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Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)

Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.

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Kapitel 55
Erfindung oder Trugschluß

Die Schallplattentechnik hat die vom Rundfunk so bereitwillig servierte Mikrofon- und Verstärkertechnik zwar freudig übernommen und damit großartige Fortschritte erzielt, sich aber von neuen Ideen und Denkanstößen nur widerwillig beeinflussen lassen, mochten auch ein paar Phantasten von der Möglichkeit träumen, Sprache und Musik auf Stahldrähte und Stahlbänder magnetisch aufzuzeichnen und wieder zu löschen.

Auch Musik auf Zelluloidbändern konnte nicht begeistern

Selbst als ein Erfinder Sprache und Musik statt auf ihre Schallplatten auf Zelluloidbänder praktizierte und diese dann als Musikkassetten auf den Markt bringen wollte, blieben sie gelassen.

Ein Erfinder (Nachtrag: Es war vermutlich Dr. Daniel)

Der Erfinder hatte sich damals an die Direktion von Loewe-Radio gewandt und ihr seine >umwälzende Idee< angeboten.

Er tat dabei sehr geheimnisvoll. Er sagte nur, es handle sich um eine neue sensationelle Technik, bei der anstelle der zerbrechlichen Schallplatte ein dünnes Filmband als Träger benutzt würde.
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  • Anmerkung : Nach dem 2. Weltkrieg Krieg hatte Dr. Daniel diese Erfindung als "Tefifon" herausgebracht und bis 1960 erstaunliche Erfolge erzielt. Dann war die Zeit vorbei, die neue 33er Langspielplatte hatte das Tefifon komplett verdrängt.

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Alles war sehr geheimnisvoll

Da mit dieser Andeutung so gut wie nichts anzufangen war, bat man ihn, zu der gewünschten Besprechung ein Mustergerät mitzubringen. Das lehnte er aber zunächst noch ab. Aus seiner Patentschrift sei alles überzeugend zu erkennen und zu beurteilen. Im übrigen sei das ganze Verfahren verblüffend einfach. Da der technische Direktor des Werkes im Krankenhaus lag, also nur der Kaufmann und der Jurist verfügbar waren, bat man mich, an der Besprechung teilzunehmen.

Es war aber nur eine Patentanmeldung, also darum

Die angebotene Patentschrift< war nur eine Patentanmeldung. Ein Patent anmelden, das heißt beantragen kann man für alles; die Frage ist nur, ob der Gegenstand soviel Neuigkeitswert hat, daß man es auch bekommt.

Damit seine Verhandlungen mit der Firma nicht bekannt würden, wollte der Erfinder nicht in der Fabrik erscheinen. Der kaufmännische Direktor lud ihn deshalb in sein Privathaus.

Dort offenbarte er uns, daß er Sprache und Musik direkt in das Zelluloidband gravieren wolle.

Die Rillen in einen flachen Gelatinepudding ritzen

Ich sagte: »Von Schallplatten verstehe ich zwar nichts, aber wenn wir uns das vergrößert vorstellen, ist das wohl so, als ob Sie Ihren Namen in einen flachen Gelatinepudding schreiben?« Er nickte zustimmend.

»Hinterher werden Sie dann allerdings feststellen«, fuhr ich fort, »daß er nicht dem gewohnten Bild Ihrer Unterschrift entspricht, denn die Gelatineschicht hat beim Schreiben nachgegeben. - Auf Ihre Idee übertragen hieße das: Auch der elastische Film wird kein korrektes Tonbild enthalten, sondern nur ein mehr oder weniger verzerrtes Abbild. Das Band, in das Sie den Ton gravieren wollen, darf also nicht aus einer elastischen Masse bestehen. An was für ein Material haben Sie denn gedacht?«

Also, lassen Sie sich sagen . . . .

Die beiden Loewe-Direktoren sahen mich entgeistert an. Der Erfinder war blaß geworden: »Aber das ist doch ... Man merkt, daß Sie über den Stand der Schallplattentechnik nicht im Bilde sind! Also, lassen Sie sich sagen«, er wandte sich an die beiden Loewe-Herren: »Was die Wiedergabe meiner Apparatur angeht ... also davon kann sich sogar die >Stimme seines Herrn< noch eine Scheibe abschneiden!«

»Schade, daß Sie uns das hier nicht vorführen können«, warf ich ein, »denn ...«
»Das Modell ist momentan in Dauererprobung«, unterbrach er mich unwillig.
»... denn«, fuhr ich unbeirrt fort, »gerade wegen dieser Verzerrungsgefahr werden die Schallplattenaufnahmen zunächst auf etwa fünf Zentimeter dicke Wachsplatten geschnitten - oder neuerdings auf Metallscheiben, die mit einer sehr dünnen unelastischen Spezialschicht belegt sind.« - Die beiden Direktoren sahen mich fragend an.

Die Stille wurde peinlich - dann wurde es lebhaft

Der Mann mit dem neuen Verfahren machte eine wegwerfende Handbewegung: »Die arbeiten doch alle noch mit ihren veralteten Maschinen. Diese Uralttechnik gehört - wie jeder Fachmann weiß - schon längst in den Mülleimer! Aber mein Verfahren macht mit diesem faulen Zauber radikal Schluß. Ein für allemal Schluß!« ereiferte er sich. »Das ist es ja gerade!« - Ich war anderer Ansicht und sagte ihm das, doch meine Einwände brachten ihn nur noch mehr auf.
»Die ganze Schallplattentechnik ist ein alter Eimer! Da ist nichts mehr drin! Die ist ausentwickelt - wenn Sie überhaupt wissen, was das heißt. Aus, aus, aus!«
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Und jetzt wurde es sehr laut . . .

Jetzt platzte mir der Kragen. Wir wurden laut... Das war mir zwar peinlich, aber ich konnte wieder mal den Mund nicht halten.
»Ausentwickelt? Das glauben Sie doch selber nicht. Sehen Sie sich doch nur mal den vielen Raum an, der auf jeder Platte verschwendet wird. Da braucht nur ein vernünftiger Techniker zu kommen, und die Spielzeit läßt sich glatt verdoppeln.« Wie unüberlegt von mir! Wenn man erregt ist, sollte man schweigen können. Ich konnte es nie.

Und dann wurde es persönlich

»Großartig! - Auf Sie hat die Schallplattenindustrie der ganzen Welt nur gewartet. Die sucht seit Jahrzehnten verzweifelt nach neuen Möglichkeiten und ist ja auch nicht auf den Kopf gefallen. Also zeigen Sie den Leuten, daß Sie so was so souverän hinwerfen, wie Sie uns das hier so ... Na ja, die Leute von der Presse nehmen den Mund eben gern ein bißchen voll.«
Das saß!
»Vielen Dank für Ihre Belehrung!« entgegnete ich scheinheilig und ging.

Ich war wütend und wurde auch noch richtig nass

Das gastliche Haus, in das man den Erfinder gebeten hatte, lag im Westen Berlins ziemlich einsam. Zehn Minuten bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle auf freiem Feld. Ich war wütend. Über den frechen Kerl und über mein verwegenes Gerede. Da war ich zu weit gegangen.

Und auf dem Weg zur Straßenbahn leider auch etwas zu langsam; die Bahn fuhr mir vor der Nase weg. Um diese Zeit hieß das - zwanzig Minuten warten.
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Diese zwanzig Minuten hätten heilsam sein können, wenn nicht zu allem Überfluß auch noch ein wuchtiger Platzregen über mich hergefallen wäre.

Mein silbergrauer Anzug saugte den Regen auf wie ein Schwamm. Es lief mir oben beim Kragen herein und unten bei den Schuhen wieder hinaus. Ich schnatterte vor Kälte. In der Straßenbahn verlangte man, daß ich auf dem Perron stehen blieb, weil es an mir nur so herunterlief.

Zu Hause zog ich mich gleich in der Badewanne aus. Ein heißes Bad, ein heißer Tee, dann ins Bett.
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Ich sah nur noch geschlängelte Tonrillen auf mich zukommen

Aber kein Schlaf. War es die Wut, das heiße Bad, der Tee? Oder alles zusammen? Es war jedenfalls mehr als genug. Immer wieder sah ich geschlängelte Tonrillen auf mich zukommen.

Wie sahen die Rillen wirklich aus ?

Ich stand auf, nahm eine Lupe und besah mir eine Schallplatte mal genauer. Alle Rillen waren mit gleichem Abstand geschnitten; ihn hatte man so bemessen, daß auch die größte Lautstärke mit ihren nach links und rechts weit ausschlagenden Wellenlinien noch Platz fand.

Aber da sah ich auch etwas, was bisher anscheinend überall unbeachtet geblieben war oder das man wie ein Naturereignis einfach hingenommen hatte: nämlich, daß die größte Lautstärke nur äußerst selten vorkam, also Platz verschwendet wurde.

Oha - hier war ein Ansatzpunkt.

Ich begann zu überlegen, zu rechnen. Ich konnte tagelang nichts anderes denken. Und dann meldete ich in kürzester Zeit zahlreiche Patentansprüche an. Später nicht mehr einen einzigen - so gründlich hatte ich damals in wenigen Tagen alles durchdacht.

Doch je tiefer ich mich in diese Sache hineinkniete, um so komplizierter zeigte sich die Lösung, die ich mir so einfach vorgestellt hatte.

Wo Elektrizität und Mechanik zusammentreffen

Und wie konnte ich ernsthaft darangehen, erste Vorversuche zu unternehmen? Die waren aber nötig, denn solange wir uns nur mit der Elektrizität beschäftigen, können wir Wirkung und Gegenwirkung übersehen und beherrschen, aber dort, wo Elektrizität und Mechanik zusammentreffen, wird es kritisch, denn dort haben wir es plötzlich mit >trägen Massen< zu tun.

Der Krieg kam immer schneller zu uns

Ich war in diesem Krieg eingespannt wie alle anderen auch. Gewiß, hier in meinem Labor hätte ich nebenher auch an meinem Verfahren arbeiten können, doch noch ehe ich dazu kam, regnete es eines Nachts Millionen seltsamer Stanniolstreifen vom Himmel, silberglänzend wie Lametta. Es machte unsere Radargeräte blind.
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  • Anmerkung : Die Engländer hatten in einer Kommandoaktion an der Kanalküste ein "Würzburg" samt einem Mitarbeiter gekapert und entführt und analysiert. Die fest eingestellte Wellenlänge des Radar-Senders auf 50cm (also die Radar-Frequenz) war der entscheidende deutsche Denk-Fehler und die Staniolstreifen waren genau auf diese Wellenlänge abgestimmt. Und damit war die Entfernungsmessung überlistet worden. Das Würzburg war erst einmal unbrauchbar.

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Nachdenken über mein Füllschriftverfahren

Wenn ich morgens vom Breitenbachplatz aus mit der U-Bahn zum Verlag fuhr, hatte ich eine halbe Stunde Zeit, über mein Tagespensum und mein Füllschriftverfahren nachzudenken. Deshalb schleppte ich immer ein großes Ringbuch mit mir.

Die immer penetranter werdenden Durchhalteparolen

Mit der Zeit wurden immer mehr Redakteure von der Wehrmacht erfaßt, und den verbleibenden wurde immer mehr Arbeit aufgedrückt. Ich sah die wachsende Gefahr, in die ich - wie alle anderen auch - verstrickt war, sah die an Zahl und Wucht wachsenden Luftangriffe und hörte die immer penetranter werdenden Durchhalteparolen des Propagandaministers.

»Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern ... und wenn die ganze Erde bebt und die Welt sich aus den Angeln hebt...«

Mut der Verzweiflung oder den Kopf in den Sand ?

War es der Mut der Verzweiflung, der mich ruhelos zur Arbeit zwang? Waren es die heimlich gehörten Feindsendungen - halb Wahrheit, halb Propaganda? Oder steckten wir alle schon den Kopf in den Sand?

Künnekes saßen Nachts beim Mittagessen

Nachts fuhr ich dann mit der U-Bahn zur Flakbatterie am Bahnhof Krumme Lanke und nach dem Luftangriff zuweilen mit meinem kleinen Sportwagen - den BMW hatte man mir längst weggenommen - zu Künnekes in die Giesebrechtstraße.

Künnekes saßen dann meist mit besorgten Gesichtern beim Mittagessen. Sie hatten ihr eigene Tageseinteilung - alles war exakt um zwölf Stunden verschoben. Man spricht von nächtlichen Verhaftungen, Deportationen Dutzender von Juden nach Österreich, unsicheres Gerede ...

Kapitel 56
Das zweite Wolgalied

Manchmal spielte mir Künneke abends aus seinen Werken vor. Auch aus seiner Oper >Nadja<. Und aus ihr eines Nachts jenes Lied, das eine so seltsame Geschichte hat: das Wolgalied.
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  • »Hast du dort oben vergessen auf mich ...?«

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Die seltsame Geschichte einer Operette

Es war eine seltsame Geschichte, die ich in dieser Nacht erfuhr. Den Schluß habe ich selber miterlebt und sogar mit beeinflußt; Künneke sprach nicht gern darüber. Pietro Mascagni, der nach seinem Riesenerfolg mit >Cavalleria rusticana< eine ganze Reihe erfolgloser Opern geschrieben hatte, erfuhr eines Tages, daß Puccini für das Wiener Carltheater eine Operette schreiben wollte.

Die Anfänge des >Der Zarewitsch<

Eine Operette! Nun, wenn selbst Puccini keine Bedenken hatte ... Mascagni setzte sich mit den Wiener Librettisten Willner und Bodansky in Verbindung und erhielt von ihnen kurz darauf ein Libretto, das am Hof des Zaren spielte: >Der Zarewitsch<. Doch das Buch war ohne packende Dramatik und vermochte nicht, ihn zu erwärmen. Er legte es zur Seite, nahm es wieder vor, legte es wieder zur Seite ...

Zwei Jahre lang. Dann gab er es den ungeduldig drängenden Librettisten mit einem freundlichen Schreiben zurück. Nun wanderte das Buch zu Lehar. Doch auch dort blieb es zwei Jahre unvertont liegen ...
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mit ganz, ganz "allerherzlichstem" Dank zurück

Das russische Milieu, die Notwendigkeit, auch in der Musik russische Farben zu bringen, und dann die >heikle< Geschichte ... Der Zarensohn verliebt sich in einen hübschen jungen Mann - der ... ein Mädchen ist.

Auch Lehar gibt das Buch >mit ganz, ganz allerherzlichstem Dank< zurück. Es sei zwar eines der schönsten Bücher, die er je gelesen hätte, aber er fühle sich diesem Stoff nicht gewachsen. Und da war was dran ...

Künneke machte da einen Fehler - er brauchte nämlich Geld

Die Herren Autoren dachten >Schmäh!< und überlegten, wen sie nun wohl mit diesem Libretto beglücken könnten. Dabei kamen sie auf Künneke. Künneke gab es ungelesen an seinen Verleger weiter, dem die Namen Willner und Bodansky eine Art Erfolgsgarantie zu sein schienen, und erhielt von ihm - dem ausgekochten Operettenkenner - tatsächlich einen Vorschuß. Doch trotz des Vorschusses fand Künneke keinen Zugang zu dem angesprochenen russischen Milieu.

Eines Tages ein dringender Anruf aus Wien

Was er wirklich an dieser Operette getan hat, habe ich nie herausbekommen, sie hat jedenfalls auch bei ihm jahrelang keine Funken geschlagen. Doch da kam eines Tages ein dringender Anruf aus Wien:

Da er sich jahrelang nicht zu dem Buch geäußert hätte, nähmen die Autoren an, daß er daran nicht interessiert sei, und bäten um Rückgabe. Peinliche Situation. Er hatte schon den Vertrag und den längst verbrauchten Vorschuß und sagte also, das sei völlig unmöglich, denn der erste Akt sei schon komponiert, und er hätte gerade mit dem zweiten Akt begonnen.

Heulen und Jammern am anderen Ende der Leitung aus Wien

Heulen und Jammern am anderen Ende der Leitung und schließlich das Geständnis: Lehar, der überraschend das Theater an der Wien für die nächste Uraufführung bekommen konnte, saß ohne Buch da. In dieser Not besann er sich auf den von ihm verschmähten Zarensohn und verlangte nun von den unglücklichen Autoren das Buch. Die Librettisten bestürmten Künneke, bejammerten ihr Unglück und baten dringend um eine persönliche Unterredung. Möglichst schon am nächsten Tag.

Das Wolgalied - über Nacht komponiert

Künneke rief mich an und fragte, wann ich abends käme; er hätte da eine schreckliche Geschichte, über die er mit mir sprechen wolle. Wir überlegten, was zu tun sei, und als die Herren dann mit den >allerherzinnigsten< Grüßen von Meister Lehar eintrafen, zeigte Künneke ihnen ein Paket Partituren und spielte ihnen sogar das Wolgalied vor. Er hatte es - wie ich vermutete - über Nacht komponiert.

Die Wiener überreichten ihm als Ersatz und Trost ihr neuestes hochaktuelles Meisterwerk: >Die Fahrt in die Jugend<. Die damals hochaktuelle Geschichte um einen uralten Ungarn, der sich in Wien bei Professor Steinach mit Affendrüsen künstlich verjüngen läßt.

Die Operette mit dem heiklen Thema

Künneke auf ungarisch!

»Seit ich bin auf Welt gäkommen, hot sich olles umgedreht. Neunzig Johre sind värschwommen, ober olter Stamm noch steht.«

Die Operette mit dem heiklen Thema wurde in Zürich uraufgeführt, mit Richard Tauber in der Doppelrolle. Dann sprach man nicht mehr davon.

Und was ist aus Künnekes >Wolgalied< geworden? Es findet sich in seiner Oper >Nadja< und hat dort den leicht veränderten Text:

»Einmal noch möcht' ich am Wolgastrand stehn,
noch einmal die Stätten der Heimat sehn...«

Und wieder wurde mein >Traumland< verschoben

Eigentlich hätte nun die Arbeit an >Traumland< weitergehen können, doch inzwischen war schon wieder ein Libretto mit erheblichem Vorschuß dazwischengekommen. Es handelte sich um eine belanglose Geschichte - >Herz über Bord< -, aber die guten Verse stammten vom Textdichter der >Glücklichen Reise<, Kurt Schwabach.

Doch ehe die Operette aus der Taufe gehoben werden konnte, mußte Schwabach das Land verlassen. Er floh nach Jerusalem und arbeitete dort - wie er mir viel später in meiner Hamburger Redaktion erzählt hat - als Kellner...

Man >vergaß< einfach den Textdichter

Die Operette hätte also nicht aufgeführt werden können. Nun, im Einvernehmen mit Schwabach >vergaß< man den Textdichter, und als Autor zeichnete nur der Schauspieler und Regisseur, der das Libretto geschrieben hatte, Eduard von der Becke.

Die Operette wurde 1936 zu Beginn der Olympischen Spiele im Theater am Nollendorfplatz in guter Besetzung mit der quirligen Grethe Weiser herausgebracht. Sie sang das schmissige Couplet:

  • »Dann lach ich,
  • dann mach ich -
  • ein bißchen Trallalala,
  • dann ist die Stimmung gleich da ...«


Künneke und der verheimlichte Textdichter hatten wieder einmal gezündet. Und auch die von Franz Marszalek komponierte Einlage:

  • »Ach in der Liebe bin ich leider nur ein Piccolo«,


schlug ein.
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Das Werk ging allzufrüh baden

Doch Musik und Schlagertexte konnten das Werk nicht retten. Es ging allzufrüh baden, wie die Heldin, die sich >Herz über Bord<, oder Hals über Kopf, vom Bühnenschiff ins trockene, gut gepolsterte Meer stürzte. Die Geschichte war doch zu albern.

Der Himmel über uns verfinsterte sich immer mehr

Die Arbeiten an meinem Füllschriftverfahren konnten während der letzten turbulenten Kriegsjahre nur sehr langsam weitergeführt werden, denn der Himmel über uns verfinsterte sich immer mehr...

Kein Wunder, daß ich den ganzen Kram eines Tages zusammenpackte und die Weiterarbeit auf später verschob.

Was war "später" oder wann konnte das sein ?

Auf später? Was war das für ein Später? Was stellte ich mir wohl darunter vor?

In einer solchen Verfassung fuhr ich eines Abends nach einem kurzen Fliegeralarm zu Künnekes. Die feindlichen Flugzeuge hatten einen Scheinangriff auf Berlin geflogen, waren dann aber plötzlich abgeschwenkt. »Starke Verbände im Anflug auf Leipzig«, hieß es nun. Berlin hatte diese Nacht Ruhe.

Als ich das vereinbarte Klingelzeichen gab, öffnete Frau Künneke selber. Tochter Evelyn machte in Österreich Soldatenbetreuung und führte allabendlich stundenlange R-Gespräche (Gebühren zahlt der Angerufene), die die Telefonrechnung in astronomische Höhen trieben.
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Eduard Künneke mußte wieder zu einer Entziehungskur

Katharina Künneke - wie immer in schwarze Schleiergewänder gehüllt - zog mich schweigend in das große, mit dicken roten Samtvorhängen verkleidete Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie wirkte sehr bedrückt und sagte: »Heute morgen um zehn.« - Ich wußte aus Erfahrung, was das hieß: Man hatte Künneke wieder einmal mit sanfter Gewalt abgeholt - zu einer neuen Entziehungskur. Die Zusammenarbeit fiel damit wieder für zwei Wochen aus... Diese Kuren waren ein streng gehütetes Geheimnis. »Die verdammte Tänzerin sollte man anzeigen!« sagte ich wütend.

Ursula Renate Hirth/Marszalek aus Breslau war auch süchtig

Frau Künneke winkte ab: »Eine bildhübsche Frau mit einem brennenden Ehrgeiz. Vor ihrer Heirat mit dem Kapellmeister Franz Marszalek hieß sie Ursula Renate Hirth. Sie stammte aus Breslau. Über ihr tänzerisches Talent weiß ich nichts. Aber ich weiß, daß sie schon süchtig war, bevor sie meinen Mann kennenlernte. Ihn hat sie mit der Zeit auch dazu gebracht.«

»Woher kriegt er das Zeug nur immer?« - »Von den Ärzten, denen er eine schwere Gallenkolik vorspielt. Wenn sie ihm vorsichtshalber kein Rezept geben, machen sie ihm bestimmt eine Spritze. Er schafft das leider immer wieder. Wie er sich heimlich Drogen beschafft, weiß ich nicht. Ich nehme an, daß die Hirth ihm dabei hilft.

Ursula wollte die Verse schreiben ...

Wie das nur einmal enden soll! - Angeblich arbeiten sie zusammen an seiner Oper >Walther von der Vogelweide<.«

»Den benutzen beide doch nur als Vorwand; schaffen wird sie das sowieso nicht.«

»Mein Mann wollte Sie schon mal bitten, bei den Versen zu helfen, aber ich habe ihm klargemacht, daß das eine unmögliche Zumutung sei und daß Sie das bestimmt ablehnen würden.«

»Abgesehen davon, daß ich das gar nicht könnte. Man kann den Walther doch nicht hochdeutsche Texte singen lassen, und die Sprache seiner Zeit ist mir so wesensfremd wie Japanisch. -

Übrigens: Erinnern Sie sich noch, daß sie vor einem Jahr mit allen Mitteln versucht hat, sich in unsere Arbeit an >Traumland< zu drängen? Sie wollte die Verse schreiben ...«

»... und hätte dann mit allen Tricks versucht, Sie an die Wand zu spielen. Ganz abgesehen davon, daß ihr dann die Tantiemen von allen Liedern zugeflossen wären. Aber der Verleger, der sie ohnehin im Verdacht hat, Künneke Heroin zu verschaffen, hat sofort energisch abgewinkt. Und das war ja auch nicht die einzige Abfuhr, die sie sich geholt hat.«

Und sie ist hartnäckig

»Sie meinen die Sache mit der Rumba, die Ihr Gatte extra für sie geschrieben hat und die sie als tänzerisch-musikalische Introduktion jedesmal vor Beginn der >Glücklichen Reise< tanzen wollte.« Damit war sie schon bei der Uraufführung im Theater am Kurfürstendamm durchgefallen, aber sie ließ nicht locker.

»Daß mein Mann mit ihr befreundet ist, weiß ich schon sehr lange, und der Franz weiß das auch, aber was läßt sich dagegen tun?« Sie stand auf und steckte sich umständlich einen Zigarillo an. »Und Marszalek?«

Ob >Traumland< wohl jemals fertig würde?

»Er lebt mit seiner Frau zusammen, hat mit ihr einen etwa zehnjährigen reizenden Jungen und instrumentiert fast alle Kompositionen meines Mannes. Ein hervorragender Musiker - aber zu weich.«

Sie setzte sich wieder zu mir und rauchte schweigend weiter. Ich fuhr kurz nach Mitternacht bei strömendem Regen zurück in die Schorlemer Allee.

Wenige Monate nach diesem Gespräch geschah dann das Unglück: Frau Marszalek hatte keine Morphiumampullen, sondern nur Pulver, machte es mit Wasser in einem Löffel heiß und spritzte es sich in den rechten Oberschenkel. - Blutvergiftung. - Beinamputation. - Langer, qualvoller Tod. Für Künneke ein fürchterlicher Schlag.
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