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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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1947 war der Deutschen schlimmstes Hungerjahr

Es war in der Tat der Deutschen schlimmstes Hungerjahr, nicht einmal 1945 und 1946 waren so verheerend gewesen. Nun waren die letzten Vorratslager aus Kriegszeiten so leer, daß vielerorts nicht einmal mehr die Mindestzuteilungen der Lebensmittelkarten bedient werden konnten. Wenn nicht bald etwas geschah, würde es ein Massensterben in Deutschland geben, darüber wurden sich auch die Alliierten klar - aus diesem kühlen Grunde, und keinem anderen, bekamen wir ein halbes Jahr später die rettende Währungsreform.
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Zwischen Räubern und Mördern in einer Massenzelle

Anfangs lag ich zwischen Räubern und Mördern in einer Massenzelle von zwanzig Mann, in der jeder Neuankömmling vom Leitbullen erst mal angepöbelt, seiner wenigen Habseligkeiten beraubt und verprügelt wurde, damit er wußte, wer das Sagen hatte.

Was mich vor dieser Prozedur rettete, war meine Brille und mein relativ gepflegtes Aussehen (Sie erinnern sich? Ich war auf dem Weg zu einem russischen Fürsten, als ich verhaftet wurde! Einheitliche Gefängniskleidung gab es nicht).

Irgendwie war das Gerücht, daß ich die Amis reingelegt hätte, schon vor mir in Plötzensee eingetroffen. Das gefiel erst mal allen, und als ich dann noch ein paar Stories aus meiner Vergangenheit erzählte, wie die Werwolf-Odyssee, bei der sich die Amerikaner ziemlich lächerlich gemacht hatten, wurde ich bejubelt und mußte immer neue Histörchen zum besten geben.

(»Wat? Du kennst Ilse Werner?«).
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Die AMI's waren damals sehr unbeliebt, es ging ihnen zu gut

Aber, um noch bei den »Amis« zu bleiben: Damals habe ich mich überhaupt nicht darüber gewundert, daß sie so unbeliebt waren - es ging ihnen einfach zu unverschämt gut, während die eben noch zu »Herrenmenschen« stilisierten Deutschen sich um ihre Essensreste die Köpfe einschlugen und um ihre weggeworfenen Zigarettenkippen rauften.

Später, während der Blockade, als aus der Besatzungs- eine Schutzmacht wurde, habe ich meine Ansicht als die Weisheit des »kleinen Moritz« verworfen. Doch heute, da die besiegten Japaner und Deutschen wieder ganz oben mitmischen, würde ich wieder die Hand für den »kleinen Moritz« ins Feuer legen: Antiamerikanismus blüht dort am stärksten, wo Ohnmacht herrscht, wo die Amerikaner, obwohl in einer langen Wirtschaftskrise, wie selbstverständlich Hungerluftbrücken einrichten und damit den armen Völkern Reichtum und Stärke demonstrieren.
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Fast jede Woche ein Brief von Ingrid

Im übrigen ging es mir auch in anderer Hinsicht besser als meinen Mitgefangenen: Ich bekam jede Woche - fast jede - einen Brief von Ingrid. Bei mir wurden wenigstens die Gefühle satt. Und als ich dann in eine Zweier- und schließlich eine Einzelzelle verlegt wurde, konnte ich mich kaum noch beklagen. Einzelzellen waren für fast alle Häftlinge ein Greuel, für mich nicht.

Ich war am liebsten allein, gab mich den wildesten Träumen hin, onanierte auf Teufel komm raus und fing eines Tages an, ein dickes Kochbuch zu schreiben. Das heißt, ich verstand ja nichts vom Kochen, ich schrieb nur alle wohlschmeckenden Gerichte auf, an die ich mich erinnern konnte.

Wieder wurde ich übersinnlich, als ich, in meiner Einzelzelle vor der vergitterten Luke hockend, intensiv an Kindheitsferien bei den Verwandten meiner Mutter auf dem Land dachte und plötzlich den Geschmack von warmem, frischem Bauernbrot »aus dem Backes« - so wurden die Gemeindeöfen genannt - auf der Zunge spürte, dazu frisch gestoßene Butter und dickes Pflaumenmus. Innerhalb von drei Wochen notierte ich an die tausend Gerichte und veranstaltete ganze Feldzüge durch die Welt des Kulinarischen.
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Für mich neu : meine eigene »Abschalt-Philosophie«

Ich entwickelte meine eigene »Abschalt-Philosophie«, während ich vor der Luke saß und auf dem Fensterbrett das morgendliche Marmeladenbrot erst ableckte, dann in zehn Krümel verwandelte und jede halbe Stunde einen in den Mund steckte, um endlos kauend Magensäure zu produzieren, die das Hungergefühl besänftigte. Sieger vor mir selbst war ich, wenn der letzte Krümel gerade verschwunden war, als das erste Klappern der Mittagssuppe-Kalfaktoren schon wieder durch die Gänge schallte.

Abschalten können ist wohl für jeden Häftling das A und O des Überlebens, besonders für länger Einsitzende. Ich fand die Welt meiner Träume weniger deprimierend als die durchweg negativen Gespräche mit Mithäftlingen, schmiedete für die Zeit nach meiner Entlassung die unglaublichsten Pläne - und immer drehte sich alles um Ingrid, die ich erst mal heiraten wollte. Ich selbst durfte nur zweimal im Monat einen Brief schreiben, ich schrieb fast nur: Wann heiraten wir?
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Heinz Krüger, mein guter alter Freund Krüger von früher

Dann kam, Ende November, mit der Mittagssuppe der »zweite Schlag«: Man stand mit dem ausgewaschenen Topf in der Hand abwartend an der Zellentür, und alle Selbsthypnose half nichts: Der Magen hüpfte vor Erregung wie verrückt, das Wasser lief einem im Mund zusammen. Je näher sie kamen mit ihrem Suppenbottich, desto aggressiver wurde man, schlug mit der Faust gegen die Tür, brüllte »Macht schon!« - und wenn man dann endlich an der Reihe war, starrte man in den Suppenkessel und achtete mit heraushängender Zunge nur auf eines: daß die Kelle tief genug hineinfuhr, um nicht nur Flüssigkeit, sondern auch etwas von dem Gemüse - sonntags vielleicht sogar einen Fetzen ausgekochtes Fleisch - in die hingehaltene Schüssel zu klatschen.

An diesem Tag im November zögerte die Kelle etwas, ich rief »Mach doch!« - und dann geschah das Wunder: Die Kelle tauchte ein zweites Mal tief in den Kessel und holte einen »zweiten Schlag« hervor, dick mit Gemüsestücken gefüllt, wohinter alle her waren in Plötzensee; der »zweite Schlag« war wie eine Ordensverleihung.

Und da erst blickte ich den Kalfaktor an, der mir dieses wundervolle Geschenk machte - und sah direkt in die Augen von Heinz Krüger, meinem guten alten Freund Krüger aus dem Jugendwohnheim in Weißensee! Der Bursche grinste und sagte: »Noch einen?« Aber da mischte sich der Justizwachtmeister ein: »Höhö, Schluß jetzt, Krüger!«
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Wie kommst du nach Plötze?

Und ich konnte gerade noch hören, wie mein Heinz »Wie lange bist'n schon hier?« fragte, dann schloß sich die Zellentür wieder. Am Nachmittag bekam ich einen Zettel von Krüger in die Zelle geschmuggelt: »Mich hat ja fast der Schlag getroffen, als ich deinen Namen gelesen habe! Wie kommst du nach Plötze? Was hast du ausgefressen? Ich arbeite in der Kleiderkammer. Wir müssen uns sehen!«

Am nächsten Morgen war Krüger beim Rundgang dabei, den er sonst unter Hinweis auf sein lahmes Bein im Kollektiv verschmähte, und ich erfuhr: Er hatte vier Jahre bekommen für einen »schweren Raub« im Sommer 1946 - »mit Todesfolge«.

Ihn, der nur Schmiere gestanden hatte, der nicht so schnell weglaufen konnte wie seine Kumpane, ihn hatten sie erwischt; daher die harte Strafe. Ich war hocherfreut, den alten Freund wiederzusehen, erzählte ihm meine Geschichte und verstand jetzt, warum ich nie wieder etwas von ihm gehört hatte.

»Wir sehen uns morgen früh um fünfe!« sagte er, als wir wieder eingeschlossen wurden. Um fünf? Wie das? Aber »Olle Ihmchen« Krüger hatte Plötzensee schon fest im Griff: Punkt fünf Uhr morgens holte mich der Nachtdienst aus der Zelle und begleitete mich in den Keller, wo ein Justiz-Oberwachtmeister mich schon mit einer Gießkanne erwartete: »Krüger aus der Kleiderkammer sagt, du bist in Ordnung?«
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400 Laibe Brot nebeneinander wässern - Eine Saubande!

In einem saalartigen Raum - vielleicht in dem, in dem die Männer des 20. Juli an Fleischerhaken gehängt worden waren - lagen 400 Laibe Brot nebeneinander auf dem steinernen Boden, die ganze Lieferung für Haus IV mit seinen über 1200 Insassen!

»Sprüh die mal schön ein«, sagte der Oberwachtmeister, »damit sie richtig schwer werden!« Eine halbe Stunde später kamen die Kalfaktoren, um die genäßten Brote in Scheiben zu schneiden: 100 Gramm sollte eine Scheibe wiegen, gewässert konnte sie halb so dick abgeschnitten werden, hatte das vorgeschriebene Gewicht - für die Justizbeamten fielen täglich soundso viele Extrabrote ab, die sie privat verhökern konnten. Eine Saubande!

Ich beschloß sofort, einen Artikel zu schreiben und sie alle hochgehen zu lassen. Aber ich habe ihn natürlich nie geschrieben, sondern mich brav jeden Morgen um fünf mit der Gießkanne abgegeben, um ein paar Extrascheiben in die Tasche stecken zu können.

Um den 10. Dezember 1947 - Verlegung nach Nikolassee

So um den 10. Dezember 1947 herum wurden die leichteren Fälle aufgerufen, sich mit ihren Habseligkeiten auf dem Hof zu versammeln, und ein mächtiges Theater entstand im Haus. Jeder, der nicht auf den Hof beordert wurde, veranstaltete einen Riesenkrach. »Persönliche Sachen mitbringen!« konnte nur »Entlassung!« bedeuten, die traditionelle Amnestie kurz vor Weihnachten.

Doch wir wurden in eine ganze Reihe von »grünen Minnas« verladen und quer durch Berlin nach Nikolassee kutschiert, um im ehemaligen UNRRA-Lager für »Displaced Persons«, das langsam leer geworden war, in frischer Luft und etwas besserer Verpflegung die letzten Wochen oder Monate unserer Strafe abzusitzen - zu überleben, besser gesagt.

Ich rechnete mit meiner Entlassung so um den 1. März 1948 herum. Mein Zimmer bei Frau General Reuthe war mir erhalten geblieben, und auch die Korrespondenten Jim O'Donnell und James Wakefield Burke ließen regelmäßig grüßen; ich war zuversichtlich, über die Runden zu kommen.
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»Du wirst entlassen!«

Die »Außenstelle Nikolassee«, südlich der Potsdamer Chaussee, wirkte wie eine eisverkrustete Mondlandschaft und deprimierte mich unendlich. Jetzt lag ich wieder mit einem Haufen unangenehmer Kerle in einer Baracke herum, es stank bestialisch, und die »bessere Verköstigung« bestand darin, daß wir im Gemüsegarten den gefrorenen Rosenkohl selbst aus der gefrorenen Erde kratzen und auf einem Kanonenöfchen weich kochen durften; es schmeckte gräßlich. Ich vermißte meinen Heinz Krüger und die morgendliche Gießkanne mit der Sonderzuteilung Brot.

Aber ein paar Tage nach meiner Ankunft dort stand plötzlich Ingrid am Zaun, mein schöner Sommertraum, und wirkte im pelzbesetzten Wintermantel und Kopftuch ganz fremd. Sie rief mir zu: »Du wirst entlassen!«
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Das französische Außenministerium, die französische Botschaft usw.

Wie das? Und woher wußte sie? Und wann, vor allem, sollte ich entlassen werden? Was ich nur ahnte, aber nicht mal erhoffen konnte, das waren gewisse Aktivitäten des treuen Felix Bernard hinter den Besatzungskulissen:

Er hatte meine Verurteilung abwarten müssen, um überhaupt tätig werden zu können; einen Häftling der Army-Abwehr gab es offiziell gar nicht. Erst durch das veröffentlichte Urteil war ich juristisch wieder existent geworden (sollte mir ein Amerikaner noch mal was über den NKWD der Russen erzählen!).

Mit der ganzen Macht des »Deuxieme Bureau« im Rücken hatte sich Felix über den Quai d'Orsay, das französische Außenministerium, an die französische Botschaft in Washington gewandt, die wiederum ein amerikanisches Anwaltsbüro in Detroit (!) mit meinem Fall betraute.

Als ich viele Jahre später einen Briefkopf dieser Firma sah, flippte ich aus. Da standen neunmal - in Zahlen: 9 - die Namen der Gebrüder Birnkrant, Birnkrant, Birnkrant, Birnkrant, Birnkrant, Birnkrant, Birnkrant, Birnkrant & Birnkrant drauf! Wie wollten all diese Birnen meine vorzeitige Freilassung von Detroit aus betreiben ?

Jedoch: Am 20. Dezember wurde ich, mit einigen Übeltätern, denen die »Außenstelle« nicht bekommen war, überraschend nach Plötzensee zurückverlegt, bezog sogar meine alte Einzelzelle wieder und sang mit Heinz Krüger »O du fröhliche, o du selige...«
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Am 24. Dezember - ein Wunder

Am 24. Dezember um 17 Uhr, als die Gefangenenbescherung durch allerlei karitative Organisationen gerade beginnen sollte, wurde ich von einem amerikanischen Offizier formlos in einer grünen Limousine abgeholt und bei einbrechender Dunkelheit nach Dahlem gefahren.

Vor einer Villa Im Dol hielt er an und sprach zum erstenmal mit mir. Er deutete mit dem Finger auf die Haustür, an der ein grüner »Christmas«-Kranz hing, und sagte: »Go in there!« Mit meinem ollen Karton in der Hand wurde ich von einer ganzen Horde von amerikanischen und britischen Offizieren und Zivilisten wie ein lieber alter Freund begrüßt - ein verabredetes Theater ganz offensichtlich!

Sie klopften mir alle auf den Rücken, schüttelten mir die Hand und fragten, wie es mir ginge: »How nice to see you!« und »How have you been?« und »Have a drink!« Ich war konsterniert, total verwirrt, erwartete jeden Augenblick diesen Tom von G2 zu sehen, der mich fragen würde: »Na, war das nicht alles ein toller Witz?« Aber unter diesen Partygästen befand sich kein einziges bekanntes Gesicht.
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Birnkrant, Birnkrant Birnkrant ...

Eine wasserstoffblonde deutsche Housekeeperin - i gitt! Eine Haushälterin! - führte mich ins Eßzimmer und stopfte mich mit Hummern und Mayonnaise, Kaviar und Idaho-Potatoes voll. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und fraß wie der berühmte Scheunendrescher, überzeugt, daß sich das Ganze jeden Augenblick als ein gräßlicher Irrtum herausstellen würde.

Dazu trank ich schweres dunkles Guinness-Bier und verabschiedete mich schließlich bei der deutschen Haushälterin, denn die Weihnachtsparty wuchs sich, wie stets bei den Amis, zu einem Totalbesäufnis aus. »Sagen Sie mal«, fragte ich die blonde Maid, »wer ist eigentlich der Hausherr hier?«

Sie tat erstaunt: »Na, der, der Sie eingeladen hat! Mister Arthur Birnkrant! Hat er sich Ihnen nicht vorgestellt?« Der Name sagte mir noch nichts, ich wollte auch noch erfahren, was der Mister Birnkrant so machte.

»Ach, das wissen Sie nicht? Das ist doch der Legal Adviser, der Rechtsberater von General Clay! Haben Sie denn den General nicht gesehen? Der war doch auch kurz hier! Da drüben wohnt er«, und sie zeigte, in der Haustür stehend, auf ein hochherrschaftliches Anwesen auf der anderen Straßenseite, sehr englisch, im Tudorstil gebaut, gut fünfzig Meter zurück von der Straße liegend, mit einer prächtigen Auffahrt. »Der General kommt öfter zu uns rüber...«
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Ja, da war doch mal was .... mit Wolfgang Harich

Und auf einmal sah ich wieder eine Szene aus dem Frühjahr 1947 vor mir - ja, natürlich, das war der Sitz des Oberkommandierenden Lucius D. Clay, und ich war bei einem jungen Kerl zu Besuch gewesen, der direkt neben der Einfahrt des Generals wohnte.

Harich hieß er, ja Wolfgang Harich, und sollte in wenigen Jahren schon eine gewisse Berühmtheit als Anführer einer Opposition gegen Ulbricht erlangen. Als ich ihn besuchte, hatte er noch ein Weihnachtsbäumchen, geschmückt mit lauter kleinen roten Sowjetsternen, im Zimmer stehen und sprach über seinen Vater.

Ich erinnerte mich, daß es Frühling war und beide Fensterflügel zum Park des Generals hin offenstanden. Auf einmal horchte Harich, sprang auf, schaute aus dem Fenster, nahm Anlauf und spuckte in weitem Bogen hinaus, genau auf das Dach der Limousine des Generals, die gerade in die Auffahrt einbog. Ich hielt Wolfgang Harich für verrückt, damals, und habe ihn nie wiedergesehen. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wie ich ihn kennengelernt und warum ich ihn besucht habe.
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Wieder ein Schwur, der nicht gehalten wurde.

An diesem Weihnachtsabend bin ich dann schnurstracks in die Schorlemerallee hinübergelaufen, zu Ingrid, und fing vor dem U-Bahnhof Podbielskiallee schon an zu kotzen. Ich glaube, ich habe die halbe Nacht im Badezimmer der Familie Weymann verbracht. Mit dem amerikanischen Geheimdienst, schwor ich mir, will ich nie wieder etwas zu tun haben! Ein Schwur mehr, der nicht gehalten wurde.

Ingrid war süß zu mir, wie soll ich es anders bezeichnen, aber nach diesem letzten halben Jahr hätte ich wahrscheinlich jede Frau »süß« gefunden. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Gerd allein auf einer Villenetage; die Ehe der Eltern war schon seit Anfang der 19dreißiger Jahre geschieden.

Unterm Tannenbaum erfuhr ich, daß Papi nach der Scheidung ein SS-General geworden war, von dem die Familie nichts mehr hörte. Wir hatten vorher nie darüber gesprochen.
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Felix Bernard schenkte mir zu Silvester eine LEICA II

Der erste, den ich noch vor Silvester besuchte, war natürlich Felix Bernard. Er hatte die zweitausend Reichsmark monatlich nicht nur die ganze Zeit an Ingrid weiterbezahlt - er hatte auch das größte Weihnachtsgeschenk für mich parat: eine gebrauchte Leica II mit einem Elmar 1:50 Objektiv. Ich 19jähriger Lümmel bot dem 40jährigen im Überschwang, aus vollem Herzen, das »Du« an, was er lachend akzeptierte.

Anschließend traf ich mich mit Werner Asendorf, der ebenfalls vorzeitig entlassen worden war und nicht mehr ganz so deprimiert schien: Seine schöne Frau mit den beiden Töchterchen war aus Amerika eingetroffen, die ganze Familie wohnte bei Werners Schwester im Kadettenweg in Lichterfelde-West. Mir kommt's in der Erinnerung so vor, als hätte ich jeden Tag, den Gott werden ließ, mit Werner Asendorf verbracht. Wir wurden ganz enge Freunde.

Er schrieb für den »Abend« und den »Telegraf«, für den »Kurier« und jede Menge amerikanischer Blätter. Durch Werner lernte ich nun auch den Rest der amerikanischen Korrespondenten kennen, aber der Mann, mit dem er mich von vornherein zusammenbringen wollte, hatte gerade eine Goebbels-Biographie geschrieben und befand sich in den USA bei seinem Verleger: Curt Riess.

Nie verzagen, Riess befragen

Anfang der 19dreißiger Jahre muß ihn jeder in Berlin gekannt haben. Curt Riess war ein Sportreporter vom »12-Uhr-Blatt«, aber auch in allen Theatergarderoben zu Hause, ein Belami der Damen. Er schrieb über Boxkämpfe und Sechstagerennen, weil sich dort die Gesellschaft traf, über Fußball oder Leichtathletik weniger.

Daß er 1933 nach Paris gehen mußte, weil er Jude war, dürfte ihm das Herz gebrochen haben: In Berlin war er zu Hause, hatte er seine Freunde und Freundinnen, in Paris war er ein »Nebbich«, den niemand kannte.

Aber Pierre Lazareff, der Chefredakteur des großen Nachmittagblattes »Paris Soir«, von dem noch die Rede sein wird, schickte den 30jährigen Riess nach New York, und hier gelang dem Berliner noch eine Karriere, eine größere, als er sie je in Deutschland hätte machen können.

Er blieb die ganzen zwölf Jahre drüben und schrieb Dutzende von Büchern, die alle unter den Nazis in Berlin spielten, er war der Experte, nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an und wurde bei Kriegsausbruch ein Star des OSS (Office of Strategie Services), kurz: des Militär-Geheimdienstes, für den er im Rang eines Captains in Uniform nach Deutschland zurückkehrte.
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Hintergrundinformationen über Curt Riess

»Eine Woche in Berlin genügte, und ich zog die Uniform aus und nie wieder an«, hatte Curt Riess dem Werner Asendorf anvertraut. Er brannte darauf, so viel wie möglich Bekannte aus der Zeit vor 1933 wiederzusehen, sich ihre Leidens- oder auch Nichtleidensgeschichte anzuhören, den Opfern Hitlers zu helfen, den Mitläufern zu verzeihen und die »Unverbesserlichen« anzuprangern.

Was diesen Curt Riess mehr als alles andere faszinierte, war die Figur des teuflisch genialen Propagandaministers Joseph Goebbels. Das ganze erste Jahr nach dem Krieg hatte er, mit Hilfe Asendorfs, recherchiert, die Mitarbeiter von Goebbels gesucht und interviewt, um die Biographie des Mannes zu schreiben, den er aus der Ferne so lange bekämpft hatte.
»Ich mache so etwas nie wieder«, sagte er zu Asendorf. »Man kann eine Geschichte auch zu Tode recherchieren - dieser Goebbels ist mir, bei allen Schurkereien, immer sympathischer geworden!«

Noch heute liest sich Riess' Goebbels-Biographie überzeugender als all die späteren. Dies alles wußte ich von Curt Riess schon, bevor ich ihn kennenlernte.
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Es fing nicht gut an mit "Mister" Reiss ......

Als Curt Riess im Frühjahr 1948 nach Berlin zurückkehrte, ließ er sich für eine ganze Reihe amerikanischer Magazine akkreditieren und durfte, wie alle Korrespondenten, ein beschlagnahmtes Haus beziehen.

Er entschied sich für die Sven-Hedin-Straße 5 in Zehlendorf-West, die Straße, die dank des neuen Briefpapiers von Jim Burke immer noch so hieß, neben
dem amerikanischen Presseklub.

Werner Asendorf stellte mich »Mister« Riess - auf die Anrede legte er lange Zeit wert -, noch im Hotel am Zoo vor, bevor er umzog, und es wurde eine Haßliebe auf den ersten Blick: Ich sah einen 45 Jahre alten, leicht gedrungenen Mann mit großen, etwas vorstehenden Augen, der von Anfang an Katz und Maus mit mir spielte.

»Soso«, sagte er, irgendwo anders hinschauend, »Sie wollen also Asendorfs Nachfolger werden ... Trauen Sie sich denn das zu? Kennen Sie sich aus in Berlin? Wissen Sie, worum es mir geht?« Und ähnlich Inquisitorisches.

Er hatte nicht die leichte Art der geborenen Amerikaner, mit denen ich sofort warm werden konnte, er steckte voller Mißtrauen, behauptete zum Beispiel in Asendorfs Gegenwart: »Wissen Sie, junger Mann, der gute Werner schleppt mir hier jeden Amateur an, damit ich ihn aus den Fängen lasse. Er verdächtigt mich sogar, seine Auswanderung in die USA zu hintertreiben, weil er glaubt, daß ich nie wieder einen so guten Rechercheur wie ihn finde ... Da ist möglicherweise etwas Wahres dran ...« Nun wußte ich wenigstens, warum Freund Werner mich unbedingt mit Riess bekannt machen wollte, doch ich konnte ihn verstehen.
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»Dieser Riess ist mein Tod!«

Von einer Bezahlung für meine zu leistenden Dienste war vorläufig noch keine Rede. Er schenkte mir eine sehr schöne Schweizer Krawatte zum Abschied, behielt Asendorf noch bei sich und brachte mich vor die Tür seines Hotelzimmers. »Sie können mir einen Gefallen tun«, sagte er. »Unten in der Hotelhalle wartet Hubsy von Meyerinck auf mich. Sagen Sie ihm, Mister Riess braucht noch zehn Minuten, bevor er heraufkommen kann.«

Hubert von Meyerinck zerbiß nervös sein Taschentuch, schoß hoch, als ich ihn ansprach, und stieß einen tierischen Laut aus, als er hörte, er müsse noch länger warten.

»Dieser Riess ist mein Tod!« jammerte er. »Ich bin doch wirklich kein Nazi gewesen - wo werd' ich denn! Ich bin doch schwul! Aber der Riess hat was in der Hand gegen mich, irgendeine Dummheit, die ich gemacht habe! Natürlich war ich mit dem einen oder anderen jungen Offizier befreundet - mein Gott! Man ist doch auch nur ein Mensch! Vielleicht war auch ein hübscher SS-Mann dabei, wie soll ich das wissen? Laß ich mir den Ausweis zeigen, wenn ich einen knackigen Arsch vor mir habe - was? Wie? Sagen Sie doch was!«
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Doch es kam alles ganz anders

Und dabei legte er mir schon vertrauensvoll die Hand aufs Knie und schaute mich mit blutunterlaufenen Augen an, der arme Mime. Ich beschloß zu warten und wurde nicht enttäuscht. Zuerst kam Werner Asendorf herunter und schlug mir auf die Schulter: »Mensch, Junge! Du bist der erste, der dem Riess gefällt! Halt' dich ran! Das wird was mit euch beiden!«

Ich sagte: »Laß uns auf den Hubsy warten. Der ist ganz verzweifelt gewesen. Mal sehen, was der Riess mit ihm vorhat!« Eine halbe Stunde später kam Hubert von Meyerinck trällernd die Hotel treppe herabgesegelt und juchzte:

»Nie verzagen - Riess befragen! Also, das ist ja ein Schatz, dieser Curt! Er hat meine Akte gesehen - tiefschwarz, tiefschwarz! Sie wollten mich schon verhaften, die Amerikaner! Aber Curt hat die Akte verschwinden lassen - einfach so! Ist das nicht ein Schätzchen, unser Curt? Gehen wir einen trinken, Jungs?«
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Gründgens und Krauß in der Falle

Es sprach sich herum in den Berliner Künstlerkreisen, daß Curt Riess etwas tun konnte für einen belasteten Schauspieler oder Regisseur, der Probleme mit seiner Entnazifizierung hatte.

Und sie pilgerten alle hinaus zu ihm in die Sven-Hedin-Straße, die unter Hitler geblieben waren, und warfen sich reumütig vor ihm in den Staub, von Jannings über Gründgens bis Werner Krauß.

Und der Theaterliebhaber trampelte nicht auf ihnen herum, wie Otto Preminger in Wien, der seine alten Kollegen gnadenlos fühlen ließ, was er von ihnen hielt. Nein, Riess wirkte noch ein bißchen perfider, wenn er die »Nutznießer des Naziregimes« aufhob und sich kopfschüttelnd ihre Geschichten vom »Inneren Widerstand« anhörte.

Er liebte es, wenn ich mit meiner Leica in der Nähe war und heimlich ein Bildchen von Käthe Haack schoß, die merkwürdig lange ihren blonden Kopf in seinem Schoß vergrub und zu jeder Frage, die er ihr stellte, verzweifelt nickte:

»Und Göring hat einfach verlangt, daß du ...? « oder »Raddatz war doch dein Schwiegersohn?« Es kam Hilde Sessack, diese fleischgewordene Sinnlichkeit, die schon Albers und Curd Jürgens und was weiß ich wem noch gefällig gewesen war, speiste stundenlang mit »Curtchen« im Schlafzimmer, während ich auf die Straße hinausgeschickt wurde, um ihren Ehemann Hasso Osterkamp zu beruhigen.

Der zeigte mir eine geladene Pistole und sprach drohend: »Mein Vater war der Fliegergeneral!«
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Sie sind ein Schwein, Herr Staatsschauspieler Wegener!

Ich half Willi Forst aus dem Mantel, der seine Frau Mausi und seinen Dackel zum Lunch mitgebracht hatte und hochinteressante Theorien über den speziellen Wiener Antisemitismus entwickelte - Curt Riess bestellte ihm Grüße von Marlene Dietrich.

Anschließend durfte ich ihn mit Dackel, aber ohne die Gemahlin, im Garten fotografieren. Ich erlebte eine unheimliche Szene mit dem großen alten Paul Wegener, in der Riess ihn nach einem zunächst harmonisch verlaufenen Abendessen, plötzlich anschrie: »Sie haben >Kolberg< mitgemacht und vierunddreißig schon diesen Nazifilm >Ein Mann will nach Deutschland< inszeniert! Sie haben sich danach gedrängt, für Goebbels Propaganda gegen uns Emigranten zu machen! Sie sind ein Schwein, ein Schwein, Herr Staatsschauspieler Wegener!«

Ich stand mit der Kaffeekanne in der Hand hinter der halboffenen Pendeltür, benutzte jede Gelegenheit, die Ohren zu spitzen und Martha, der Haushälterin, beim Servieren zu helfen. Paul Wegener blieb ganz ruhig, schob seinen Stuhl zurück, erhob sich langsam und sagte nur ein Wort, ein erschreckendes allerdings, für die damalige Zeit: »Judenlümmel!« Und ging.

Curt Riess rannte ihm bis zum Gartentor nach und verfluchte ihn: »Tot umfallen sollst du!« Wegener war schon alt, über siebzig, und nur gekommen, weil Riess ihn von seinem Chauffeur hatte abholen lassen. Ungeniert ließ er sich im Fond des Wagens nieder, kurbelte das Fenster runter und antwortete: »Dito! Dito!« Er starb noch im selben Jahr.
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Anschauungsunterricht bei Curt Riess über Gegner und Mitläufer

Der Anschauungsunterricht, den ich bei Curt Riess über Gegner und Mitläufer des Naziregimes erhielt, war nicht von Pappe. Die Frauen verstanden sich mit Riess besser zu arrangieren als die Männer.

Ich sah die aparte Diseuse Tatjana Sais um die Mittagszeit ins Haus huschen und in den oberen Stockwerken verschwinden - und abends, ganz offiziell, mit ihrem Ehemann Günter Neumann zu einer kleinen Party wiederkommen.

Bei einer dieser Gelegenheiten fotografierte ich das Bild auf der nächsten Seite, das Curt Riess als Hahn im Korb zwischen Käthe Haack und Tatjana Sais zeigt, während Neumann und der bekannte Filmkomponist Werner Eisbrenner (»Beim ersten Mal, da tut's noch weh«) sich einen Sessel teilen.

Riess verschickte das Foto an Freunde in Hollywood und diktierte selber einen Text dazu: »Nun schaut euch bloß dieses Schmucktuch an, das Curt heraushängen läßt! Man merkt ihm an, daß er den Stork-Club von innen gesehen hat, während die Herren rechts es höchstens bis in den KDDK gebracht haben, einen Klub von Goebbels' Gnaden im Berlin der Nazizeit, der sich Kameradschaft der deutschen Künstlen nannte...«
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Das Ehepaar Neumann

Das Ehepaar Neumann, seit den dreißiger Jahren verheiratet, stellte eine Institution in Berlin dar. Gustaf Gründgens hatte im Winter 1947 Neumanns überaus erfolgreiche Kabarett-Revue »Alles Theater« im Femina-Haus in der Nürnberger Straße inszeniert, und als das Foto entstand, arbeitete der ebenso geniale wie scheue Kabarettist gerade an der Vertonung der filmischen Heimkehrer-Satire »Berliner Ballade«.

Es könnte das letzte Foto gewesen sein, das die Neumanns zusammen zeigt. Keiner machte nach dem Krieg so treffendes politisches Kabarett wie die beiden mit ihrer Revue »Schwarzer Jahrmarkt« und der endlosen RIAS-Serie »Die Insulaner« - aber nun strebten sie auseinander. Günter Neumann hatte sich anscheinend in die Schauspielerin Carola Höhn verliebt, und Tatjana Sais traf einen alten Verehrer aus Vorkriegstagen wieder, den ehemaligen Berliner »Daily Mail«-Korrespondenten Hugh Carlton Greene, der in Hamburg als britischer Controler des neuen Nordwestdeutschen Rundfunks tätig war.

Tatjana Sais reichte die Scheidung ein und heiratete den Engländer, der es unterdessen zum mächtigen Generaldirektor der BBC gebracht hatte. Damit wurde sie die Schwägerin seines berühmten Bruders Graham Greene und, nachdem die Queen ihren neuen Ehemann zum Ritter geschlagen hatte, auch noch Lady Tatjana. Zwanzig Jahre später erst kam sie nach Berlin zurück, um zu sterben, und die Öffentlichkeit nahm keine Notiz mehr von ihr.
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Curt Riess und Gustaf Gründgens

Ja, Curt Riess gab mir vielerlei Stoff zum Nachdenken. Ich sah einen heimgekehrten Emigranten vor mir, der sich ruchlos an den Zurückgebliebenen rächte und es genoß, eine Macht auszuüben, die ihm das Schicksal zufällig - zufällig? - verliehen hatte.

Was er, vor meinen Augen und Ohren, allein mit Gustaf Gründgens und Werner Krauß getrieben hat! Dem ehemaligen Staatstheater-Intendanten konnte er mit seiner Vergangenheit im Dritten Reich nicht kommen, die war geklärt.

Darum redete er ihm eine heimtückische Krankheit ein, von der (»Um Himmels willen!«) die Öffentlichkeit und selbst Gründgens' nächste Umgebung nie etwas erfahren durfte.

Der arme Hypochonder wurde Riess so hörig, daß er sich von ihm nach Kreuzlingen am Übersee schaffen ließ, in das einzige Sanatorium, in dem ihm vielleicht geholfen werden könnte - zu spät erkannte Gründgens, daß seine Fenster vergittert waren.

Curt Riess indessen lachte sich in meinem Beisein ins Fäustchen, als wochenlang irgendwelche Leute anriefen und von irgendwelchen Zetteln berichteten, die aus dem Sanatorium geschmuggelt worden waren.

»Ein gewisser Gustaf braucht dringend Ihre Hilfe!« Ich glaube, diese Gemeinheit hat ihm Gustaf Gründgens nie verziehen. Aber das Material für eine große Gründgens-Biographie, mit Hunderten von persönlichen Briefen und Dokumenten, lag schon im Riesschen Keller.
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Curt Riess und Werner Krauß

Oder der Fall Werner Krauß: Kein anderer großer Schauspieler wurde nach dem Krieg so verachtet wie er, der im »Jud Süß« darauf bestanden hatte, gleich fünfmal die Karikatur eines alten Juden zu spielen.

Krauß behauptete weinerlich, damit habe er die Flucht nach vorne antreten und jedem klarmachen wollen, daß er seine Mitwirkung an dem Film nicht ernst nehme. Doch die Juden nahmen sie ernst und sorgten rigoros dafür, daß der berühmte Schauspieler nur noch in Österreich - und keinesfalls mehr in Berlin! - auftreten konnte.

Nun, ich hörte wochenlang zu, wie Curt Riess mit dem Hofrat Hilbert von der Burgtheater-Verwaltung in Wien telefonierte und schließlich ein Gastspiel von Krauß mit einem Stück Gerhart Hauptmanns organisierte, ja, sich zum »Schutzpatron« des Schauspielers ernannte.

»Ich, als Amerikaner und Vertrauter von General Clay, garantiere für deine persönliche Sicherheit ...« Als es dann soweit war, hatten sich Zehntausende von Demonstranten vor dem Theater am Kurfürstendamm versammelt. Die Polizei rückte mit Feuerwehrschläuchen an, Wasserwerfer gab's noch nicht, und ich, ausgerechnet, der schon den ganzen langen Tag mit dem Schauspieler Händchen hatte halten müssen, war der erste, den ein Wasserstrahl traf, als wir nach der Vorstellung den Bühnenausgang verließen.

Riess schickte mich als ersten hinaus, hinter mir duckte sich Werner Krauß und hinter dem versteckte sich Riess, der Teufel. Er hatte Krauß ganz bewußt in eine Falle gelockt! Noch in der Nacht flüchtete der große alte Mann der preußischen Bühnen aus Berlin und kehrte nie wieder.
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Die andere Seite von Curt Riess

Andererseits konnte Curt Riess ein Ausbund an Charme sein, ein hervorragender Lehrer auf allen journalistischen Gebieten, der mir in den fünf Jahren, die wir zusammen waren, glatt eine Universität ersetzte.

Sogar ein Freund konnte er sein. Als wir uns das letzte Mal zerstritten - und wie!, mit Handgreiflichkeiten und anrückender Militärpolizei! - und ich Monate später mit einer nassen Rippenfellentzündung ins Krankenhaus mußte, war er der erste, der sich bei der Verwaltung meldete und für die Kosten aufkam.

Ich habe mich später oft in seine Situation hineinzuversetzen versucht und gefragt, was ich wohl getan hätte, wenn ich als hoffnungsvoller Journalist 1933 aus dem Land vertrieben worden und 1945 als Sieger wiedergekommen wäre. Hätte ich mir die perfide Rache nicht auch gegönnt? Charakter ist was Schönes, besonders auf dem Papier.
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Thea von Harbou war auch bei Curt Riess

Ich erinnere mich sehr gut auch noch an die einzige Künstlerin, die diesen Curt Riess mit seinen privaten Entnazifizierungsmethoden voll ins Abseits schickte.

Das war Thea von Harbou, die unbestreitbar größte Drehbuchschreiberin des deutschen Films. Die damals 59jährige Autorin der »Nibelungen«, des »Dr. Mabuse«, des »M« und des »Tiger von Eschnapur«, um nur einige ihrer Titel zu nennen, war von Curt Riess zum Mittagessen eingeladen worden, und ich Filmfan durfte mit am Tisch sitzen.

Zuerst plänkelte das Gespräch so dahin, dann ließ Riess ein paar bedauernde Worte über ihre Situation fallen und darin anklingen, daß er möglicherweise etwas für sie tun könne, wenn ... äh ... wenn ..., er wußte nicht so recht, wie er es sagen sollte, wenn also »das Problem der politischen Überprüfung« näherkäme ...

Thea von Harbou stocherte in ihrem Essen und hörte ihm nur zu, anstatt auf die Knie zu fallen und seine Hand zu küssen. Schließlich hob sie den Kopf und schaute ihn groß an: »Ja, Curt?«
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Fremd, obwohl er sie als Amerikaner alle "Duzte"

Jeden Prominenten, der zu ihm kam, konfrontierte der ehemalige Berliner schon am Eingang mit der amerikanischen Art, sich beim Vornamen zu nennen, und da es im Englischen kein »Sie« gibt, war er mit jedem sofort »per Du«.

Thea von Harbou also, seine neue Duzfreundin, die er nie vorher gesehen hatte, blickte ihn fragend an. Sie war 1931 schon Parteigenossin geworden und hatte - im Gegensatz zu ihrem Ehemann Fritz Lang, der 1933 emigriert war - auch unter Goebbels so manchen großen Film geschrieben, wie »Annelie« mit Luise Ullrich oder zuletzt »Kolberg«, den Durchhaltefilm.

»Ich habe kürzlich erst mit Fritz telefoniert«, wich Riess aus, »aber er scheint leider nicht bereit, ein gutes Wort für dich einzulegen ...« Und weil sie immer noch schwieg, gab er sich einen Ruck und sagte forsch: »Ich könnte natürlich bezeugen, liebe Thea, daß du immer dagegen warst!«

Da schüttelte sie den Kopf und verblüffte Riess mit den Worten: »Du mußt mich mit jemand verwechseln, Curt! Ich war eine begeisterte Nationalsozialistin, wenngleich ich mir verbitten würde, mit dem Schimpfwort >Nazi< verunglimpft zu werden. Ich halte mich heute noch für eine nationale Sozialistin!«

Und erklärte ihm, was sie darunter verstand - daß sie von Jugend an schon immer in allen möglichen sozialen Einrichtungen aktiv gewesen war, sich im Krieg freiwillig als Krankenschwester gemeldet hatte und nach dem Krieg selbstverständlich zu den ersten Trümmerfrauen gehörte.

»Mich brauchten die Russen nicht erst zwangszuverpflichten, Curt! Schau dir meine Fingernägel an...«

Darauf war Riess nicht gefaßt gewesen. Er wurde richtig gemein zu Thea von Harbou, warf ihr vor, Fritz Lang (von dem sie seit 1934 geschieden war) mit diesem Geständnis »noch einmal verraten« zu haben, und erging sich in längeren Ausführungen über die Unmenschlichkeiten der SS.

Ich war einfach dumm, sagte Thea von Harbou

Die große Drehbuchautorin ließ sich davon nicht abhalten, weiter in ihrem Essen herumzustochern, sogar noch einen Nachschlag zu nehmen - »Ich weiß, ich esse wie ein Spatz«, hatte sie anfangs bekannt, »dafür um so reichlicher!« -, während Curt Riess schon längst der Appetit vergangen war.

Es gab kalifornische Pfirsiche zum Dessert, und sie langte kräftig zu, obwohl Riess nun schon schrie: »Wie konntest du mit einem Massenmörder wie Goebbels an einem Tisch sitzen! Wie konntest du Hitler in der Reichskanzlei deine Aufwartung machen!«

Es war schwer für Thea von Harbou, mit vollem Mund reuevoll auszusehen, was selbst Riess dann auffiel, denn im selben Atemzug sagte er plötzlich: »Ich will, daß du mir das alles mal aufschreibst, Thea! Rückhaltlos alles, was man dir vorwerfen könnte! Wie soll ich sonst an deine Verteidigung denken?«

Endlich tupfte sich die Dame den Mund ab, lehnte sich zufrieden zurück und sagte auch einmal etwas.

»Ach, Curt«, sagte sie, »hat das gut geschmeckt! ... Aber eine Antinazi machst du nicht aus mir ... Weißt du nicht, daß ich eine Oberförsterstochter bin? Ich war einfach dumm, Curt! Ich habe an die Erneuerung Deutschlands geglaubt.

Und an Goebbels. Der hatte so gewaltige Pläne mit dem deutschen Film! Ich war es doch, die ihm gleich nach der Machtübernahme nahegelegt hat, Fritz Lang die Leitung des deutschen Films anzuvertrauen! Aber als mein Ehemann merkte, daß ich dahintersteckte, ist er mit seiner Freundin wütend nach Paris abgedampft und hat sich später in Hollywood als Opfer des Faschismus feiern lassen. Dabei war er gar kein Jude, und es hat ihn auch niemand verfolgt ...«

Curt Riess war ziemlich sprachlos. Als er sich wieder gefaßt hatte, sagte er: »Das war alles? Du meinst, du warst nur dumm, Thea?«

»Ganz einfach dumm, Curt!«
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Thea von Harbou - eine sehr kluge Frau.

Riess hat sich noch jahrelang über »diese Kuh!« aufgeregt. Noch nie hatte sich einer der »Nutznießer des Naziregimes« dazu bekannt, »einfach dumm!« gewesen zu sein.

Damals waren die Goebbels-Tagebücher noch nicht heraus. Unter dem Datum des 5. März 1937 hat der Propagandaminister notiert: »Abends zum Dinner bei Francois-Poncet (dem französischen Botschafter - d. A) ... Ich fahre Thea von Harbou nach Hause, die mir von ihren neuen Filmplänen erzählt. Eine sehr kluge Frau.«
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