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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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Nur noch'n bißken üben

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1946/1947 - Klaus Kinski

Und dann gab es in diesem schrecklichen Winter 1946/47 ja auch schon den unglaublichen Klaus Kinski, der zwar mit Film noch nicht das geringste zu tun hatte, aber im Gefolge von Tommy Harlan herumlief - oder umgekehrt.

Durch Tommy lernte ich bald darauf auch seinen Vater kennen, den Regisseur des spektakulären Films »Jud Süß«, und mein Weltbild vertiefte sich, im Hinblick auf die Entnazifizierung, ganz erheblich.

Aber, um Himmels willen, der Reihe nach:

Wo ich diesen Kinski aufgegabelt habe, ob beim »Schrägen Zinnober« am Kaiserplatz, dem ersten Ball der Kunststudenten, wie er behauptete, oder in der Masurenallee, wie ich glaube, mag dahingestellt bleiben.

Aus seinen wüsten Memoiren »Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund«, die er mir dreißig Jahre später, in fettiges Zeitungspapier gewickelt, auf mehr als tausend Manuskriptseiten in die Hand drückte, hat er mich, zum Glück, herausgelassen.

Bei der Gelegenheit aber haben wir mal wieder in den alten Zeiten herumgestochert, und auf einmal war er sich ganz sicher, daß wir uns bei Sascha Kropotkin kennengelernt hätten, diesem ominösen russischen Prinzen, der am Kudamm Ecke Uhlandstraße, über dem Cafe Möhring, in einer sagenhaften Luxuswohnung Hof hielt.

Aber das kann einfach nicht sein: Auf dem Weg zu meiner ersten Einladung bei Prinz Kropotkin bin ich im Sommer 1947 ja verhaftet worden. Nein, es muß viel früher, etwa im Herbst 1946, gewesen sein, und zwar in der streng bewachten Eingangshalle des Berliner Rundfunks in der Masurenallee; daran habe ich wieder mal eine ganz genaue Erinnerung.
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Ein blonder Bengel ......

Ich kannte den blonden Bengel ja noch nicht, der sich dort mit zwei Pförtnern auf dem Steinboden wälzte und »Faschistenschweine!« schrie, während ein dritter nach der Polizei telefonierte.

Ich wollte in den Großen Sendesaal, in dem im Krieg die berühmten »Wunschkonzerte« stattgefunden hatten und jetzt jeden Morgen um elf die populäre Livesendung »Rund um die Berolina« vor Publikum ablief.

Nun sah ich zum ersten, aber nicht zum letzten Mal, wie Klaus Kinski mit Hilfe roher Gewalt zur Räson gebracht wurde, und rührte keine Hand, um ihm zu helfen.

Zum einen hatte ich keine Einlaßkarte für den Großen Sendesaal, nur eine mündliche Einladung Bully Buhlans; auch mein »Tagesspiegel«-Ausweis würde wenig nützen, denn das Sendegebäude lag zwar im britischen Sektor, wurde aber von den Russen verwaltet.

Zum anderen hatte ich den Eindruck, daß die Pförtner vielleicht im Recht waren: Sie hielten den lockigen Rauschgoldengel keuchend nieder, schlugen ihn aber nicht. Ich mischte mich erst ein, als schwarzuniformierte Hauspolizei auftauchte und den Knüppel schwang.

Da trat ich vor und fragte, meinen Presseausweis hochhaltend: »Ist da eine Schlagzeile für mich drin, Männer?« Und schon löste sich alles in Wohlgefallen auf.
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Kinski - ein kontrollierter Irrer

Im Frühjahr 1946 liefen ja bereits die tollsten Gerüchte über den Berliner Sender um, vielmehr über den unheimlichen schwarzen Betonklotz daneben, den ehemaligen Luftschutzbunker, in dem angeblich der NKWD (Anmerkung : der russische geheimdienst) saß und wahllos mißliebige Menschen verschwinden ließ.

Wahrscheinlich hatten die Hausbullen Anweisung, jedes Aufsehen zu vermeiden, und vor den Augen eines »Tagesspiegel«-Reporters ganz bestimmt. Es stellte sich heraus, daß der blonde Jüngling mit dem maßgeschneiderten langen Soldatenmantel und dem auffälligen Haar - der erste »Langhaarige«, den es in Berlin gab! - Schauspieler war und in der Hörspielabteilung erwartet wurde, bei dem legendären Alfred Braun.

Und warum die Prügelei? Als der eine Pförtner ihn telefonisch bei den Hörspielleuten anmelden wollte, hatte Klaus Kinski ihn angefaucht: »Was soll das, du Faschistenarsch?«

Worauf der zweite und dritte Mann in der Anmeldeloge aus ihrem Kabuff traten und die bekannten Worte sprachen: »Was haben Sie da eben gesagt?« Kinski wiederholte es schreiend, und schon war der Teufel los.

Wenn er nur ein armer Irrer gewesen wäre, hätte ich ihn nach diesem Erlebnis kaum wiedergesehen, den Klaus. Aber er war schon damals mehr als das, er war ein kontrollierter Irrer.
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Klaus Kinski war nicht nur geltungssüchtig

Einer, der genau Bescheid wußte über seine kurze Zündschnur, die ihm regelmäßig Arger einbrachte. Doch Ärger bedeutete auch Aufsehen, und das genoß er mehr als alles andere.

Er war so geltungssüchtig, so exhibitionistisch, so sehr auf Bewunderung und Applaus aus, daß er einen Mord begangen hätte, um Aufsehen zu erregen - jetzt kann ich es ja verraten: Er hat nicht einen, er hat mindestens zwei Morde begangen, wenn man ihm glauben will.

Beide Male versagte die Polizei, obwohl nur er als Täter in Frage kommen konnte, und beide Male hat er sich derart aufgeregt über das Ermittlungsergebnis der »Pupen«, wie er Kriminalbeamte nannte, daß er die Bluttaten noch Jahrzehnte später in seinen Memoiren genüßlich wieder aufgriff.

Er war schizophren, gewiß, aber er machte das Beste daraus, indem er sein Talent, sich völlig in eine andere Figur zu versenken, bis zum Exzeß entwickelte.

Ein unglaubliches fotografisches Gedächtnis

Stanislawski hätte seine Freude an Klaus Kinski gehabt. Dazu kam ein fotografisches Gedächtnis; ich habe nie wieder einen Schauspieler erlebt, der innerhalb von Minuten eine ganze Buchseite auswendig lernen konnte.

Ich bin mit ihm nach oben in die Hörspielabteilung gefahren, er hat sich bei mir bedankt und, als wir gebeten wurden, in der Kantine zu warten, frech zwei Essen-Bons verlangt - »für meinen Manager auch einen!«

Der Junge sah mit seinen himmelblauen Augen wirklich überirdisch schön aus, aber er hatte einen gemein gekräuselten Mund, und was da raus kam, war reiner Unflat.

»Alte Nazisau!« sagte er zur Kellnerin, als die 50 Gramm Fleisch und 25 Gramm Nährmittel von unseren Lebensmittelkarten abschneiden wollte, weil er die gutschmeckende Gemüsesuppe, die es auf den Essen-Bons gab, verschmähte und nach Gulasch mit Nudeln verlangte.

Beinahe hätte es wieder einen Krawall gegeben, denn Kinski besaß angeblich keine Lebensmittelkarte, und die arme Frau schnitt von meiner Karte zweimal 50 Gramm Fleisch ab.

Nun, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, erzählte er, daß er Fallschirmjäger gewesen sei und bei Barlog im Schloßpark-Theater spiele. Der berühmte Alfred Braun habe ihn angesprochen und wolle mit ihm und einem zwölfjährigen Mädchen eine aktuelle »Romeo und Julia«-Version als Hörspiel machen.

»Hast du den auch schon mal Nazi genannt?« muß ich ihn gefragt haben, denn Kinski schrie mich an: »Bist du wahnsinnig? Der Mann war im KZ!« Ich beruhigte ihn: »Klar war er im KZ, der war ja auch Sozialdemokrat. Aber als er aus dem KZ entlassen wurde, hat er sich öffentlich bei den Nazis bedankt, daß sie ihm Gelegenheit gegeben hätten, die Dinge richtig zu sehen...«

Kinski schob seinen Stuhl zurück und stand auf: »Das mußt du beweisen!« Es klang wie »Sonst schlage ich dir den Schädel ein!« Und anstatt darauf zu warten, daß die Hörspielabteilung ihn aus der Kantine rufen würde, bestand er darauf, sofort mit mir nach Hause zu fahren, um sich meine »Beweise« anzusehen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn mit nach Neu-Tempelhof zu nehmen.
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Weitere "Abeneuer mit Kinski"

Ich hatte in einem Antiquariat zwei rote Bücher aus der Nazizeit gefunden, Franz Eher Verlag 1934, in denen die ersten Insassen des ersten Konzentrationslagers - darunter Alfred Braun - über ihre »wertvollen Erfahrungen« berichteten.

Kinski behauptete sofort: »Das ist gefälscht! Die KZs waren geheim!« Ich konnte ihn belehren: »Nur die Gaskammern, nicht die KZs! Du siehst: Die Nazis haben schon im zweiten Jahr ihrer Macht ganze Bücher - sichtbar für jeden - über ihre Konzentrationslager veröffentlicht!«

Kinski ergriff mein Buch und rannte los: »Ich schmeiß dem Braun den Krempel vor die Füße!« Ich hätte ihm gern noch erzählt, wie Alfred Braun sich in den zwölf Nazijahren mit dem Regime arrangierte.

Im Vorspann von »Jud Süß« stand sein Name als Regieassistent von Veit Harlan, und er arbeitete ohne Pause auch weiter für den Rundfunk, durch den er mit lebendigen Reportagen in den zwanziger Jahren berühmt geworden war. Vielleicht war er einfach nur beeindruckt von Hitlers Anfangserfolgen gewesen, wie so viele Sozial-demokraten.

Kinski und seine Entjungferungsversuche

Eine Woche später traf ich Klaus Kinski nachts in der »Pariser Bar« in der Kantstraße wieder. Er hatte die Zwölfjährige bei sich, ein dünnes freches Ding mit Kinderbusen.

»Ach«, fragte ich ihn, »machst du doch >Romeo und Julia<?« Er blinzelte mir verschwörerisch zu: »Klar machen wir das Hörspiel! Ich muß Didi nur noch entjungfern!«

Mir blieb die Spucke weg, besonders als die Kleine mit Daumen und Zeigefinger vormachte: »So'n kleenet Stücke hatter'n schon drinnejehabt! Wir müssen nur noch'n bißken üben, denn klappt's schon!« Wie Klaus Kinski erzählt, daß ihm seine »Julia« bei den Entjungferungsversuchen »immer wieder wegrutscht«, taucht eine knabenhafte Frau mit Pagenkopf aus der Toilette auf und schaut ihn mit fiebrigen Augen an: »'n Freund von dir? Kommt der mit?« Sie ist Lehrerin von Beruf, aus Treptow, wird gerade umgeschult auf Sozialismus. Ich verschwinde lieber.
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Beim Funk geht's ja zu wie beim Film

Am nächsten Abend ruft Kinski in der Redaktion an: »Ich hab' sie entjungfert, auf dem Bahndamm am Westkreuz!« Ich wundere mich: »Ist die Kleine denn richtig für das Hörspiel?«

Er lacht nur: »Quatsch! Das ist nur eine von den zweihundert Zwölfjährigen, die sich bei Braun wegen der Rolle gemeldet haben!« Allmächtiger, dachte ich, beim Funk geht's ja zu wie beim Film!

Und dann habe ich ihn doch noch gefragt, wieso er das Hörspiel bei Alfred Braun machen wollte. »Mensch«, sagte er, »für dreitausend Märker scheiß ich auf die alten Nazis!«

Thomas Harlan dagegen meinte, er sei es gewesen, der mich mit seinem Freund Kinski bekannt gemacht hätte, bei Jürgen Fehling im Hebbel-Theater.
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Den Liebenswürdigen hervorkehren

Thomas Harlan ist der älteste Sohn Veit Harlans, aus der zweiten Ehe mit Hilde Körber. Er sprach dauernd über die Tragik seines Vaters, der, alles andere als ein Antisemit, von Goebbels gezwungen worden sei, den antisemitischen Film »Jud Süß« zu machen.

Veit Harlan war am Ende des Krieges von Berlin nach Hamburg gezogen, wo er
nun dauernd von den Engländern verhaftet, von anonymen Anrufern mit Todesdrohungen verfolgt und auch schon mal auf der Straße verprügelt wurde.

Tommy Harlan machte die Versöhnung der Juden mit seinem Vater zu seinem Lebenswerk, hatte ich den Eindruck. Kaum saßen wir irgendwo vor einem Heißgetränk, Tommy, Kinski und ich, da ereiferten sich die beiden schon wieder über »Jud Süß«, und zwar so laut, daß alle im Raum zuhören mußten.

Sofort gab es dann auch Reaktionen, auf die Tommy - und erst Kinski! - noch lauter antworteten.

Wagte einer aus dem Publikum zu bemerken, daß Ferdinand Marian in der Titelrolle oder Werner Krauß in seinen fünf Judenrollen »aber gut« gewesen sei, da sprang der Sohn des Regisseurs auf und nahm eine »drohende Haltung« an - und Kinski, der im Grunde vollkommen unpolitisch war, verstieg sich sofort zu seinem Lieblingsschlachtruf: »Faschist!«

Ich habe gesehen, wie sie arme Schweine, die sie für »Antisemiten« hielten, gnadenlos verprügelten, aber auch echte Antisemiten gesehen, die Harlan junior und Kinski verprügelten.

Ich hielt mich »feige«, wie Kinski mehr als einmal schrie, aus solchen Auseinandersetzungen heraus; ich nahm als Privileg in Anspruch, einst an meinen Führer geglaubt zu haben und jetzt »geheilt« zu sein; ich war entschlossen, mich für keine politische Bewegung mehr zu engagieren, nach dem Motto: Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, daß ich mir einmal die Finger verbrannt habe! Heute würde ich sagen, unabhängiges Denken schließt jede Vereinsmitgliedschaft aus.
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Ein Nachmittag mit dem großen Theaterregisseur Jürgen Fehling

Die interessanteste Erinnerung im Zusammenhang mit Thomas Harlan und Klaus Kinski ist die an einen Nachmittag mit dem großen Theaterregisseur Jürgen Fehling, einem Freund Veit Harlans, der auch nie einen Hehl aus dieser Freundschaft machte.

Fehling war mir erst durch seine vielgerühmte »Fliegen«-Inszenierung am Hebbel-Theater ein Begriff geworden. Er galt allgemein schon als verrückt, benahm sich »seltsam«, wurde bedauert und belächelt, wenn er, in aller Öffentlichkeit, etwa auf einem Empfang von Kulturoffizieren, sich mitten aus einem Kreis erhabener Häupter nur einen halben Schritt entfernte, umdrehte, seine Hose aufmachte, den »Liebenswürdigen hervorkehrte« und einen munteren Schauer auf einen Blumenkübel oder ähnliches regnen ließ.

Ich habe das, auf einem Empfang bei den Briten im Schloß Charlottenburg, selbst mal mit angesehen und war genauso peinlich berührt wie alle anderen. Noch mehr beeindruckte mich jedoch, daß sich nur die wenigsten verdrückten, der Rest aber, als sei nichts geschehen, geduldig abwartete, bis der berühmte Mann sein Geschäft erledigt hatte und dann an derselben Stelle mit der Diskussion weitermachte, an der sie unterbrochen worden war. Klar, daß Fehling und Kinski sich heiß und innig liebten; sie hatten die gleiche Krankheit.
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Jürgen Fehling war ein »Faschist«

An einem Nachmittag am Breitenbachplatz, in einer typischen, von Büchern überladenen Künstlerwohnung, die entweder Fehling oder seiner Lebensgefährtin Joanna Maria Gorvin oder beiden zusammen gehörte, lernte ich den »verrückten« großen Mann völlig normal kennen.

Er fläzte sich in einem gewaltigen Sessel, während wir ihm zu Füßen auf dem Teppich lagerten, und erklärte uns die Welt. Wobei er vom Hundertsten ins Tausendste sprang und tollkühne Verbindungen herstellte, von den alten Griechen bis zum Nationalkomitee Freies Deutschland, von einer toskanischen Vase bis zum Hellschreiber im Führerhauptquartier (den wir heute als Fax-Gerät kennen).

Faszinierend war, wie so oft, nicht so sehr der Inhalt seiner Ausführungen als die Form, in der sie vorgetragen wurden: von ganz hoch oben herab und mit den deftigsten Ausdrücken, denn Fehling hielt die ganze Menschheit für eine Hammelherde, die der »Führung« bedürfe.

Wenn ich je einen »Faschisten« gesehen habe, dann ihn, und Kinski erklärte sich hinterher prompt auch zum »Fehlingisten«.

Ziemlich bescheuerte Aussagen eines ürgen Fehlings

Weil ich neben dem ältesten Sohn Veit Harlans lag, interessierte mich Fehlings Meinung zum »Jud Süß«-Film natürlich am meisten.

»Der Veit«, so ungefähr drückte er sich aus, »ist das begabteste Filmschwein überhaupt! Um der Kunst total zu dienen, mußt du einfach ein Schwein sein, anders geht es nicht!«

Er kann auch gesagt haben: »Kunst ist total, nicht teilbar in ein bißchen Politik, ein bißchen Verantwortung den Juden gegenüber, ein bißchen Rücksichtnahme auf Publikum oder Produzenten. Um der Kunst total zu dienen, mußt du...« Siehe oben.

Harlan habe, nachdem er nun mal keinen Ausweg aus der Goebbels-Verpflichtung sah, »das Beste« aus der Vorlage gemacht - »Jud Süß« sei kein antisemitischer Film, der Ferdinand Marian sympathischer als der Heinrich George, und die verschiedenen Rollen des Werner Krauß - »Herrje! So sind sie nun mal, die orthodoxen Juden!«

Bei dieser Gelegenheit hörte ich zum ersten Mal, und aus dem Mund von Jürgen Fehling, eine sehr über den Dingen stehende Definition des Antisemitismus:

»Antisemit sein heißt, die Juden mehr hassen als nötig!«
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Wir Hitlerjungen hatten alle diesen Film gesehen

Vor allem aber hörte ich eine Relativierung des Films von Veit Harlan, den ich natürlich, wie alle Hitlerjungen, zu Beginn des Krieges in den Lahn-Lichtspielen in Oberlahnstein mit meiner Schulklasse geschlossen gesehen hatte.

Nach dem Krieg hieß es, Veit Harlan habe mit seinem »Jud Süß« die Deutschen für die »Endlösung« des sogenannten Judenproblems vorbereitet, was ich für blühenden Blödsinn halte.

Was unter einer »Endlösung« zu verstehen war, haben die Deutschen erst 1945 erfahren. Als der Film 1940 überall im Land lief, waren die Deutschen schon so mit Antisemitismus zugedeckt, daß sie nur noch nicken konnten - den Zwölfjährigen, der ich damals war, veranlaßte der Film jedenfalls nicht, Schaum vor den Mund zu bekommen.
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Und dann etwas mehr gelernt über den Antisemitismus

Uns jungen Burschen tat der Nachmittag bei Fehling insofern gut, als wir zum erstenmal von einem reifen Mann hörten, daß es Antisemitismus auch schon in der Weimarer Republik und lange vorher in der Weltgeschichte gegeben hatte, ja, daß man »ruhig darüber sprechen« könne, ohne sich gleich wie ein Nazi vorzukommen.

Es war, kurz, was die Militärs einen »Befreiungsschlag« nennen. Fehling gab uns ein bißchen Boden unter den Füßen zurück, was mir in späteren Jahren erst so
richtig klargeworden ist, als die Vergangenheitsbewältiger immer lauter wurden.

»Ja doch«, sagte Fehling, »mich hat's persönlich gekränkt, daß mein jüdischer Arzt ausgewandert ist, auch dieser oder jener Schauspieler, den ich geliebt habe, aber - zum Teufel! - wenn's umgekehrt gekommen wäre und die Christen hätten verschwinden müssen, dann hätte ich mal sehen mögen, wie viele Juden sich vor uns gestellt hätten! - Gorvinü« brüllte er nach seiner Lebensgefährtin.

»Sind wir eigentlich noch Christen? Ich meine, bezahlen wir Kirchensteuer?« Wir grölten vor Lachen. »Und wie«, fragte Jürgen Fehling deklamatorisch, »stellen sich diese verschissenen Intellektuellen eine Vergangenheitsbewältigung des gesamten deutschen Volkes eigentlich vor? Sollen wir uns jeden Morgen um sechs alle miteinander auf dem Marktplatz einfinden und auf die Knie fallen und >Fluch über unser Haupt!< rufen? Was zum Teufel ist eine kollektive Vergangenheitsbewältigung? Genügt es nicht, daß wir alle, die wir von Auschwitz nichts gewußt haben - hundert Millionen Deutsche! - die fünfzigtausend SS-Bewacher verfluchen und unser tiefstes Bedauern ausdrücken?«
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Dann kam Werner Finck, der Kabarettist, ins Spiel

Irgendwann erzählte Fehling auch noch von Werner Finck, dem Kabarettisten, den Goebbels in den dreißiger Jahren vorübergehend mal ins KZ hatte sperren lassen:

»Ich habe ihn gefragt, als ich ihn neulich wiedersah: Na, Werner, war's denn so schlimm? Er hat mich angeguckt und genickt und gesagt, er hätte sich zu Tode gefürchtet. Wörtlich: Ich konnte ja nicht wissen, daß die SS-Leute alle in der Widerstandsbewegung waren! Hahahaha!«

Fehling lachte am lautesten darüber, daß es über Nacht keinen einzigen Nazi in Deutschland mehr gab, aber Millionen von »Widerständlern«. Als er den »Liebenswürdigen« wieder einmal »herauskehren« mußte, pißte er uns nicht auf den Kopf, sondern ging brav in sein Badezimmer. Viel später erst, als Klaus Kinski Schlagzeilen provozierte, hat er ihn als »Filzklaus Dostokinsky oder das Siebenmonatskainz« geschmäht.
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Harlan wehrt sich

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Selbsterkenntnis - wer war ich eigentlich

Wenn Jürgen Fehling der größte Theaterregisseur des Dritten Reiches war - so schrieben alle, die es wissen mußten -, dann war Veit Harlan der größte Filmregisseur, der für das Medium sicherlich Begabteste, aber das schrieb nach 1945 keiner mehr.

Die meisten seiner Filme hatte ich - zu jung gewiß noch - gesehen und sah dann viele Jahre später alle. Der Mann hatte eine sichere Hand für Wirkungen, hinterließ jedesmal sein Publikum aufgewühlt, in Tränen.

Wäre ich Jude gewesen, hätte Angehörige zu beklagen gehabt, das ganze Elend mitgemacht, dann wäre ich ganz sicher unter denen gewesen, die ihn verfluchten und gegen seine späteren Filme demonstrierten.

Aber so lagen die Dinge nun einmal nicht. Ich war ein enttäuschter Hitlerjunge, alt genug freilich, als der Krieg verloren wurde, um den Wahnsinn Hitlers zu erkennen, und noch nicht zu alt, um größere Schäden davonzutragen.

Aber eine ferne sentimentale Erinnerung an Jubelzeiten blieb, das ist gar keine Frage.
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Und die Mehrheit stand treu zum Führer - bis zum Schluß

Und ich hatte genug gesehen im letzten Kriegsjahr 1944, um allergisch zu werden gegen die Nachkriegstendenz, einzelnen Nazis die Schuld allein aufzubürden.

Ich wußte, weil ich dabei war, daß die überwältigende Mehrheit aller Deutschen auch im letzten Kriegsjahr noch treu zu Hitler stand. Über irgendwelche Prominente des Dritten Reiches herzufallen, über einen Sauerbruch, weil er so was wie »Generalarzt« gewesen war, über Hans Fritzsche, weil er bis zuletzt seine Kommentare gesprochen hatte, über Leni Riefenstahl und Veit Harlan, die gezwungen worden waren, je einen Film zu drehen, der Hitler und Goebbels in den Kram paßte, das fand ich schändlich.

Ich entwickelte mich in diesen ersten Nachkriegsjahren zum Puristen, der sich eifrig mit jedem anlegte, der die Freisprüche der Entnazifizierungskommissionen nicht anerkennen wollte.

Ich stand ganz dicht dabei, als Professor Sauerbruch im Savoy-Hotel in der Fasanenstraße von einem eifernden Spruchkammer-Vorsitzenden die Fotos vorgehalten wurden, die ihn mit Hitler zeigten, und kann heute noch die müde, schleppende Stimme dieses großen Arztes in meine Erinnerung zurückrufen, mit der er zur Antwort gab:

»Was wollen Sie damit beweisen?«

Ich stand wiederum ganz dicht dabei, als Leni Riefenstahl nach zwei Freisprüchen in der französischen Besatzungszone in Berlin ein drittes Mal den Wust von dummen Gerüchten und Viertelwahrheiten über sich ergehen lassen mußte - um wiederum, nach achtstündiger Verhandlung, mit Glanz und Gloria als »vom Gesetz nicht betroffen« eingestuft zu werden.

Als Vater Harlan im April 1949 nach Berlin geflogen wurde

Tommy Harlan bat mich, ihn nach Tempelhof zu begleiten, als sein Vater im April 1949 mit einer britischen Militärmaschine dort landete, um in Moabit vernommen zu werden.

In Hamburg fand ein Schwurgerichtsprozeß gegen Harlan wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« statt, bei dem wirklich alles auftrat, was im Dritten Reich Rang und Namen im Film gehabt hatte.

»Ich möchte, daß du dabei bist und mir hinterher genau sagst, was du von meinem Vater hältst!« hatte Tommy mir erklärt.

Ich sah einen noch nicht mal fünfzig Jahre alten Mann, der wie ein Siebzigjähriger auf mich wirkte; kurz vor dem Prozeß hatte er einen Herzinfarkt erlitten, war für verhandlungsunfähig erklärt worden, hatte aber, gegen den Rat seiner Anwälte, auf dem pünktlichen Prozeßbeginn bestanden.

Wir fürchteten an diesem Abend, daß er vor unseren Augen tot umfallen könnte, aber die bisher schon bekanntgewordenen Aussagen Hunderter Zeugen hatten Veit Harlan entlastet, und während er eine protokollierte Aussage nach der anderen aus seiner Aktentasche holte und mir zu lesen gab, gewann er Temperament und Energie zurück.
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Die entlstenden Zeugenaussagen der Prominenz

Wir saßen irgendwo bei einem Glas Wein, und ich las die Vernehmung des Rabbiners Dr. Leopold, der durch sämtliche KZs geschleift und von den Schergen blind geschlagen worden war: »Was uns Juden passiert ist, hat sicher nichts mit dem Film >Jud Süß< zu tun«, sagte er vor dem Schwurgericht in Hamburg.

»Ich habe den Film nach seiner Premiere in Berlin zweimal gesehen - als ich noch sehen konnte - und muß sagen, er ist keinesfalls so schlimm wie der ihm zugrunde liegende Roman Lion Feuchtwangers. Er hat das deutsche Volk auch nicht in Rage gebracht...«

Gründgens, den Göring als preußischer Ministerpräsident schützte, hatte unter Eid ausgesagt, daß ihm selbst keine andere Wahl geblieben sei, als in dem Propagandafilm »Ohm Krüger« mitzuwirken:

»Harlan stand unter schwerstem Druck von Goebbels und rettete sich in seine Kunst, er war einfach nicht zum Märtyrer geschaffen...«

Paul Henckels, der mit einer Jüdin verheiratet war, sagte wie Gründgens, wie Fehling: »Das Schwein in dem Film war der Herzog Heinrich Georges, nicht der Jud Süß von Ferdinand Marian!«

Willi Forst trat auf, der den »Jud Süß« auch spielen sollte, sich aber erfolgreich hatte drücken können: »Wenn Goebbels mich nach Berlin bestellt und darauf bestanden hätte, hätte ich mich fügen müssen!« Kurz, sie hatten Veit Harlan alle entlastet.

Dann das Gegenteil .....

Die einzige Zeugin gegen Harlan war die halbjüdische Sekretärin des TERRA-Produktionschefs, die eine erste Drehbuchfassung des »Jud Süß«-Films getippt hatte. Sie behauptete, das Buch des ursprünglichen Autors Ludwig Metzger, das Harlan umgeschrieben hatte, sei weniger antisemitisch gewesen als das endgültige des Regisseurs.

Als sich bei der Vernehmung dann herausstellte, daß sie die Freundin Metzgers gewesen war, kam es zu Tumulten im Gerichtssaal, die sich auf dem Korridor und vor dem Gebäude zu einer chaotischen Massenauseinandersetzung entwickelten.

Die Schlagzeilen im In- und Ausland lauteten in diesen Tagen einhellig: »Nazi-Demonstration für Harlan!« Die wenigsten Zeitungen brachten das Dementi des hochangesehenen, von den Nazis in die Emigration getriebenen Hamburger Bürgermeisters Max Brauer:

»Es handelt sich bei dem antisemitischen Skandal im Harlan-Prozeß um den geglücktesten, raffiniertesten Trickfilm, den uns die Kommunisten jemals vorgeführt haben. Die Rollen waren genau verteilt. Jeder Agent und jeder Provokateur stand auf seinem Platz, um das zu diesem Zweck notwendige antisemitische Stichwort zu geben. Die Vorgänge standen in engstem Zusammenhang mit anderen provozierenden Vorfällen, die von der kommunistischen Partei in Hamburg inszeniert worden sind.

Hamburger! Laßt euch nicht von Provokateuren mißbrauchen, denn auch bei den Kundgebungen auf dem Korridor vor dem Schwurgerichtssaal wurde festgestellt, daß die Zeugin Niehoff die Zuhörer mit dem Schimpfwort >Nazi-Schweine< titulierte, bevor dann die ebenso bedauerliche Beschimpfung >Judensau< fiel.

Aber: Die Frau, die dieses Wort sagte, ist - ich drücke mich sehr vorsichtig aus - in der Umgebung einer östlichen Vertretung zu suchen! An der großen antisemitischen Demonstration ist kein Wort wahr. Ich sage das in voller Verantwortung, denn ich habe kein Recht mehr, es zu verschweigen. Es ist notwendig festzustellen, was des Pudels Kern ist!«

Soweit der Erste Bürgermeister Max Brauer (SPD).
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der Hintergrund für Karena Niehoffs bösartige Anti-Harlan-Aussage

Ich besitze seine Erklärung noch. Und, ja, die Zeugin, die das alles verursacht hatte, war Karena Niehoff, aus der später die brillante Filmkritikerin des »Tagesspiegel« wurde. Ich konnte ihre Motive schon damals verstehen, denn die Führungsetage der TERRA deckte sie als Halbjüdin, indem sie sie beschäftigte, und die Herren der Firma, die den »Jud Süß« produzierte, waren gegen Harlan eingestellt.

Das hatte seine Gründe, nicht, weil Veit Harlan ein TOBIS-Mann war, sondern weil TERRA-Produktionschef Dr. Peter Paul Brauer den »Jud Süß« selbst hatte inszenieren wollen. Das Buch war ihm von seinem Chefdramaturgen Alf Teichs gebracht worden, der mit einer Jüdin verheiratet war und sich wiederum durch besondere Aktivität im Sinne von Goebbels schützen wollte - aber der hatte ihnen das Projekt aus der Hand genommen und selbstherrlich Harlan damit betraut, wissend, daß der »begabte Hund« mehr daraus machen würde als der »hölzerne Brauer«.

Soweit der Hintergrund für Karena Niehoffs bösartige Anti-Harlan-Aussage.
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Veit Harlan wurde freigesprochen

Veit Harlan wurde freigesprochen, weil der Film kein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« darstellte. Das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof kassiert und zur Neuverhandlung nach Hamburg verwiesen. Es gab einen zweiten Prozeß, der Veit Harlan endgültig fertigmachte, aber wiederum mit einem Freispruch endete, auf Kosten der Staatskasse. Was mich aufregte, war die damit verbundene Heuchelei.

Dieselben »Opfer des Naziregimes«, die ihre Rechtlosigkeit im Dritten Reich beklagten, ignorierten nun die demokratische Rechtsprechung und erkannten auch das zweite Urteil nicht an.

Thomas Harlan übrigens auch nicht. Er war, völlig verunsichert, aus Tübingen zurückgekommen, wo er Philosophie zu studieren begonnen hatte, aber ständig in harte Diskussionen um seinen Vater verwickelt wurde. Er verließ schließlich Deutschland, um in Paris weiterzustudieren, ließ sich aber immer wieder auf eine ganz persönliche Vergangenheitsbewältigung ein, drehte sogar einen (unsäglichen) Film über die Schuld seines Vaters und landete schließlich, der »Sühne halber«, in Israel.
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