensionalen Grammophon, das mit einer Reihe von Orgelpfeifen in Verbindung steht. Diese mechanischen Orchester werden vom Projektionsapparat aus automatisch betrieben, laufen synchron mit dem Filmstreifen ab und die von ihnen hervorgebrachte Musik ist der Handlung des Stückes angepaßt.

Die Firma Warner Brothers hat das Patent auf das Vitaphone. Der große Vorteil dieser Neuerung besteht darin, daß die Produktionsfirma nicht nur Gelegenheit hat, die zu dem Film passende Musik von bewährter Hand zusammenstellen und von einem hervorragenden Künstlerorchester vertonen zu lassen, sondern sie liefert auch gleichzeitig mit den Filmrollen die Schallplatten, so daß die gleiche Musik bei jeder Vorführung des Filmes in jedem Kino der Welt zur Vertonung gelangen kann.

Über den sprechenden oder Ton-Film wird im Kapitel „Technisches" das Wichtigste mitgeteilt.
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Kapitel XII - Der Kulturfilm

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Ist der Kulturfilm hinausgeworfenes Geld ?

Sobald nur die Bezeichnung „Kulturfilm" gesprächsweise fällt, wird man sowohl in Kreisen der Hersteller wie bei einem großen Teil des Publikums auf eine ablehnende Haltung stoßen. Der Produzent sieht im Kulturfilm hinausgeworfenes Geld, ein undankbares Unternehmen und ausbleibende Geschäfte; das Publikum denkt sofort an Schulfuchserei, langweilige Belehrung, im besten Falle an eine uninteressante Angelegenheit.

Glücklicherweise hat aber ein Häuflein Unentwegter, echte Idealisten und vorschauende Männer, die Bedeutung des Kulturfilms für Wissenschaft, Schule und Volk erkannt, sein immer tiefer greifendes Wirken auf die Schichten bildungshungriger Massen begriffen und seine propagandistische Macht auf fremde Völkerschaften durchschaut.
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Was ist ein Kulturfilm ?

Um unseren Standpunkt in der Kulturfilmfrage verständlich zu machen, wollen wir zuvörderst feststellen, was wir unter Kulturfilm verstehen.

In unseren Augen verdient ein Laufbild (Stummfilm) diesen Ehrennamen, wenn es auf Grund seines wissenschaftlichen und seelischen Gehaltes kulturelle, ästhetisch und ethisch veredelnde, bildende Werte vermittelt.

Das Gebiet des Kulturfilms umfaßt demnach nicht bloß das rein wissenschaftliche Laufbild in seinen zahlreichen Abarten und Unterteilungen, sondern auch jene Spielfilme, die ein Zeitalter in Sitten, Gebräuchen, zivilisatorischen Eigentümlichkeiten und seelischen Lebenserscheinungen getreu erstehen lassen, oder die Menschlichkeiten der Sage, des Märchens oder unserer Tage in unverfälschter, unverkitschter Gestaltung zeigen.

„Die Nibelungen", „Der verlorene Schuh", „Scherben" oder „Silvester" sind daher ebenso als Kulturfilme anzusprechen wie „Nanuk, der Eskimo" oder „Der Einstein Film". So sehen wir, daß nach solcher Einstellung der Kulturfilm einen weiten Bezirk des Filmwesens umspannt und in keiner Weise mit dem übelbeleumundeten (weil schulmeisterlichen, langweiligen) „absoluten Lehrfilm", dem Ideal trockener Kathederweisheit, gleichzusetzen ist.

Aber auch ein Lehrfilm kann packend, anregend und - was nie außer acht gelassen werden soll - unterhaltend sein: es muß nur ein bißchen seelischer Gehalt oder zumindest ein Quentchen feuilletonistischen Geistes beigegeben werden. Das Ergebnis auf die Zuschauer wird dann verblüffend sein.
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Film mit gelehrten und belehrenden Inhalt

Gleich in den Anfängen der Kinomatographie haben sich Wissenschaft und Pädagogik ihrer bemächtigt, um durch Herstellung von Filmen gelehrten und belehrenden Inhalts einen Gegenzug gegen die geschmacksverderberischen, minderwertigen Kitschfilme der Kinobuden zu machen.

Die ersten Laufbilder dieser edleren Gattung stammten aus Frankreich und fanden lange Jahre hindurch keine ebenbürtigen Nachfolger in anderen Ländern. Vor allem waren es die beiden Weltfirmen Pathe Freres und Leon Gaumont, die auf diesem Gebiete Mustergültiges leisteten, so daß sich sogar Organisationen in Deutschland, die sich die Pflege und Verbreitung von Kulturfilmen (hauptsächlich Lehrfilmen für Unterrichtsanstalten) zur Aufgabe gestellt hatten, wie die „Kinematographische Reformvereinigung" des Rektors Lemke (1907), die „Deutsche Gesellschaft für Verbreitung der Volksbildung", in erster Linie dieses französischen Materials bedienten.

Allerdings trugen diese Filme der deutschen Unterrichtsmethode zu wenig Rechnung, hatten keinen systematischen Aufbau und waren mehr unterhaltend als belehrend. Aus dieser Erkenntnis und, um den erwähnten Mängeln abzuhelfen, gründete Kommerzienrat Schwarz im Verein mit der Meßter-Projektion G.m.b.H. die „Gesellschaft für wissenschaftliche Filme und Diapositive G.m.b.H.". Mit diesem Unternehmen setzt die deutsche Lehrfilmerzeugung ein. Bald folgten andere.
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Das Filmwesen für volksbildnerische Zwecke .....

Das Filmwesen für volksbildnerische Zwecke nimmt von nun an einen
raschen Aufschwung und hat in der Errichtung der „Stettiner Urania" durch Oberbürgermeister Dr. Ackermann eine erste bemerkenswerte Blüte gezeitigt; diese Gründung kann gewissermaßen als Fundament für die Weiterentwicklung einer wirksamen Lichtspielreform angesehen werden.

Daß aber die Kultur- und Lehrfilmerzeugung in Deutschland nennenswerte Fortschritte machte, ist nicht so sehr den verschiedenen Reformvereinigungen und -Organisationen zu danken, als vielmehr den großen Spielfilmkonzernen, die genug Selbstlosigkeit in bezug auf Gewinnchancen und wahrhaften Idealismus aufbrachten, das Problem des Kulturfilms tatkräftigst aufzugreifen und an seiner Höherentwicklung zu wirken.

Ihre zielbewußte Arbeit war nicht vergeudet. Heute steht der deutsche Kultur-, besonders aber der Lehrfilm würdig neben den hervorragendsten Erscheinungen amerikanischer oder französischer Herkunft, ja, er übertrifft sie zumeist, was vor allem der deutschen Eigenschaft methodischer Genauigkeit und Gründlichkeit zu danken ist.
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Die drei Unternehmen in Deutschland

Heute sind es drei Unternehmen, die hervorragenden Anteil an der Kulturfilmbewegung in Deutschland haben: Ufa, Deulig (Deutsche Lichtbild-Gesellschaft), Dafu (Deutsch-Amerikanische Film-Union).
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  • Die Ufa ist durch die dankenswerte Tätigkeit ihrer Kulturabteilung die eigentliche Urheberin von Kulturgroßfilmen („Wege zu Kraft und Schönheit", „Rheinfilm", „Wein, Weib, Gesang", „Horrido", „Natur und Liebe") und medizinischer Aufklärungsfilme, welche Glanzleistungen der Lehrfilmkunst bilden (Steinachs Forschungen, Operationen).
  • Die Deulig beschäftigte sich hauptsächlich mit Industrie- und Verkehrsfilmen sowie auch mit Expeditionslaufbildern, die uns überseeische Länder näherbringen und erschließen sollten. Sie hat mit dem Sportfilm „Wunder des Schneeschuhs" und dem Montessorifilm volkstümliche Erfolge errungen.
  • Die Dafu pflegt vor allem die Verbreitung in- und ausländischer Kulturgroßfilme, aber nicht bloß im eigenen Lande, sondern durch ihre auswärtigen Beziehungen, besonders nach Rußland, gelang es ihr, die größten deutschen Kulturfilme (u. a. den Steinachfilm, den Einsteinfilm, „Hygiene der Ehe") im Auslande unterzubringen und dadurch für die heimische Kulturfilmbewegung bedeutende Erfolge zu erringen.

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Schon die Aufzählung einiger von der Dafu verbreiteten Laufbilder zeigen ihre hoch zu bewertenden Leistungen: „Nanuk, der Eskimo" (amerikanischer Herkunft, Welterfolg, lief in New York vier Monate hindurch bei ausverkauften Häusern), „Die Grundlagen der Einsteinsehen Relativitätstheorie", der Steinachfilm, die Besteigung des Mount Everest und viele andere.

Nicht unerwähnt darf bleiben, daß auch andere deutsche Unternehmen regen Anteil an der Herstellung von wertvollen Kulturfilmen nahmen. Vor allem die Emelka (Münchener Lichtspielkunst) die Nationalfilm A. G. und die Rtx-Film A. G., der mit dem titellosen Spielfilm „Scherben" unter der Regie von Lupu Pick und der raumschaffenden Darstellung Werner Krauss', ein wirklicher Kulturfilm gelang; ebenso mit „Silvester".
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Das kleine Österreich und der deutsche Kulturfilm

Aber auch das kleine Österreich hat einen nicht unbeträchtlichen Anteil am deutschen Kulturfilm. Die heute leider nicht mehr bestehende Staatliche Bundesfilmhauptstelle hat eine Menge technisch hochstehender, unter Mitwirkung hervorragender Wissenschaftler durchgearbeiteter Filme hergestellt.

So vor allem den erfolgreichen Aufklärungsfilm über Verhütung der Geschlechtskrankheiten, ihr Wesen und ihre Heilung, den Kulturspielfilm „Narkotika", ein Tendenzfilm gegen die Rauschgifte, der während der Völkerbundtagung in Genf im Jahre 1923 drei Wochen hindurch in ersten Kinos lief, und viele Operations- und Industriefilme.

Die Filmwerke A. G. brachte den ausgezeichneten Reisefilm „Der Kilometerfresser" und das sowohl unterhaltende wie belehrende Filmwerk der Steyrermühl- Papierfabrik „Vom Baum zur Zeitung" heraus.

Ganz besonders verdienen noch die populärwissenschaftlichen Filme der „Pan-Film A. G." erwähnt zu werden, wie „Hygiene der Ehe", „Alkohol, Sexualität und Kriminalität" und „Wie sage ich's meinem Kinde".
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Die Bedeutung des Laufbildes für das Studium der Medizin, der Technik usw.

Der Kulturfilm hat sich allmählich fast aller Gebiete der Wissen-
schaft bemächtigt. Wir sehen ganz ab von der umwälzenden Bedeutung des Laufbildes für das Studium der Medizin, der Technik, der Länder- und Völkerkunde; wir wollen nicht die große Unterstützung betonen, die der Film dem Physiker, Chemiker, Zoologen und Botaniker bei ihren Forschungen und Versuchen bietet; wir weisen nur flüchtig auf die Hilfe der Kinematographie hin, die sie Landwirten, Gärtnern, Tierzüchtern, Förstern und Fischern gewährt; wie sie in Kriminalistik, Verkehrswesen und Haushalt beratend und belehrend wirkt; wie auch der Kunsthistoriker und bildende Künstler die Vorteile der eindringlichen Anschaulichkeit eines Lauf bildes genießt - am verblüffendsten aber ist der Umstand, daß abstrakte Wissensgebiete, wie Philosophie, Mathematik und Politik durch den Film einprägsamer gemacht werden können.
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Der wissenschaftliche Kulturfilm

Wenn der wissenschaftliche Kulturfilm heute eine solche Höhe der Vervollkommnung erreicht hat, ist das nicht zum geringsten Teil den großartigen technischen Errungenschaften und Neuerungen auf dem Gebiete des „lebenden Bildes" zu verdanken.

Wir wollen hier nicht auf Einzelheiten eingehen; das hierüber zu Sagende findet sich in dem Abschnitt „Technisches". Es sei bloß angedeutet, daß die wundervollen Bilder aufspringender Knospen, erblühender Blumen nur durch den Zeitraffer, die Aufnahmen von Wesen oder Dingen mit großer Eigensgechwindigkeit und deren Verlangsamung bei der Wiedergabe nur durch den Hochfrequenzapparat oder durch die Zeitlupe möglich sind.

Diese Vorrichtung gestattet es, die Zeit einer raschen Bewegung so sehr zu dehnen, daß man die einzelnen Phasen eines Tanzes, Sprunges, Vogelfluges, ja sogar den Flug eines Geschosses genau zu verfolgen in der Lage ist. Durch die Mikrokinematographie ist uns das wimmelnde Reich der allerkleinsten, mit dem Auge nicht mehr wahrnehmbaren Lebewesen in seinen Bewegungsäußerungen in vielfacher Vergrößerung erschlossen.
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Und immer wieder kontinuierliche Fortschritte der Technik

Überhaupt haben die ungeahnten Fortschritte der optischen Industrie dem Lichtspielwesen neue Betätigungsfelder eröffnet, bisher undurchdringliche Finsternisse erhellt, unbezwingbare Entfernuxigen nähergebracht. Auch die Erfindung der Spiegellampe und die anderen Verbesserungen der Beleuchtungstechnik haben speziell für den Kulturfilm wichtigste Bedeutung.

Da der Kulturfilmer meistens mit Lebenserscheinungen zu tun hat, die man nicht mit Schminke oder Farbe für filmische Zwecke herrichten kann, ist der farbenempfindliche Film, vor allem der panchromatische geradezu eine Notwendigkeit geworden.

Im höchsten Maße fruchtbringend werden gewiß auch die Erfindungen des sprechenden Films und der Farbenkinematographie für die Weiterentwicklung des Kulturfilms sein.

Die genannten Techniken sind aber vorläufig auf einer Stufe, die noch keine bindenden Schlüsse auf die Spannweite ihrer Verwendbarkeit zulassen. Jedenfalls ersteht hier dem Kulturfilm ein neues Mittel, das ungeahnte Möglichkeiten in sich birgt und ihm förderlicher sein wird als dem künstlerischen Film. Besonders das Feld der experimentellen Wissenschaften kann hier wachstumfähige Keime empfangen.
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Ein Beispiel : Ein Film über das Blut

Wir selbst hatten Gelegenheit, einen Film über das Blut und seine Erkrankungen zu sehen, zu dem der Apparat gleichzeitig die gesprochenen Erläuterungen hervorbrachte. Man kann Vorträge und Vorführungen berühmter Gelehrter auf diese Weise festhalten und aller Welt vermitteln.

Oder nehmen wir an, es gelingt, gewisse bunte Tierarten, ihre biologischen Bedingungen oder seltene Naturerscheinungen (Nordlicht, Kugelblitze) in natürlichen Farben kinematographisch wiederzugeben. Es eröffnen sich Ausblicke, die nicht abzusehen sind. Aber bis zur Erreichung des Zieles ist noch viel Arbeit zu leisten.

Im Trickzeichenfilm ist dem Kulturlaufbild ein ansehnlicher Helfer erstanden. Denn viele hypothetische Vorgänge, wissenschaftliche Fiktionen können nur durch Zeichnung veranschaulicht werden, da sie die Natur ja nicht bietet. So wie im Bereich des künstlerischen Films (Scherenschnittfilme der Lotte Reiniger-Koch, Felix der Kater von Sullivan) der Zeichentrickfilm seinen hervorragenden Platz einnimmt, so auch in den Gemarken des Kulturfilms. Man erinnere sich nur gewisser Bilder aus dem Steinachfilm, „Natur und Liebe", „Fahrt durch den Weltraum" usw.
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Damals schon - die Presse ist Schuld

Bedauernswert jedoch bleibt der Umstand, daß über die einschneidende Bedeutung der Kulturfilmbewegung den weiten Kreisen des Publikums (die Geistigen mitinbegriffen) kaum eine Ahnung aufsteigt.

Die Schuld daran trägt in erster Linie die Presse. Ihre unverständliche Gleichgültigkeit gewissen kulturellen Erscheinungen gegenüber, das hochmütige Mißtrauen, das sie manchen umwälzenden Neuerungen entgegenbringt, haben auch den Film als solchen lange Zeit entweder durch Schweigen als Faktor für die Geistesbestrebungen abgetan oder ihm durch seine Gleichstellung mit Schaubudenattraktionen in den Augen der Leser herabgewürdigt.

Nur allmählich, als die neue Lichtspielkunst bereits ihren Siegeszug durch die Welt angetreten hatte, begannen sich die Blätter mit ihr ernstlich zu befassen. Freilich oft auf einen Wink der Inseratenverwaltung, die sich die fetten Einnahmen aus Filmankündigungen nicht entgehen lassen wollte.

Ernste Blätter von Bedeutung und Einfluß haben heute schon eine wirklich fachgemäß und von künstlerischer Einsicht geleitete Kritik des Spielfilms. Der Kulturfilm ist noch immer Stiefkind.

Wenn man ihm auch gerade nicht das Recht aufs Dasein abspricht, vermeidet man es doch, sich eingehender mit ihm zu befassen, „denn (so denkt man in den Redaktions-Stuben) wen interessiert schon so ein Kulturfilm ?"

Und gerade in diesem Punkte könnte die Presse wirkliche Kulturförderung leisten, wenn sie den Kulturfilmgedanken den breiten Massen ihrer Leser zugänglich und seine überragende Wichtigkeit in volksbildnerischer Hinsicht begreiflich machen würde.

Denn der Film ist vermöge seiner suggestiven Anziehungskraft und Anschaulichkeit ein Machtmittel, dessen Wirkungsweite noch von vielen unterschätzt wird.
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Die Wiener Urania unter Professor Dr. Adolf Hübls

Die Aufgabe, eine Kulturförderung durch den Film in großem Maßstabe auszubauen, haben sich alle größeren Volksbildungsinstitute gestellt. Insbesondere ist die Wiener Urania hervorzuheben, deren Filmabteilung unter der vorbildlichen Leitung Professor Dr. Adolf Hübls in dieser Richtung ganz Hervorragendes leistet.

Es ist Tatsache, daß das österreichische Volk dem Kulturfilm freundlicher gegenübersteht als manche andere Nation, wodurch auch die von Wilhelm Meydam aufgezeichnete Feststellung erklärlich wird, „daß das österreichische Kino sich gegen die Aufnahme größerer Kulturbilder bei weitem nicht so hartnäckig sträubte, wie die Theater der meisten anderen Länder".

Diesem Umstände ist es auch zu verdanken, daß es der Wiener Urania ermöglicht wurde, ihr großes, vom Geiste echtesten volksbildnerischen Willens getragenes Kulturfilmprogramm auch wirklich durchzuführen. Hätte sie nicht bei ihrem Publikum die entsprechende Unterstützung und Mitwirkung gefunden, wäre es ihr nie gelungen, die führende Rolle der gesamten mitteleuropäischen Kulturfilmbewegung innezuhaben.
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Juni 1927 - „Ring Deutscher Kulturfilmbühnen e. V."

Als sich im Juni 1927 eine Anzahl Kulturfilmbühnen und Kulturfilmgemeinden Deutschlands zum „Ring Deutscher Kulturfilmbühnen e. V." mit dem Sitz in Leipzig zusammenschlossen, wurde das Vorbild der Wiener Urania als Muster für den organisatorischen und pädagogischen Aufbau des Kulturfilmwesens gewählt.

Das Wiener Volksbildungshaus, das seit 1898 Filme für ihre kulturellen Zwecke verwendet und seit 1921 den großen dokumentarischen Kulturfilm (Geschichte, Völkerkunde, Entdeckungen) pflegt, zählt heute rund 60.000 Mitglieder und hat in den österreichischen Bundesländern 60 Uraniavereine ins Leben gerufen.

Dieses breite Betätigungsfeld ließ es günstig erscheinen, sich von dem rein merkantil betriebenen Verleihgeschäft unabhängig zu machen, eine eigene Filmleihabteilung zu gründen und ein reichhaltiges Filmarchiv anzulegen. Trotz geringer finanzieller Mittel ist es der tatkräftigen Bemühung des Leiters der Filmabteilung gelungen, das Filmarchiv soweit auszugestalten, daß es heute etwa 350.000 Meter an Lehr- und Kulturfilmen enthält, für die die Urania durchwegs das Alleinaufführungsrecht in Österreich besitzt.
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Mai 1928 - Europäische Lehrfilmkonferenz im Haag

Auf der zweiten Europäischen Lehrfilmkonferenz im Haag (Mai 1928) regte Professor Hübl in einem umfangreichen Referat die Schaffung eines internationalen Kulturfilminstituts an, das die praktische Förderung der Weltbildungsarbeit durch den Kulturfilm zum Zwecke hätte.

Der Referent umriß in einzelnen Punkten die Hauptaufgaben einer solchen internationalen Volksbildungsfilm- Kommission, die hier kurz angedeutet werden sollen:

  • 1. Schaffung eines Kataloges über vorhandenes und zuwachsendes Material aus allen Herstellungsländern;
  • 2. Herausgabe eines Mitteilungsblattes über Neuerscheinungen und Tätigkeit der Volksbildungsinstitutionen;
  • 3. Erlangung von Begünstigungen im Steuer-, Zoll-, Kontingent- und Transportwesen;
  • 4. Erwirkung von Prämien und Preisen;
  • 5. Erwirkung von Subventionen und Stiftungen;
  • 6. Archivierung dauernd wertvoller Negative;
  • 7. Pflege und Vertiefung der Verbindung mit dem Schulfilmwesen und mit dem wissenschaftlichen Forschungsfilm;
  • 8. Propaganda.


Wie klar ersichtlich, ist die Anregung wirklich wertvoll und könnte namentlich für den Geist einer Völkerverständigung von segensreichster Wirkung sein. Denn die Sprache des Films, besonders des Kulturfilms, ist, wie Professor Dr. Hübl schreibt, „die Weltsprache" und der Inhalt seiner Rede ist die Tatsächlichkeit.
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Jener Film von der Wanderung der Bachtiaren

Ob Franzose oder Engländer, ob Deutscher oder Italiener, jeder, der den Film jener persischen Nomaden, jenen Film von der Wanderung der Bachtiaren gesehen hat, empfindet dasselbe Mitgefühl mit den Nöten, mit den unerhört harten Lebensbedingungen dieses fernen, heimatlosen Volkes, denn die Bilder von seinen gefahrvollen und schrecklichen Wanderungen sprechen in einer gemeinverständlichen Sprache . . .".

Von Filmen wie diese Bachtiarenwanderung, Nanuk dem Eskimo oder Chang, dem König der Dschungels gehen aber nicht bloß belehrende, sondern auch absolut ästhetische, d. h. künstlerische Wirkungen aus; denn nicht allein unser Verstand, auch die Seele wird erregt und bringt unser Gefühl ins Mitschwingen. Der ideale Kulturfilm hält auch tatsächlich die Mitte zwischen reinem Lehrfilm und hochwertigem Spielfilm.
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Ein fließender Übergang vom Lehrfilm zum Spielfilm

Eine scharfe Grenze läßt sich freilich nicht ziehen, denn oft ist ein ausgesprochener Spielfilm einerseits oder ein Lehrfilm andererseits dieser Gattung von Kulturfilmen zuzuzählen.

Für erstere können beruhigt außer den „Nibelungen" und „Fridericus Rex" die Schwedenfilme („Gösta Berling", „Der Fuhrmann des Todes" usw.) angeführt werden; für letztere der Einstein- und Steinachfilm. Als unvergeßliches Beispiel eines solchen in der Mitte lagernden Films sei Dr. Arnold Fancks „Berg des Schicksals" erwähnt.

Im allgemeinen klassifizieren und rubrizieren wir nicht gerne. Aber wir wollen dem Leser eine kleine Hilfe bieten, sich über die verschiedenen Abarten des Films ein Bild zu machen.
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„Berlin, die Symphonie der Großstadt"

Den Abschnitt schließe die Betrachtung eines Filmwerkes, das eine gewisse Sonderstellung (einstweilen) einnimmt. Walter Ruttmanns „Berlin, die Symphonie der Großstadt" ist ein sogenannter „absoluter Film", d. h. er ist aus filmischen Elementen aufgebaut, die zu keinerlei andern Hilfsmitteln der Veranschaulichung greifen, als denen, die sich aus Rhythmus und Stimmungsinhalt von Bewegungen und aus deren Gegensatz zur Starre ergeben.

Keine literarische Handlung vergewaltigt den Ablauf eines mächtigen dynamischen Geschehens: des Erwachens einer Riesenstadt, ihres Treibens, Trubels und Pulsierens bis in die Nacht, die sich zum Tag umschaffen lassen muß. Hier sind neben künstlerischen Werten auch solche eminent volksbildnerischen Gehaltes geschaffen.

Der Bewohner der Kleinstadt und des Landes empfängt durch diesen Film den gewaltigen Eindruck eines Riesenorganismus, der wie ein Chaos anmutet, in seinen Einzelteilen aber doch aus zielbewußten Willensakten besteht.

Ähnliches hat vor einigen Jahren mit unzulänglicheren Mitteln der Film „New York" der Hamburg-Amerika-Linie zu lösen versucht. Dem Städter wird vielleicht diese Großstadtsymphonie nicht solch tiefen Eindruck machen, da er den gleichen Rhythmus unbewußt in sich hat und infolgedessen von der Wirkung des Kontrastes weniger berührt wird.
Dieser Film „Berlin" ist ein weiterer Fortschritt der Filmkunst. Er betritt Neuland. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sich das Laufbild nur nach dieser einen Richtung seiner Vollkommenheit nähert. Aber der „absolute Film" ist einer der vielen blühenden Äste dieses jungen, starken Kulturgewächses, das Film heißt, und zu dessen wichtigsten Früchten der Kulturfilm im weitesten Umfange gehört.
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