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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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1943 - Vom Rhein an die Spree

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Ein Gastwirt kann sich das nicht leisten

Wie oft stand ich in all den Jahren seit dem Bau der Berliner Mauer an den hohen Clubfenstern im 18. Stock des Verlagshauses von Axel Springer und suchte vergebens meine Zimmerstraße - sie hatten sie tatsächlich ausgelöscht, »die Schweine da drüben«, hatten den Asphalt aufgerissen und abtransportiert und ihre Scheißmauer entlang der Straßenmitte gebaut.

Die Zimmerstraße war die Verlängerung der Prinz-Albrecht-Straße unseligen Angedenkens, an der das Reichssicherheitshauptamt lag. Ich hatte das anhand meines Berlin-Baedekers schon in Braubach am Rhein gelernt, meinem mittelalterlichen Heimatstädtchen, in dem ich geboren und aufgewachsen bin.

Zimmerstraße 23, Berlin SW 68

Zimmerstraße 23, Berlin SW 68, war die erste Adresse, die ich am Tag meiner Ankunft in der Reichshauptstadt anlief - und das ist wörtlich gemeint: im Dauerlauf, keuchend vor Anstrengung und in Schweiß gebadet.

Hier, im ersten Stock, in einer großen Altberliner Wohnung, saß der »Reichsausschuß der Bildberichterstatter im Reichsverband der Deutschen Presse«.

Hier hatte mein Schicksal zugeschlagen, mein Glück in einem Augenblick "schwärzester" Verzweiflung begonnen.

Ich liebte diese Zimmerstraße, die 28 Jahre lang nur noch ein sandiger Todesstreifen vor und hinter der Mauer gewesen ist.

Ihren Namen las ich zum erstenmal im Hauptpostamt von Koblenz, in einem Brief des Leibfotografen des Führers, Heinrich Hoffmann, an »Herrn Will Tremper, Moselland-Bilderdienst Koblenz-Trier-Luxemburg, Koblenz I, Postfach« - ich war der Lehrling, der morgens um halb acht die Post abholen mußte.
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Zurück in den Herbst 1943

Aber vielleicht ist es angebracht, noch ein halbes Jahr früher zu beginnen, im Herbst 1943, als ich zum zweitenmal an der Oberschule für Jungen in Oberlahnstein sitzenzubleiben drohte.

Mein geliebter Vater Heinrich Tremper hatte unser »Gasthaus zur Marksburg« in Braubach 1941 schließen und Soldat werden müssen.

Das heißt, als einer vom Jahrgang 1902 war er für den aktiven Dienst in der Wehrmacht schon zu alt - wie er im Ersten Weltkrieg zu jung gewesen war - und wurde nur noch zum Wachdienst an der belgisch-luxemburgischen Grenze eingezogen, wo er in Martelingen den ganzen Krieg hindurch ein eher behäbiges Leben führte.
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Mein Vater war ein Filmfan

Hochgeachtet, wie ich hinzufügen möchte, bei seiner Zolltruppe wie bei den Luxemburgern, denn er war ein »Filmfan«, so würde man heute sagen, und kurbelte von früh bis spät auf 16mm und Super-8 alles und jeden, der ihm vor die Kamera lief.

Ich muß wohl nicht erklären, warum der älteste Sohn dieses ersten Schmalfilmers am Mittelrhein ebenfalls ein Filmverrückter wurde.
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Meine Mutter Emilie

Meine Mutter Emilie, geborene Alberti, war zwar ein strammes Bauernweib aus dem Taunus, aber gegen die Schmalfilmer in der Familie völlig machtlos. Dazu kam, daß ich ein ziemlich wilder Knabe gewesen sein muß, der sich für alles interessierte, was nicht zum Schulplan gehörte - ab 1939 für den Krieg, in erster Linie, und davor auch schon für alle Attraktionen der neuen Zeit.

Meine Mutter hat mir oft erzählt, wie ich ihr 1933 auf die Nerven gegangen bin, als die ersten Spielmannszüge der Hitlerjugend durch Braubach marschierten und ihr Vierjähriger sie bestürmte, ihm ebenfalls eine Hitlerjugend- Uniform zu schneidern, und wie ich Knirps beim nächsten Aufmarsch versuchte, hinter den Kolonnen herlaufend, mit ihnen Schritt zu halten.

Was den älteren Hitlerjungen peinlich gewesen sein muß; sie verscheuchten mich: »Hau ab, du Blödian!«
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Wir Kinder in Braubach am Rhein

Dennoch: Wir Kinder in Braubach am Rhein waren alle unpolitisch, und jeden, der später etwas anderes behauptete, gar vom »Widerstand gegen das Hitler-Regime« faselte, habe ich stets, wie die Amerikaner sagen, »mit einer Prise Salz« genossen.

Hingegen waren wir ungeheuer patriotisch, wußten vom Hörensagen und aus der Schule von der »Schmach des Versailler Vertrages« und daß da einer gekommen war, der das deutsche Volk aus tiefster Not gerettet hatte und zu neuer Größe führte.

Was uns bewegte, war die Begeisterung für die Soldaten, die wieder ins Rheinland marschieren durften, für die halbmilitärische Ausbildung, die Geländespiele und Sportfeste unseres Hitlerjugend-Fähnleins 25 im Bann 288 (St. Goarshausen), für Max Schmeling und das unglaubliche Fernsehen, das in Berlin ausgestrahlt wurde, für die Sciencefiction-Romane von Hans Dominik und die Gangstergeschichten von C.V. Rock, aus der Leihbücherei.

Juden?

Die nach dem Krieg so wichtige Frage nach den Juden hätte ich nicht beantworten können. Juden? Das waren diese komisch bis häßlich aussehenden Gestalten mit den dicken Nasen, die in dem Aushangkasten am Rathaus mit dem Drahtgitter davor zu sehen waren, aus einer Zeitung, die »Stürmer« hieß und die niemanden interessierte, denn es gab in Braubach keine Juden.

Es gab irgendwo hinter der Blei- und Silberhütte einen jüdischen Friedhof, völlig verfallen, den mein Vater mir auf einem unserer endlosen Spaziergänge über die Rheinhöhenwege zeigte, aber an mehr erinnere ich mich nicht.

Dreißig Jahre nach dem Krieg noch lebte ich in der Vorstellung, ein Blinder oder doch der einzige Deutsche gewesen zu sein, der in den zwölf Hitlerjahren nie einen Juden zu sehen bekommen hatte - bis auf das eine Mal, im November 1944, nach einem Luftangriff auf Berlin. Darauf komme ich noch.
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Vater hätte 1926 Hitlers Partei in Braubach mitgegründet

Viel mehr verstörte mich in den dreißiger Jahren, daß mein Vater mich, ganz nebenbei, eines Tages wissen ließ, er hätte 1926 Hitlers Partei, die NSDAP, in Braubach mitgegründet, und in unserer Backstube - zu der Gastwirtschaft gehörte eine Bäckerei - hätte er mit jenem Sprenger, der inzwischen Gauleiter in Frankfurt/Main war, den Gau Hessen-Nassau der NSDAP aus der Taufe gehoben.

Ich war ganz baff, als er mir das erzählte, und habe bis 1945 nicht verstanden, warum er 1927 wieder ausgetreten war aus der Partei, die sich die »Erneuerung Deutschlands« auf die Fahne geschrieben hatte, warum er auch 1933 nicht wieder eingetreten war oder 1936 oder 1938, als die Mitgliederzahlen auf zwölf Millionen anschwollen.

»Da hat sich zuviel Gesocks angesammelt und das große Wort geführt«, war seine Antwort auf meine Fragen: »Das kann sich ein Gastwirt, der auf sich hält, nicht leisten.«
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1927 wieder ausgetreten - aber kein Hitler-Gegner

Andererseits war er kein Hitler-Gegner, im Gegenteil: Ich sehe uns mit angehaltenem Atem um den großen Radioempfänger stehen und den Nachrichten aus München lauschen, wo Daladier und Chamberlain und Mussolini sich Hitler beugen, und mein Vater sagt: »Ein doller Kerl, der Führer!«

Doch ich hörte ihn auch »Hitler und die ganze Bande« verfluchen, als der Führer auf einer Rheinlandreise Braubach und die Marksburg besuchen sollte und plötzlich die Nachricht kam, er sei von Godesberg aus direkt nach München weitergeflogen - seitdem ist der »Röhmputsch«, der Hitler zur Änderung seiner Reisepläne zwang, bei uns mit der Erinnerung an 5.000 Paar Würstchen verbunden, die für die zu erwartenden SA-Massen eingekauft wurden, von der Familie Tremper aber fast allein gegessen werden mußten.
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Der große Führer - eine von Gott gesandte Figur

Für mich, der ich von meinem Vater auf unseren Spaziergängen farbige Schilderungen über den Hunger im Ersten Weltkrieg, die grausame Inflation und die Arbeitslosigkeit in den 19zwanziger und frühen 19dreißiger Jahren zu hören bekam, war der große Führer eine von Gott gesandte Figur, die Deutschland gerettet hatte - und ich habe, so jung ich auch war, am großen runden Stammtisch meines Vaters nie etwas anderes gehört.

Die »böse Überraschung«, von der Heinz Höhne in seinem Buch »Die Zeit der Illusionen« spricht, als nämlich Demoskopen des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts nur sechs Jahre nach dem blutigsten Krieg feststellten, daß 46 Prozent der Deutschen noch immer meinten, nie sei es ihnen so gut ergangen wie unter Hitler in der Friedenszeit, war für mich keine.

Genauso hatte ich die ersten zehn Jahre der Hitlerzeit - und erst die ganzen tollen Siege unserer Wehrmacht in den ersten Kriegsjahren - empfunden, ohne mich »politisch« zu fühlen wie heute.
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Möchte wissen, was die UFA von mir will

Latein büffeln, während die Welt in Brand steht? So habe ich mal die Beweggründe beschrieben, die mich im Herbst 1943 aus der Oberschule für Jungen in Oberlahnstein hinaustrieben ins freie Erwerbsleben.

Mein Vater kam aus Luxemburg auf Urlaub und las schweigend den blauen Warnbrief der Schule. Der Krieg hatte seinen Ehrgeiz gedämpft, und so verzichtete er zum erstenmal darauf, mich windelweich zu prügeln - auch so ein Psychologen-Märchen: Was habe ich den Arsch vollbekommen, ohne meinen Vater dafür zu hassen!

Er fragte mich nur seufzend: »Was soll jetzt werden? Ich bin der Jüngste meiner Brüder und habe nie studieren dürfen - wie sehr habe ich mir gewünscht, daß aus Dir mal was Besseres wird!« Er wußte genau, wie er mich »am Portepee fassen« konnte.
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Auf dem katholische Gymnasium, in einer evangelischen Enklave

Seit 1939 ging ich auf dieses katholische Gymnasium, obwohl Braubach eine evangelische Enklave im katholischen Rheinland ist, und er wußte, daß ich jeden Tag davon haßte, Schulaufgaben erst im Morgenzug nach dem vier Kilometer entfernten Oberlahnstein oder im Wartesaal erledigte, aber nächtelang schlüpfrige Bücher aus der »Systemzeit« las, daß ich seit meinem zwölften Lebensjahr ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau aus der Nachbarschaft hatte, deren Mann an der Front stand - sie kam mir »uralt« vor, muß 28 gewesen sein -, und daß ich nur von einem Beruf träumte: Filmregisseur.

Wenn Du nicht lernen willst, dann wirst Du eben Bäcker!

Er hatte das als »Phantasterei« abgetan und mir gedroht: »Wenn du nicht lernen willst, dann wirst du eben Bäcker!« Nun war es soweit.

»Komm«, sagte er, »nimm dein Rad, wir fahren nach Kaub zu meinem Freund, dem Obermeister der Bäcker-Innung!« Und wir radelten hintereinander die Unteralleestraße hinunter, er bog nach links in die Rheinstraße ab, ich bog nach rechts ein, rheinabwärts, Richtung Lahnstein.

Er kam hinter mir her: »Was soll das?« Ich, verbissen: »Zum Arbeitsamt nach Niederlahnstein. Ich will zur Zeitung!« Er schüttelte den Kopf: »Zeitung! - Wie kommst du denn auf die Idee? Aber, bitte!«

Was ich zehn Jahre später von Billy Wilder las - »Wer nicht weiß, was er werden will, sollte Journalist werden; der Journalismus führt überall hin!« -, das hatte ich mit 14, 15 Jahren schon selbst herausgefunden :
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Ein graues Büchlein der Reichsfilmkammer

Neugierig auf alles, was mit Film zusammenhing, war ich in eine Koblenzer Buchhandlung gestolpert, die ein graues Büchlein aus der Schriftenreihe der Reichsfilmkammer im Schaufenster ausstellte, »Betrachtungen zum Filmschaffen« von Dr. Fritz Hippler, hatte es gekauft und nicht mehr aus der Hand gelegt.

Bis zu Hipplers Schrift, die 1942 im Max Hesses Verlag Berlin erschien, hatte ich nur sehr schlichte Vorstellungen vom Film gehabt und kannte nur die Namen bekannter Regisseure.

Nun las ich zum erstenmal von Drehbuchautoren, und nicht den Schmus, der über Schauspieler zu lesen war, sondern atemberaubend harte Urteile über »Nichtskönner«, »abseitige Literaten«, »realitätsferne Schönschreiber«, wie man sie in den Tages- oder Wochenzeitungen des Dritten Reiches sonst nicht fand.

Ich las, daß die besten Regisseure jene wären, die sich ihre Drehbücher selbst schrieben - und auf einmal wußte ich glasklar, daß ich über den Journalismus zum Drehbuchschreiben und folgerichtig zur Regie kommen wollte.
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Dem Tremper geb' ich eine Fünf!

Ich hatte meinen Schulfreunden sowieso schon hemmungslos klargemacht, daß ich in Berlin und beim Film landen würde, und meine Lehrer an der Oberschule zogen bereits bei jeder Gelegenheit über mich her, insbesondere der Studienrat Nicolai, mein Deutschlehrer.

Der haßte meine ausschweifenden Aufsätze, gab sie mir immer als letztem in der Klasse zurück, indem er sie, nach einer dramatischen Pause, in der Hand wiegte und dann jäh, über die Köpfe aller anderen hinweg, in die letzte Reihe schleuderte, wohin ich verbannt worden war.

Dazu schrie er, rot anlaufend: »Der Tremper hat wieder einen Kriminalroman geschrieben! Dem Tremper geb' ich eine Fünf!« Ich weiß nicht, was der Mensch unter einem Kriminalroman verstand. Ich las sie zwar in meiner Jugend, aber ich habe bis heute keinen geschrieben und lese auch keine mehr.

Ich hatte mir eine Erklärung zu eigen gemacht, die auch heute noch kurz und bündig lautet: »Verbrecher sind doof. Doofe Leute interessieren mich nicht!«
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»Das Geheimnis des Kommerzienrats«

Mein erstes Drehbuch schrieb ich mit zwölf Jahren. Es hieß: »Das Geheimnis des Kommerzienrats«, weil mich der Titel so beeindruckte. Erstaunlicherweise bekam ich eine hektographierte Antwort der UFA-Dramaturgie vom Dönhoffplatz in Berlin, gezeichnet »Eichhorn«, worin ich meinen Namen zum erstenmal mit einem »Sehr geehrter Herr...« davor las.

In dem Vordruck hieß es höflich, daß den UFA-Gewaltigen mein Werk sehr gefallen habe, »leider in unserem diesjährigen Produktionsprogramm aber keine Möglichkeit besteht ... « usw.

Das Beste kam zuletzt: Wenn ich neue Ideen hätte, sollte ich nicht zögern, sie ihnen umgehend mitzuteilen. Ich roch, so jung ich war, die Diebstahlsabsicht und habe der UFA nie wieder etwas zukommen lassen.

Etwa um diese Zeit schrieb ich auch mein erstes Buch, eine Abenteuergeschichte »Mit dem Roller quer durch Mexiko«, inspiriert von meinem Lieblingsdichter Karl May, von dem ich zu meiner grenzenlosen Enttäuschung hörte, daß er alle seine tollen Werke über den Wilden Westen in Radebeul im Knast geschrieben hatte, bevor er zum erstenmal nach Amerika fuhr.
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Der Umschlag mit dem UFA-Aufdruck

Aber der UFA-Brief verhalf mir zu ungeahntem Glanz und Ansehen. Ich sehe mich heute noch mit Klassenkameraden auf dem Schulhof in Oberlahnstein stehen und mit spitzen Fingern den Umschlag aus der Tasche ziehen, blasiert seufzend:

»Die UFA hat schon wieder geschrieben ... Möchte wissen, was die von mir wollen ... « Ich ließ die Freunde den Umschlag mit dem UFA-Aufdruck und der Adresse »Will Tremper, Gasthaus zur Marksburg, Unteralleestraße 26, Braubach am Rhein« bestaunen, mehr nicht. Ich hatte meine Geheimnisse mit der mächtigen Filmgesellschaft.

Zurück zum Arbeitsamt in Niederlahnstein

Auf dem Arbeitsamt in Niederlahnstein saß natürlich auch einer, der meinen Vater kannte. »Er will Schriftleiter werden, zur Zeitung gehen!« sprach mein Vater und zwinkerte ihm überdeutlich zu.

Das Wort »Journalist« war im Dritten Reich als »undeutsch« verpönt. Der sogenannte Sachbearbeiter rief: »Aber, nein!? ... Da wollen wir doch mal sehen, was wir da haben — ja, tatsächlich, das Nationalblatt in Koblenz hat eine Vakanz!«

Das Betriebsbüro des größten Blattes im Gau Moselland suchte einen Boten. »Na, bitte!« sagte mein Vater zufrieden. »Da siehste's! Fahren wir nach Kaub zum Obermeister!« Ich verblüffte ihn ein zweites Mal an diesem Tag und wurde Bote im Betriebsbüro des Nationalblattes - heute ist das die bekannte »Rhein-Zeitung«.
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Lebensmittelkarten und Büstenhalter

Wenn die Zeit gekommen ist, das elterliche Nest zu verlassen, sind Kinder zu allem fähig. Überdies bildete ich mir natürlich ein, auch noch in die Redaktion vorzustoßen, wenn ich erst mal einen Fuß im Zeitungsgewerbe hätte.

So fand ich mich am 2. August 1943 mit einem frisch ausgestellten Arbeitsbuch in der Rheinstraße in Koblenz ein. Das Betriebsbüro, aus zwei Sekretärinnen und dem Betriebsleiter bestehend, lag im Erdgeschoß neben der Setzerei, und meine Hauptaufgabe bestand darin, vor acht Uhr morgens dazusein, die Schutzhüllen von den Schreibmaschinen zu nehmen, die Bleistifte anzuspitzen und die eingegangene Post zu verteilen.

Wenn die Damen kamen, beschäftigten sie sich erst mal mit ihren leiblichen Bedürfnissen, zückten ihre Lebensmittelkarten und schrieben mir Einkaufszettel: »Fünfzig Gramm Aufschnitt für mich, zwei Brötchen, eine Gurke ... «

Und ich marschierte zum Bäcker und Metzger oder ins Kaufhaus. Einmal habe ich sogar Büstenhalter Größe D einkaufen müssen; es war Alarmzustand wie vor einem Luftangriff: Der Reichskommissar für Textilien - ein gewisser Neckermann - hatte BHs freigegeben, und die gesamte Weiblichkeit der Stadt rannte, wie von den bekannten Furien gehetzt, in die Geschäfte - ich in Stellvertretung für meine weiblichen Vorgesetzten.
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Walter Vollrath oder Zuviel Schwarzpulver

Bald schon fiel mir beim morgendlichen Einkaufen ein Mann auf, der eine elegant-saloppe Art hatte, das Unerläßliche hinter sich zu bringen.

Er war ein Typ wie später Vico Torriani, mit naturgewelltem dunklem Haar, wehendem Seidenschal, sah auch im Winter braungebrannt aus und hatte einen ungemein gehetzten Schritt an sich, als ob er ständig irgendwo erwartet würde.

Anstatt sich brav beim Bäcker anzustellen, erschien er an der Schaufensterscheibe, klopfte herrisch mit dem Knöchel an dieselbe, hob drei Finger, was offenbar ein Zeichen für drei Brötchen war, und eilte weiter zum Metzger, bei dem sich das Spiel wiederholte.

Wenn er eine Viertelstunde später wieder auftauchte, rannten die Verkäuferinnen vor die Tür und drückten ihm die Bestellung in die Hand. Auch sah ich diesen Zivilisten im besten Soldatenalter bei Rot über die Kreuzung hasten, den Ordnungshüter wie einen lieben alten Freund begrüßend.

Aber richtig fasziniert war ich erst von ihm, als er mir in der Toreinfahrt des Nationalblattes begegnete: Da trug er eine schwere Aktentasche, aus der ein Fotostativ ragte, und er rief jemandem zu: »In drei Monaten bin ich in Berlin!«

Walter Vollrath war der Fotograf der Zeitung

Es sollte sich dies als eine ständige Redensart von Walter Vollrath herausstellen, dem Fotografen der Zeitung. Er war zuckerkrank, was ihn der Wehrpflicht enthob, und als Angestellter des Moselland-Bilderdienstes Koblenz, Trier, Luxemburg unabkömmlich, »u.k gestellt«.

Der Gedanke an Berlin, der nach meinen Planungen noch in weiter Ferne lag, rückte durch Walter Vollraths ständige Drohung, bald dorthin zu verschwinden, plötzlich in greifbare Nähe. Ich begann, dem Mann aufzulauern, ihn zu verfolgen, ihn zu überholen, wenn er auf eine Tür zusteuerte, und sie vor ihm aufzureißen.

Ich half ihm aus dem Mantel und hinein, ich fand regelmäßig seinen dunkelblauen Hut, den er dauernd irgendwo verlegte. Zwangsläufig geriet ich so, auf den Spuren Vollraths, in die Schriftleitung, wie die Redaktion genannt wurde, im ersten Stock des Hauses, leerte Papierkörbe, die mich nichts angingen, und trug Manuskripte, die mich schon überhaupt nicht zu interessieren hatten, schneller als der dafür zuständige alte Bote in die Setzerei.

Walter Vollrath ist meine fotografische Bildung aufgefallen

So fiel ich dem Walter Vollrath auf, und ihm fiel meine fotografische Bildung auf. Ich wußte, wie man einen Film entwickelt, wie Vergrößerungen gemacht werden.

Habe ich schon erzählt, daß mein Vater der älteste Schmalfilmer am Mittelrhein war? Daß er alles filmte und fotografierte, was ihm vor die Augen kam?

Die Braubacher »Widerstandskämpfer« waren empört, als er ihnen nach dem Krieg ihre Aufmärsche in SA-Uniform vorführte und das Meer von Hakenkreuzfahnen, die aus ihren Fenstern hingen.

Jedenfalls, der agile, nach Berlin strebende Vollrath, der sich schon bei allen großen Bildagenturen der Reichshauptstadt beworben hatte und nur noch auf Antwort wartete, fand Gefallen an mir und benutzte mich umgehend als Hilfskraft, wenn am Sonntagmorgen irgendeine offizielle Veranstaltung in der Stadthalle zu fotografieren und er selbst verhindert war.
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Meine ersten Aufgabe - natürlich eine »technische Panne«

»Du stehst hier direkt neben dem Vorhang, die Contax mit dem Weitwinkel auf dem Stativ - versuch' bloß nicht, aus der Hand zu fotografieren! -, und wenn die Bonzen aufspringen und den Arm zum >Heil! Heil!< erheben, machst du nur die Blende auf, zündest die Blitzlichtpfanne und schließt die Blende wieder! Und schon rennst du über die Straße zur Klischee-Anstalt und gibst den Film ab! Alles klar?«

Aber ja doch, und ich werde es dem lieben Walter nie vergessen, daß er mich auch nach dem ersten mißglückten Versuch noch beschäftigte, als ich das offizielle Foto für die Seite eins des Nationalblattes hoffnungslos überbelichtete: Da ich, wenn auch seitlich, auf der Bühne der Stadthalle stand, hatte ich entsprechend Lampenfieber, das sich während der Rede des Gauleiters, oder wer immer es war, so steigerte, daß ich langsam in Panik geriet und mir alle möglichen Imponderabilien einfielen, weshalb ich ungefähr die dreifache Menge Schwarzpulver auf die Blitzlichtpfanne schüttete.

Wumm -!

Die erste Reihe Würdenträger zu meinen Füßen ließ, schwarz im Gesicht, die emporgereckten Arme sinken, und ich ergriff die Flucht durch den Bühnenausgang. Zum Glück hatte Vollrath an diesem Sonntagmorgen eine andere berufliche und keine private Verpflichtung, und das Ganze konnte als »technische Panne« erklärt werden.

Meine Zeit beim Moselland-Bilderdienst Koblenz-Trier-Luxemburg

Vierzehn Tage später kündigte ich im Betriebsbüro des Nationalblattes und wurde am 11. November 1943 »Fotolabor-Anlernling« im Moselland-Bilderdienst Koblenz-Trier-Luxemburg des an der Front beschäftigten SS-Bildberichterstatters Herbert Ahrens.

In seiner Abwesenheit leitete ein Fräulein Poremba den Laden und führte sich gegen den Protege ihres einzigen Fotografen Walter Vollrath besonders streng auf.

Die kleine, nicht unhübsche Person war Anfang Dreißig und verbat sich alle Versuche Vollraths, mich mit einer Kamera auszurüsten. Sie bestand auf der Vorschrift, die Lehrlingen nur mindere Arbeiten gestattete, wie Chemikalien im Labor ansetzen, dasselbe nach Arbeitsschluß säubern, morgens die Post vom Schließfach abholen usw.

Dabei kannte ich mich längst in allem aus, machte virtuos - das heißt, »nach Gefühl« und nicht nach der Belichtungsuhr - auch die schwierigsten Vergrößerungen, wenn die ausgebildeten Laborantinnen nicht weiterwußten, und langweilte mich im übrigen grenzenlos - nein:

Die Grenze war mein angebeteter Vollrath und seine Sehnsucht nach Berlin. Ich sprach mit ihm über nichts anderes, und zwangsläufig begann ich mich mit seinen Zielen nicht nur zu identifizieren, sondern sie auch zu realisieren.

Meine Offenbarung in der Neujahrsnacht 1943/44

In der Neujahrsnacht 1943/44, mein Vater hatte keinen Urlaub bekommen, eröffnete ich meiner Mutter, daß ich »demnächst« nach Berlin gehen würde, um Bildberichterstatter zu werden. Doch die an die Phantasien ihres ältesten Sohnes gewöhnte Frau, von einem Bauernhof im nahen Geisig stammend, hörte mir wohl überhaupt nicht zu: »Jaja, nach Berlin, aber jetzt schaufelst du erst mal den Koks im Keller weg, damit die Rutsche für die nächste Lieferung frei wird!«

Meine Freunde hörten mir aufmerksamer zu: Theo Röder, Walter Feiler, Günter Stehl, Herbert Vogt, Friedrich Deussner, Richard Bindeeck, Fredi Müller, Hans Meschede, Ernst Krämer, Heini Klein, Lothar Kleinjohann, Theo Marzillius, August Müller, Bubi Krüger.
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Dei »Oberstadt-Bande« gegen die »Unterstadt-Bande«

Nur einer oder zwei gehörten noch zu meiner alten »Oberstadt-Bande«, mit der wir vor dem Krieg schon Krieg gegen die »Unterstadt-Bande« geführt hatten:

Ich war der Generalfeldmarschall, der nächste Generaloberst - so ging das weiter bis zum Generalmajor, dem untersten Generalsrang.

Und dann hatten wir noch einen Kleinen, der war der Meldehund ... Herrliche Jugendzeiten waren das auf dem Marksburg-Berg, wo wir Beobachtungsstände in hohen Bäumen und Höhlen zwischen Felsen bauten. Seit ich im Bett der schönen Nachbarin gelandet war, Anfang des Krieges, war das alles vorbei.

Bubi Krüger, mein über alles verehrter Fähnleinführer, war 1943 bei Sizilien als Fallschirmjäger sogar schon gefallen. Bubi hatte mir während seiner Ausbildung in Potsdam-Eiche die ersten Berliner Stadtpläne geschickt.

In der Erinnerung wird mir nun klar, daß ich damals schon einer Strategie folgte, nach der später alles in meinem Leben verlief: Zuerst erzählte ich den Freunden immer wieder, was ich Tolles zu tun beabsichtigte, dann gab es kein Zurück mehr, und ich mußte es tun.
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