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Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)

Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.

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Kapitel 59
Schmerzlicher Abschied von Berlin

Ich hatte Erfolge; auch unter den Nazis konnte ich meine unpolitische Arbeit fortsetzen, aber mit meinen Erfolgen wuchs auch die Zahl meiner heimlichen Neider. Nicht in den Redaktionen; dort hatte ich nur Freunde. Wohl aber in dem seltsamen Umfeld zwischen der Direktion und den Redaktionen. Dort, wo jene Männer saßen, die allgemein als Drohnen betrachtet wurden und die es zum Teil auch waren.
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Die Drohnen in den Redaktionen

Sie versuchten immer wieder, auf die Redaktionen Einfluß zu nehmen, prallten dort aber regelmäßig ab. Zwar hatten sie eigentlich nichts zu sagen, aber sie sagten und flüsterten dafür um so mehr. Intriganten, die manchem tüchtigen Redakteur das Leben schwergemacht haben.

Da gab es Leute, die sich maßlos ärgerten, daß ich nicht eingezogen wurde, und einer dieser Herren - Spottname >Wasserleiche< - ließ mir eines Tages ausrichten, er erwarte mich am nächsten Vormittag um Zehn zu einem wichtigen Gespräch.

Ich hatte mit dem Menschen nichts zu besprechen, aber wichtige andere Arbeiten zu erledigen, und ließ ihm sagen, ich sei zu meinem Bedauern außerstande, seiner freundlichen Einladung zu folgen.

Es gab ihn auch bei uns in der Redaktion, den "Heldenklau"

Darauf seine Sekretärin in unheilschwangerem Ton: »Herr Rhein, es geht um Ihre UK-Stellung!«

»Oho, macht Ihr hoher Herr jetzt den Heldenklau?«

Heldenklau nannte man um diese Zeit jene Nazis, die die Betriebe durchsiebten, um auch den letzten noch greifbaren Mann für Hitlers verlorene Sache zu entdecken.

»Wenn Sie das so zu nennen belieben...«
»Ich beliebe. Antwort - betrifft mich nicht.«
Nun erschien der Heldenklau selber am Telefon. Seine Stimme verriet Wut: »Dann werden wir Sie freistellen müssen.«
»Prima Idee. Das tun Sie man, denn Sie brauchen nicht zu fürchten, daß der Verlag mich dann verliert. Mein Gehalt wird eingespart, dafür kriege ich dann aber als freier Mitarbeiter für dieselbe Arbeit höhere Honorare.«
»Das ist mir zu hoch!«

»Dann muß ich Ihnen wohl sagen, daß ich schon seit langem für das Luftfahrtministerium an einer streng geheimen Entwicklung arbeite. Aber wenn ich morgen im Ministerium bin, will ich die Herren gerne fragen, was sie von Ihrem Plan halten. Nötigenfalls kann ich hier auch noch in der Uniform eines Schmalspuroffiziers erscheinen.«
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Er machte einen Rückzieher. Das Gespräch war beendet.
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Ein aufsehenerregender Aufsatz : >Kaltes Licht<

Zu seiner Überraschung erschien dann einige Zeit später noch in der vorletzten Nummer der ILLUS ein aufsehenerregender Aufsatz von mir. Überschrift: >Kaltes Licht<.

Ich berichtete darin über eine sensationelle neue Lichtquelle, die man bei uns erfunden hatte, im Krieg aber nicht herstellen konnte. Inzwischen hatte sie in den USA einen wahren Siegeszug angetreten: die Leuchtstoffröhre. Bei uns wird sie meist fälschlich als Neonröhre bezeichnet, obwohl sie nicht mit dem quittegelb strahlenden Neongas gefüllt ist, sondern mit Quecksilberdampf, dessen unsichtbare Strahlen erst auf der weißen Leuchtstoffschicht in sichtbares Licht verwandelt werden.

Die Spinnerei vom unerschütterlichen Siegeswillen

Mit dem dann folgenden Heft stellte die BERLINER ILLUSTRIRTE, die nach dem Krieg auf unseren neuen Druckwerken im Vierfarben-Druck erscheinen sollte, ihr Erscheinen ein ...

Indessen wichen unsere Armeen immer weiter zurück. Aber Hitler faselte nach wie vor von dem unerschütterlichen Siegeswillen< des deutschen Volkes und dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Gegner.

Selbst der mißglückte Anschlag auf sein Leben brachte ihn nicht zur Besinnung. Er verstieg sich sogar zu dem Ausspruch, ein Volk, das nicht bereit sei, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, sei nicht wert, vor der Geschichte weiter zu bestehen.

Schon hörten wir den Donner der Kanonen

Die Russen, von denen man sich in Berlin entsetzliche Greueltaten erzählte, kamen immer näher. Schon hörten wir in stillen Nächten den Donner der Kanonen. In dieser Lage verlangte das RLM, daß mein Labor aus der Gefahrenzone nach Bad Sachsa geschafft würde.

Man stellte mir ein Dutzend verschließbare Kisten und genügend Soldaten als Packer zur Verfügung und erlaubte mir, darin auch Privatsachen unterzubringen.

Ich war mir darüber klar, daß das ein Abschied von Berlin sein würde, vielleicht sogar ein Abschied für immer. Und daß ich wahrscheinlich alles verlieren würde, was ich nicht mitnehmen konnte.

Vor allem mußte ich auch mein Geld abheben - und das Manuskript meines zu Dreiviertel fertigen Buches >Du und Dein Körper< retten.

Was sollte ich mitnehmen ?

Doch je mehr ich darüber nachdachte, um so sinnloser schien es mir, aus den vielen liebgewordenen Dingen meiner Welt eine lächerlich kleine Auswahl zu treffen. Vielleicht sollte ich vor allem das Manuskript und meine Remington Noiseless retten, das Handwerkszeug für eine ungewisse Zukunft. Und eine wertvolle Stainer-Geige. Oder ob ich sie nicht besser in den Geldschrank legte? Und dann noch...

Ich gab es auf, denn ein Kriegsende hatte ich schon erlebt und das, was dann gekommen war, in schrecklicher Erinnerung. In diesen Stunden war alles Planen sinnlos.

Mutter und Schwester sollten auch verschwinden

Ich sagte Mutter und Schwester, sie könnten den freien Raum mit ihren Sachen füllen, und verschloß dann die Kisten. Ein nötiger Schlußstrich war gezogen.

Um die zum Teil sehr wertvollen Bücher meiner großen Bibliothek zu retten, ließ ich sie im Nachbarhaus unter den Treppen einmauern.

Und ich wollte Bargeld - ich wußte schon warum

Schließlich ging ich zu meiner Bank. »Nein, soviel Geld haben wir nie in unseren Filialen. Wir können Ihnen bestenfalls in zwei Tagen 50 000 Mark von der Zentrale beschaffen. Aber weshalb wollen Sie denn das Geld abheben? Das ist doch in solchen Zeiten bei einer Bank am sichersten aufgehoben.«

»Können Sie mir denn nicht wenigstens 500.000 Mark beschaffen?« Zwei Tage später gab er mir 250.000 Mark - einen Teil dessen, was sich in zwanzig Jahren harter Arbeit angesammelt hatte.

»Die noch aufzutreiben war schwer genug«, sagte der Direktor. 250.000 Mark, wie schnell sich das so hinschreibt! Aber das waren eben noch Mark! Gewiß, ich hatte im Krieg für ein Pfund gemahlenen, mit Kaffeesatz vermischten holländischen Kaffee 500 Mark gezahlt - Kaffee war damals wie heute für mich ein lebensnotwendiges Medikament.
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Das letzte Aufgebot

Obwohl die Russen nun schon unmittelbar vor Berlin standen, rief Hitler halbwüchsige Jungen zum Widerstand auf. Sie wurden bewaffnet und sollten dem Feind als >Werwölfe< Widerstand leisten ...

Mir überbrachte unser Blockwart den schriftlichen Führerbefehl, mich am nächsten Morgen zum Volkssturm einzufinden. Ich meldete dem RLM, daß alles zum Abtransport vorbereitet sei, und erhielt die Weisung zum sofortigen Abmarsch.

Am nächsten Morgen um sieben fuhr der Lastwagen der Wehrmacht vor. Die Kisten wurden in wenigen Minuten aufgeladen, und eine Sitzecke für meine Mutter und meine Schwester war freigehalten.

Da erschien der Blockwart in letzter Minute und protestierte gegen meine Abreise, doch der Marschbefehl des Ministeriums verschlug ihm den Atem. Erst als der schwerbeladene Wagen sich in Bewegung setzte, atmeten wir auf.
Die 200 Kilometer lange Fahrt in südwestlicher Richtung begann ...

Kapitel 60
Nachkriegszeit

In Bad Sachsa hatte Dr. Kühle nach Absprache mit dem RLM schon für unsere Unterkunft gesorgt. Er und sein Stab wohnten in >Gelpkes Mühle<, und dort hatte er auch für uns zwei Zimmer frei gemacht.

Von hier aus führten zahlreich freiverlegte Telefonleitungen direkt nach dem nahen Nordhausen, wo in einem gut getarnten, gigantisch ausgebauten unterirdischen Salzbergwerk die V2 zusammengesetzt wurde. Andere Leitungen führten direkt zu ihren Einsatzpunkten im Norden der Westfront.

Hoffnungslos - sie wußten es alle

»Die Lage hat sich in den letzten Tagen so dramatisch zugespitzt«, sagte er, »daß Sie bestimmt nicht mehr dazu kommen werden, hier ein Laboratorium aufzumachen. Wir werden schon in wenigen Tagen abrücken. Sie können hierbleiben und in Ruhe ihre Heimreise vorbereiten.«

Und alle erwarteten die Amerikaner

Die Kisten schafften die Soldaten in das nahe gelegene Dörfchen Hohegeis und dort in eine einsam stehende, halbverfallene Villa, in der es nach Moder und Spinngewebe roch. Ein Hexenhaus.

Kühle nahm an, die Amerikaner würden so schnell wie möglich nach Nordhausen vorstoßen, um sich das V2-Werk zu sichern, ehe es in die Hände der Russen fiel. Er setzte sich deshalb schon zwei Tage später mit seinen Offizieren ab. Ich riß schleunigst die an der Hausfront bündelweise von Fenster zu Fenster führenden Telefonleitungen ab, um nicht unnötig auf das Haus als ehemalige Kommandostelle aufmerksam zu machen.

Dann kamen die Amerikaner

Mir war klar, daß auch wir uns so schnell wie möglich westwärts bewegen mußten. Die Möglichkeiten zu entkommen waren angesichts der von beiden Seiten anrückenden Siegertruppen äußerst beschränkt. Wer würde uns als erster erreichen? Vor den als etwas seltsam, aber im Grunde gutmütig geschilderten Amis hatte man keine Angst, wohl aber vor den Russen. Endlich wurde vom Bürgermeister der Stadt verkündet, Bad Sachsa würde von den Amerikanern besetzt.

Und das ging dann sehr plötzlich.

Das schöne Haus, in dem wir wohnten, hatte nicht nur Dr. Kühle und seinem Stab gefallen, auch der Chef der anrückenden Amerikaner belegte es sofort und ließ uns auffordern, das Feld zu räumen.

Ich bat um eine Unterredung und sagte ihm, daß mein in Jonesboro lebender Bruder Amerikaner sei und daß wir so schnell wie möglich weiter nach Westen wollten. Ich könne aber nicht annehmen, daß er uns Hals über Kopf auf die regennasse Straße setzen wolle, denn ein anderes Quartier zu finden sei unmöglich.

Er war zunächst etwas brummig und rief ein paar seiner Offiziere herein. Es gab ein scharfes, aber kurzes Verhör, in dem ich alle Fragen zügig beantworten konnte. Ergebnis: Wir dürften noch einige Tage bleiben.

Mutter und Schwester sollten nach Königswinter fahren

Ich brachte am selben Abend Mutter und Schwester zur Bahn. Sie war überfüllt, verkehrte aber noch. Man versicherte mir, sie könnten ihre Reise nach Königswinter ohne allzu große Zwischenaufenthalte antreten.

Dann fuhr ich sofort nach Hohegeis, um mich um meine Kisten zu kümmern. Als ich das Hexenhaus mit dem Spediteur betrat, mußte ich zu meinem Schrecken feststellen, daß der größte Teil der Kisten aufgebrochen worden war. Was ich am wenigsten verschmerzen konnte und was für alle andern doch völlig wertlos war, fand ich trotz verzweifelten Suchens nicht: das Manuskript. Außerdem fehlte natürlich die Noiseless.

Ich wollte nun die übriggebliebenen zum Teil herumliegenden Sachen wieder verpacken, obwohl ich dazu kaum noch die Kraft fand, doch der praktische Spediteur sagte, dazu sei jetzt nicht mehr Zeit. Er sei bereit, die Kisten neu zu verschließen und bei der Bahn nach Königswinter aufzugeben.

Meine Contarex von Zeiss-Ikon - ein Tauschobjekt

Neue Sorgen: Kurz vor dem Krieg hatte ich mir die damals weltberühmte Contarex von Zeiss-Ikon gekauft, und zwar die komplette Ausrüstung mit einem ganzen Satz der besten Objektive vom 19mm-Weitwinkel bis zum Olympia-Sonar mit 50cm Brennweite. Den Koffer hatte ich in meinem mittelgroßen Reisekoffer mitgebracht und dann unter dem Dachfirst versteckt. Er war noch da; ein wertvolles Tauschobjekt.

Der Rest verbrannte

Kühle hatte mir vor seiner Abreise eine genaue Beschreibung der V2 - ein rotes Buch in halber Briefbogengröße mit dem charakteristischen gelben Warnstreifen: >Geheime Kommandosache < - zugesteckt. Das Buch hatte ich - halb aus Angst - in der nicht benutzten Zentralheizung unter der Asche versteckt. Viele Tore hätte ich mir damit öffnen können... Doch während meiner Abwesenheit hatten sich die Offiziere Badewasser bestellt. Die Geheime Kommandosache war ein Flammenfraß geworden.

Kapitel 61
Richtung Heimat
So ein Bruder in Amerika ist wertvoll

Ich schnürte schon am nächsten Morgen mein Bündel und ging zum Kommandanten, um mich zu verabschieden. Er bat um die Adresse meines Bruders und stellte mir spontan einen >Paß< aus, der besagte, daß ich mich auf der Heimreise nach Königswinter befände und nicht zu behindern sei. Ein unerwartetes, wertvolles Abschiedsgeschenk.
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Es fuhren fast keine Züge mehr

Am Bahnhof von Bad Sachsa erfuhr ich zu meinem Schrecken, daß der Personenverkehr wegen der turbulenten Verhältnisse inzwischen eingestellt sei. Ich müsse also versuchen, auf andere Weise bis nach Göttingen zu kommen. Der Bürgermeister der Stadt stellte die Verbindung zu einem fahrbereiten ehemaligen Taxibesitzer her. Als er kam, goß es in Strömen.

Stundenlanges Warten in Göttingen

Göttingen. Stundenlanges Warten zwischen Hunderten von Flüchtlingen, die alle nach Westen wollen. Mutlosigkeit, Enttäuschung, Verzweiflung auf allen Gesichtern.
»Gibt es einen Zug nach Köln?«
»Nein, aber nach Kassel - dann müssen Sie weitersehen.«
Kassel - ein überfüllter Bahnhof. Ich frage herum: »Wie komme ich nach Köln?«
»Nach Köln? Wissen Sie denn nicht, daß die Nazis die Brücke gesprengt haben?«
»Die Nazis? Um Himmels willen!«
»Morgen früh geht ein Zug nach Dortmund - nehmen Sie den mal erst, und dann ...«
Eine schlaflose Nacht zwischen Trümmern und unruhig hin und her laufenden Menschen. Weinende Kinder. Hilflose Frauen. Fluchende Männer ...

Ein Zug nach Dortmund

Am nächsten Morgen geht ein Zug nach Dortmund. Dort wieder aussteigen und ratlos herumfragen, herumstehen und warten. Eine Frau schreit: »Wo ist mein Koffer? Man hat mir meinen Koffer gestohlen!« Keiner kümmert sich um sie ... Schwestern mit Rotkreuzbinden kommen mit Kannen und Pappbechern und geben Kaffee aus. Und wieder warten ...

So geht das streckenweise weiter. Endlich Deutz, gegenüber Köln. Die große Brücke ein Trümmerhaufen. Nach drei qualvollen Tagen und zwei schlaflosen Nächten schließlich ein Bummelzug von Deutz über Königswinter nach irgendwohin. Ich bin zum Umfallen müde. Kein Sitzplatz. Ich halte mich mit aller Kraft aufrecht. Die letzte Strecke scheint kein Ende zu nehmen. Egal, wenn's nur weitergeht! Oberkassel, Dollendorf, Königswinter. Am Ziel!

Kein bekanntes Gesicht.

Ich bin der einzige, der aussteigt. Jetzt könnte ich den tausendmal gegangenen Weg längs der Eisenbahn nehmen, aber alles in mir sträubt sich dagegen. Es könnte aussehen, als schämte ich mich meiner Erbärmlichkeit. Nein: Ich werde über die Hauptstraße mitten durch das Städtchen gehen.
Fremde. Kein bekanntes Gesicht. Nur einmal eine abgehärmte Frau, die mich mit weitoffenen Augen anstarrt: »De Edi? Bis du net de Rheins Edi?« Ich kenne die Frau nicht und versuche ein freundliches Lächeln. »Kennste mich denn net mie? Ich ben et Fien.« Et Fien, nur noch ein Name, eine längst verblaßte Erinnerung an ein temperamentvoll-williges, frühreifes Mädchen.
»Natürlich!« stammle ich verlegen. »Et Fien!« und quäle mich weiter.

Der verlorene Sohn kehrt heim.

Ein Vierteljahrhundert, nachdem er das heimische Nest auf der Suche nach Ruhm und Reichtum verlassen hat. Vertraute Wege und Winkel, aber keine Menschen, die ich kenne. Trümmer auf zerstörten Straßen. Das Elternhaus ist nur wenig beschädigt. Das Dach notdürftig ausgebessert.

Mutter und Schwester sind wohlauf und betriebsam; sie haben nur eine Nacht auf einem fremden Bahnhof zubringen müssen. Zu Hause. Aber das Haus wirkt bedrückend. Im Obergeschoß Flüchtlinge, Ausgebombte... Man verträgt sich, behilft sich, so gut es geht.
Habe ich hier einmal gelebt und mich wohl gefühlt? Nun scheint mir alles so eng und mit Möbeln überfüllt.

Ich kann von Erschöpfung und Mutlosigkeit kaum sprechen. Eine warme Suppe, dann ein Bad und gleich ins Bett. Ich schlafe fast achtzehn Stunden ...

Wo bin ich?

Es ist in den ersten Sekunden schwer, sich in dem verdunkelten Schlafzimmer zurechtzufinden. Nur durch einen Spalt in der Rolljalousie fällt ein bißchen Licht ins Zimmer.

Von irgendwoher klingen von Zeit zu Zeit immer wieder, ganz leise, aber scharf rhythmisiert, die letzten acht Takte des Liedchens von der Pont dAvignon herein. Eine heitere Kennungs-melodie der französischen Besatzer?
Die Amerikaner haben damals ihren Yankee-doodle in den Äther posaunt und die Engländer ihr: >It's a long way to Tipperary .. .< - Nicht etwa Nationalhymnen ...

Nun liegt eine Welt in Trümmern

Die kleinen Melodiefetzen wirken beinahe wie eine Erlösung nach der Brutalität des Krieges. Nun liegt eine Welt in Trümmern. Nicht nur unsere Welt, auch die ihre.
Wir können sie gemeinsam wieder aufbauen - die zerstörten Städte und die verlorenen Träume von einer besseren Welt. Aber wir können nicht einen jener 150 Millionen Toten in unser Leben zurückholen.

Der Krieg ist zu Ende

Der Krieg ist zu Ende, aber nicht das Elend, das er - genau wie der vorige Krieg - hinter sich herschleppt mit wachsender Geldentwertung und nagender Sorge um das tägliche Brot.

Der große eigene Garten mit dem schon lange zum Kartoffelfeld zweckentfremdeten Rasen, mit einem echten Hühnerhof, hundert Obstbäumen und - Suppengrün mindert diese Sorgen ein wenig.

Im Haus ist vieles zu reparieren, vor allem das nur notdürftig geflickte Dach. Ich bin immer ein guter und sauberer Handwerker gewesen und werde gewiß ein paar Leute finden, die mir helfen. Es gibt viel zu tun, und ich bin froh, etwas tun zu dürfen.

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