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Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)

Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.

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Kapitel 4
Buchstaben

Während ich langsam den Windeln entwuchs, geschah noch viel mehr in dieser Welt, doch ich nahm davon keinerlei Notiz. Ich begriff nur, daß ich außer meiner Mama einen Papa hatte und eine besonders liebe Julie, die sich Tag und Nacht um mich kümmerte.

Und dann war da noch ein blonder, etwa zehnjähriger Lümmel, der Rudi hieß und ab und zu mit seinem Freund an meinem Bettchen erschien, mich kopfschüttelnd musterte und mir den Nuckel aus dem Mund zog. Sein Freund und ständiger Begleiter hieß Hardi, ein riesiges Tier mit langen braunen und gelben Haaren.
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und dann war da noch Hardi

nicht Hardi, aber unsere Milly

Sein richtiger Name war Bern-HARDI-ner. Vor ihm hatte ich keine Angst, denn er legte jedesmal seine beiden Pfoten auf den Rand meines Bettchens, sah mich treuherzig an und leckte mir nach Hundeart zärtlich über das Gesicht.

Als Julie das einmal sah, fiel sie prompt in Ohnmacht. »Um Himmels willen, soll der Junge Würmer, Bazillen und Ungeziefer kriegen?«

Sie verbot Rudi, mein Zimmer noch einmal mit diesem >Hundevieh< zu betreten, und wusch mich dann, als hätte sie mich aus dem dicksten Dreck gezogen.

1903 - Angeblich fragte ich allen ein Loch in den Bauch

Kaum, daß mein kleiner Verstandeskasten zu arbeiten begann, plagte er mich und alle andern auch schon mit einer maßlosen Wißbegier. Die arme Julie hatte darunter vor allem zu leiden.
»Junge, du fragst einem aber auch ein Loch in den Bauch!«

Und was die Julie nicht wußte, das wußte bestimmt meine Mama, doch auch ihr wurde es zuweilen zuviel: »Ein Kind kann mehr fragen, als zehn Professoren beantworten können«, sagte sie einmal verzweifelt. Doch ich glaubte ihr das nicht und bohrte weiter.

Ich mußte lesen lernen - unbedingt

Dabei wurde mir schlagartig klar, woran es fehlte: Ich mußte lesen lernen, und das würde ich auch ohne die Hilfe ungeduldiger Erwachsener schaffen, denn über unserem Hotel standen fünf Buchstaben, und was die bedeuteten, wußte ich schon:

HOTEL

Außerdem gab es in unserem Hotelbereich auch noch ein paar andere Wörter, deren Bedeutung ich kannte, wie ZIMMER, TREPPE, SPEISEKARTE, BETT und KELLNER. - Das waren die Geheimschlüssel zu allem Wissen! Einer nach dem andern half mir weiter. Ich lernte neue Buchstaben kennen, und eines Tages gelang es mir sogar, ein Wort selber zu entziffern; ich wußte nur nicht, was es bedeutete: PERSONAL.


Ich baute mich in voller Körpergröße vor meiner Mutter auf und fragte: »Was ist ein Personal?«
Mama war etwas überrascht und sagte, das wären alle Leute, die für uns im Hotel arbeiteten. »Aber Junge, wie kommst du denn auf diese Frage?«

Die Stunde meines Triumphes

Das war die Stunde meines Triumphes. Ich wurde fünf Zentimeter größer und sagte: »Weil es auf der Tür da drüben steht.« Pause.

Mama kopfschüttelnd: »Zeit, daß du in die Schule kommst!«

Und dann gabs doch noch zwei Schwestern

Mein >großer Bruder< hatte seine eigene Welt, seine eigenen Freunde und war froh, wenn er sich um den >Knirps< und die mit wenig Abstand folgenden Schwestern nicht zu kümmern brauchte.

Verständlich, denn zehn Jahre sind in einem solchen Lebensabschnitt ein gewaltiger, kaum zu überbrückender Unterschied.

Mein Bruder klaut und bezieht Prügel

Eines Tages sah ich, daß er hinter dem Büffet Zigaretten stibitzte und heimlich rauchte, doch das merkte keiner. Wenn Gäste gegangen waren, die Liköre oder Süßwein getrunken hatten, stürzte er sich auf die Gläser und schlürfte die >Rötzje<. Bis mein Vater ihm schließlich doch auf die Schliche kam.

Das setzte dann eine so gehörige Tracht Prügel, daß ich aus lauter Mitgefühl ebenfalls heulte. Rudi schüttelte sich wie Hardi, wenn er aus dem Rhein kam, sah mich fassungslos an und fragte: »Hast du die Senge gekriegt oder ich?«

Auf diese Frage blieb ich ihm die Antwort schuldig und heulte weiter.
»Na, dann spiel hier auch nicht die Heulboje!« Diese Szene war für ihn und unser brüderliches Verhältnis so charakteristisch, daß ich sie mein Leben lang nicht vergessen konnte. Zehn Jahre Altersunterschied, das war einfach zuviel.
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Mama war eitel

Mama 1944 in Berlin

Mama fuhr ab und zu nach Bonn, um sich den schicksten Hut, ein paar Schleierchen, Puderpapier oder sogar ein neues Kleid zu kaufen, denn sie war eine eitle Person. Eine sehr eitle! Ich habe sie nie anders als völlig angezogen gesehen. Und ganz Königswinter muß sie wohl als eine Art Mannequin betrachtet und bewundert haben.

Das wußte und das wollte sie auch. Sie ließ deshalb kein sonntägliches Hochamt vergehen, ohne sich von ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern bei dieser frommen Übung bewundern zu lassen.

Mich nahm sie manchmal mit nach Bonn, um mich ebenfalls besonders nett auszustaffieren. Etwas von diesem Modebewußtsein muß wohl bei mir hängengeblieben sein ...

Der erste Band von Grimms Märchen

Eines Tages brachte mir Mama aus Bonn ein kleines, in hellblaues Leinen gebundenes Buch des Reclam-Verlages mit, um mir daraus vorzulesen. Es war der erste Band einer Serie mit Grimms, Hauffs und Andersens Märchen.

Leider hatte Mama nur nachmittags Zeit zum Vorlesen, wenn die Gäste das Restaurant verlassen und die Kellner aufgeräumt hatten. Dann holte sie sich hinter der Theke ein Gläschen Vanillelikör und ein Zigarettchen, setzte sich mit mir an eines der großen Fenster mit Blick auf den Rhein und las mir ein Stück aus dem himmelblauen Bändchen vor, bis der Betrieb sie wieder in Anspruch nahm.

1904 - Die bittere Qual der abgebrochenen Geschichte

Damals lernte ich die bittere Qual kennen, wenn eine spannende Geschichte mittendrin abgebrochen wird. Mama tröstete mich jedesmal mit dem Versprechen, mir am nächsten Tag weiter vorzulesen. Sie sagte zwar nicht, was ich viele Jahre später wohl tausendmal geschrieben habe: >Fortsetzung folgt<, es kam aber auf dasselbe hinaus ...

Ich machte alleine weiter - lesen lernen

Allein gelassen mit meinem Märchenbuch, blätterte ich verzweifelt darin herum, und manchmal gelang es mir sogar, das eine oder andere Wort zu lesen, obwohl die Buchstaben etwas anders aussahen und manche seltsamerweise größer oder kleiner gedruckt waren.

Was bei diesen Leseübungen mit der Zeit geschah, war fast ein kleines Wunder: Ich lernte lesen! Es ging zwar nur ganz langsam, und ich blieb oft bei einem Wort hängen, aber die Möglichkeit, nun eines Tages selber alles lesen zu können, war doch zu verlockend ...

und jetzt sollte ich vorlesen - meiner Schwester

Nun quälte mich meine etwa zwei Jahre jüngere Schwester, ihr und ihrer großen Puppe Paula mit den Schlafaugen etwas aus dem himmelblauen Märchenbuch vorzulesen.

Das tat ich auch — wenn ich gerade gnädig gestimmt war —, so gut oder schlecht ich konnte. Und wenn ich an einem Wort oder gar an einem Satz festhing und nicht nur ihre Augen, sondern auch die großen Schlafaugen Paulas gespannt an meinen Lippen hingen, dann trat der Versucher an mich heran, und ich las ihr vor, was nirgendwo geschrieben stand.

Und schreiben?

Kaum daß ich schlecht und recht lesen konnte, fing ich an zu
schreiben. Genauer gesagt, das Wort HOTEL so aufzuschreiben, wie es am Hotel zu lesen war. Ich hoffte, meiner Mama damit imponieren zu können, mußte mir aber die enttäuschende Wahrheit anhören, daß das Schreiben eine große Kunst und nur schwer zu erlernen sei. (Das habe ich damals aber nicht geglaubt. Jetzt glaub ich's...)

Zwei Tage später schrieb ich schon ZIMMER. So schwer konnte das doch nicht sein! Ich quälte mich, und Mama und wollte es nicht wahrhaben. Vor allem eines nicht: daß die so schönen klaren Druckbuchstaben geschrieben ganz anders aussehen sollten.

1905 - Ich wollte nicht auf die Schule warten

»Kind, warte doch, bis du in die Schule kommst!«

Doch das wollte ich nicht. Und so erreichte ich nach endlosem Quengeln, daß Mama mir eines Nachmittags verriet, nach welchem Zauberspruch ein i geschrieben wurde: »Auf, ab, auf - Pünktchen obendrauf.«
Na, das war doch was! Und ein n? Und ein m? Und ein e? Aha, nun kann ich schon >in< und >im< und >innen< schreiben. »Dann schreib mal >in<!«

Ich schrieb zunächst das i und hängte dann an das Ende den Aufstrich des n. Ergebnis: Die Buchstaben wanderten immer höher, die Zeilen also auch.
Das Wörtchen >innen< mußte ich also in der linken unteren Ecke beginnen. Es endete dann vier Zeilen höher.
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Und Papa schimpfte

Papa sah zufällig meine Schreibversuche. Er nannte sie Schraffurschrift und wurde schrecklich böse. Weniger mit mir als mit Mama, der er bei dieser Gelegenheit wieder einmal vorwarf, sie wolle aus mir einen Wunderknaben machen.

Tränen. Mama weinte, ich weinte, und Papa schimpfte um so lauter, je mehr wir weinten. Es war ganz schrecklich. Ein Glück, daß niemand mehr im Restaurant saß.

Papa verbot mir weitere >Verrücktheiten< dieser Art und sagte, was Mama schon lange vorher gesagt hatte: »Wird Zeit, daß du in die Schule kommst!«
Das fand ich auch.

Lesen und Vorlesen von Märchen

Ich übte mich bis dahin im Lesen und Vorlesen von Märchen. Rudi dagegen las heimlich Groschenhefte, die von lebensgefährlichen Abenteuern erzählten, von Seefahrern und Seeräubern, von geheimnisvollen Inseln mit Krokodilen und Schlangen, Piraten und Negern. Eines seiner Lieblingsbücher hieß Onkel Toms Hütte und ein anderes Robinson Crusoe. Die beiden Bücher habe ich zwei Jahre später auch gelesen.

Papa machte Fehler und es gab einen Riesenkrach

Papa, der mit Geld großzügig umging, übernahm eines Tages trotz verzweifelter Warnungen meiner Mutter eine gefährlich hohe Bürgschaft für seinen recht windigen Jugendfreund Clemens und seine wirklichkeitsfernen Pläne. - Der Wechsel platzte.

Man hielt sich an Papa, und der an Opa. Der rückte zwar nach einem Riesenkrach heraus, was wohl oder übel herausgerückt werden mußte, verlor aber nach diesem schweren Schlag jede Spur von Vertrauen in seinen Sohn.

Papa konnte seinen folgenschweren Fehler nur mit menschlichen Argumenten verteidigen. Doch die waren wenig stichhaltig, denn sein Freund Clemens galt von jeher als Luftikus, und diese Freundschaft der beiden war dem Großvater schon immer ein Dorn im Auge gewesen.

Unser Umzug ins Hotel in Beuel

Er nannte Papa in einem Wutanfall einen Bankrotteur und entzog ihm jedes Verfügungsrecht über das Hotel. Mama war verzweifelt und versuchte ihn umzustimmen, doch selbst sie erreichte nicht mehr als das Versprechen, sie und die Kinder nötigenfalls zu unterstützen.

Papa bemühte sich, ein Hotel in Bonn oder Beuel zu pachten, und hatte Glück. Ein bildschönes, gut gelegenes Hotel in Beuel war durch den Tod des früheren Pächters frei geworden. - Wir zogen um. Damit begann eine neue und in mancher Hinsicht sogar glücklichere Zeit.
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