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Einleitung zu : "WAS IST DENN HIER LOS?" (aus 1985)

In diesem Kapitel beschreibt Gehard Bliersbach die Bundesrepublik in den 1980er Jahren. Das ist in 2021 etwa 40 Jahre her und die allermeisten Leser können sich gar nicht oder nicht mehr an diese Zeiten (und davor) erinnern, sie waren entweder noch gar nicht da oder sind noch viel zu jung.

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Die Bundesrepublik in den 1980er Jahren .......

Auf dem Samstag-Markt in Köln-Klettenberg bittet eine gepflegte Dame in den Fünfzigern, Berliner Tonfall, den Mann von der Milch- und Käse-Bude, ihr fünfzig Mark zu borgen, was er, der ihren Namen nicht kennt, bereitwillig tut; sie verspricht, ihm nächsten Samstag den Geldbetrag zurückzugeben.

Einen Häuser-Block weiter stellen sich die Kunden in einem Bäckergeschäft, dessen Fünf-Korn-Brote beliebt sind, in einer langen Schlange an, welche sich weit aufs Trottoir ausdehnt.

Im größten Kölner Phono-Geschäft (Anmerkung : das war damals Hansa Saturn), welches an Samstagen von ortsfremden Käufern überflutet wird, spricht der gut zwanzigjährige Verkäufer den etwa gleichaltrigen Kunden mit dem geschwisterlichen Du an.

Meine Erinnerungen stammen natürlich aus Köln

Hier und da rückt man in der Bundesrepublik freundlich zusammen. Ein legerer, angelsächsischer Kontakt ist zu beobachten; die Umgangsformen des Alltags entkrampfen sich; eine leichte urbane Heiterkeit kehrt ein - nicht nur in einigen Kölner Regionen, von denen die Südstadt, dank der Rock-Gruppe BAP, die bekannteste ist in unserer Republik, auch in anderen Städten.

Herbert Grönemeyer rehabilitiert Bochum, die Ideal-Gruppe preist Berlin, De Black Föss' folgen dem Taxi Nr. 832 durch Köln.

Westdeutschlands Städte mausern sich zu unserer neuen Heimat: jene Orte, "wo" die neuen Formen bundesrepublikanischen Lebens erprobt wurden und erprobt werden: die Wohngemeinschaften, die WGs, der Gegenentwurf einer jungen Generation, die dafür sorgte, daß unser Land bunt und die Parlamente farbig wurden. Einen verschämten Stolz kann man spüren.

Das Jahr 1985 ist in Köln das Jahr der romanischen Kirchen, die, und das ist eine bedeutsame Seite des städtischen Stolzes, restauriert wurden aus den Trümmern einer zerbombten Stadt.
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Es gibt jetzt "sticker " : „I love D"

Abzulesen ist der Stolz auch an der aus New York City importierten Idee der sticker, welche auf den Hecks vieler Automobile kleben: „I love D" oder „AC" - wobei das Verbum durch ein Herz ersetzt ist, die Zuneigung wird ironisch unterspielt; das Englisch eignet sich allemal besser für solche Bekenntnisse. Westdeutsche Bürger liebäugeln mit urbanen Phantasien. Das westdeutsche Grundgefühl hat weitere Facetten.

CDU-Generalsekretär Heiner Geißler war in Hochform

Im Sommer 1984 geißelt der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler die Partei der Grünen als „eine Melonen-Partei - außen grün und innen rot". Eine unfreundliche Formel; denn das Innere dieser Frucht kann man nur sehen, wenn man sie aufschneidet oder aufbricht.

„Gut gegeißlert ist halb gefreislert" lautet das robuste Wortspiel des Düsseldorfer „Kom(m)ödchens"; denn Heiner Geißler, unser Polit-Polterer, wird gegen den „Hyänengleichen" Roland Freisler (†3. Februar 1945), so der britische Historiker Gordon A. Craig (1) über den Vorsitzenden des nationalsozialistischen „Volksgerichtshof", in dem nur Unrecht gesprochen wurde, aufgerechnet. Willy Brandt bezeichnet ihn am Abend der NRW-Wahl 1985 gar als den „schlimmsten Hetzer seit Goebbels".
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„Kohl - ein Kanzler fürs Kabarett"

..... war im ZEIT Magazin zu lesen (2); Westdeutschlands Satiriker profitieren von dem konservativen Politiker, der häufig in Birnen-Form gehandelt wird, unfähig, sich zu bewegen; sein Arbeitsstil, so ist zu lesen, bestehe im Sich-Arrangieren und Aussitzen - ein Mann mit einem mächtigen Gesäß.

Robert Leicht, Journalist der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, beschreibt den entmachteten bayrischen Ministerpräsidenten: „Er steht jetzt da wie jemand, der mit gekochten Spaghettis Mikado spielen wollte" (3). Heinrich Böll fühlte sich als Bürger eines Landes der grinsenden „Swinigel" (4).
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Eine repräsentative Auswahl der Bilder aus 1984

Nimmt man die Bilder, eine repräsentative Auswahl für das Jahr 1984, aus dem politischen Forum, und versucht, die westdeutsche Gestimmtheit anzugeben, dann kann man von einer seltsamen Gereiztheit, einem schwelenden Ärger und von einer tiefen Scham über eine Regierung, die nicht richtig zu regieren scheint, sprechen.

1984 ist das Jahr der Skandale ...

1984 ist das Jahr sich überschlagender Skandale: Der Bundesverteidigungsminister recherchiert vor aller Augen das vermeintlich intolerable Triebleben seines NATO-Generals; die Regierungsparteien versuchen, sich eine Amnestie zuzuschanzen, welche sie erlösen soll aus der Kalamität, dicke Geld-Bündel kassiert zu haben, allerdings weit weniger als das „Komittee zur Wiederwahl Richard Nixons" in den eigenen Tresor wegschloß; der Bundestagspräsident stolpert über ein siebenstelliges Honorar und tritt von seinem Amt zurück; der parlamentarische Untersuchungsausschuß zur Spenden-Praxis eines Groß-Industriellen macht das für viele Politiker peinliche Aktenvermerk-Kürzel „wg." populär. (Anmerkung : "wg" sollte erklärt werden).
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George Orwells Jahr "1984" - geschrieben 1949

Und 1984, George Orwells Jahr, wird Westdeutschlands Vergangenheit, die Geschichte der Entstehung unserer Republik, sehr aktuell. Am 22. September 1984 faßt Bundeskanzler Helmut Kohl die Hand des französischen Ministerpräsidenten Francis Mitterand - vor den Kriegsgräbern in Verdun.

Eine Geste, die als Kompensation für Helmut Kohls Abwesenheit bei der Jubiläumsfeier der Westalliierten (am Sommeranfang 1984) zum 40. Jahrestag der Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 verstanden wurde. Wofür mußte Helmut Kohl entschädigt werden?
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Deutschland sitzt 1984 immer noch am sprichwörtlichen Katzentisch

In diesem Jahr wurde die alte Befürchtung zur Gewißheit, daß die Bundesrepublik Deutschland immer noch wie ein Gast behandelt wird, der am sprichwörtlichen Katzentisch (wie 1959 bei den Genfer Verhandlungen über den Status West-Berlins) Platz nehmen muß - von der großen Gäste-Tafel ausgeschlossen.

Gastgeber bekommen dann schon einmal ein schlechtes Gewissen und kümmern sich überbesorgt um den vernachlässigten Gast, der, wenn er sich nicht einlullen läßt, diese Geste als eine freundlich verpackte Form der Herablassung verstehen wird; die Kränkung des Gastes wird dadurch vielleicht gemildert, aber nicht aufgehoben.

Die Jubiläumsfeier der Westalliierten signalisierte: Die Bundesrepublik ist kein gleichwertiger Partner im alliierten Bündnis. Die Kränkung darüber rumort in unserem Land - schon lange. Sie ist der Kränkung des Aufsteigers ähnlich, der in eine begüterte Familie einheiratet und das Gefühl nicht los wird, ihm sei das Stigma seiner wenig präsentablen Herkunft anzusehen.

Die 1984 manifest gewordene Kränkung, welche zum Grundgefühl vieler westdeutscher Bürger gehört, läßt erkennen, wie sehr Deutschlands Niederlage schmerzt und deprimiert. Das war bereits in den fünfziger Jahren so.
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„Die bedrückte Republik"

„Die bedrückte Republik" nannte der Schweizer Journalist Roger de Weck die Bundesrepublik Deutschland (5). Man soll sich keine Illusionen machen: auch wenn viele Deutsche 1945 das Ende des Dritten Reiches als Befreiung empfanden, der Makel bleibt: Wir haben unsere bundesdeutsche Staatsbürgerschaft nicht erkämpft - die Bundesrepublik entstand in den Planungsstuben der alliierten Siegermächte. So sind wir zu Recht vom Triumph der Westalliierten in der Normandie 1984 ausgeschlossen. Es fällt schwer, sich damit abzufinden. Es fällt schwer, darüber zu sprechen.

April 1945 - „Befreiung" oder „Niederlage"

Westdeutschlands Öffentlichkeit ist für nationale Gefühlslagen nicht sonderlich wach. Es gibt die Rhetorik des Vereinseitigens. Heinrich Böll riet seinen Söhnen, aufzumerken, wie ein Westdeutscher über die Zerschlagung des Dritten Reiches spricht: ob er sie als „Befreiung" oder „Niederlage" bezeichnet (6).

Heinrich Bölls Faustregel: Wer von der „Niederlage" spricht, hängt noch an den Größenvorstellungen Großdeutschlands. Die Scham, ein Westdeutscher zu sein, blendete er aus. Vielleicht ist die „Niederlage" ein zu sportlich klingendes Substantiv, aber der Verlust unserer nationalen Souveränität, welche Westdeutschland nach und nach zurückerhielt wie einem Gefangenen der Strafvollzug „gelockert" wird, ist ein Faktum, das nachwirkt.
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Konrad Adenauer war unser Bundeskanzler

Es gibt eine ausgeprägte Rhetorik der Beschwichtigung. Konrad Adenauer war der Bundeskanzler, dem es darauf ankam, die Bundesrepublik rasch salonfähig zu machen; er betrieb eine Politik der Anlehnung, mit der er vergessen zu machen suchte, daß er eine Politik des Einheiratens betrieb: Für die Aufnahme ins alliierte Bündnis zahlte er die Mitgift des Aufbaus der Bundeswehr, der aufgeschobenen Frage der Wiedervereinigung.

Konrad Adenauer hatte wahrscheinlich keine andere Wahl: Deutschlands Aufteilung war beschlossene alliierte Sache. Aber er gab keine präzise Auskunft über die Implikationen seiner Bündnis-Politik.
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Ludwig Erhard, der zweite Kanzler

Ludwig Erhard, der zweite Kanzler unserer Republik, verbreitete die treuherzige Formel: daß wir wieder wer seien. Wer glaubte das wirklich? Wir sind noch immer klein. Der amtierende Bundeskanzler bezeichnet sich als „Enkel Adenauers", und entsprechend klingt seine politische Rhetorik, welche in Verdun am 22. September 1984 so sinnfällig wurde: der „Enkel" faßt Pappis Hand, die des französischen Ministerpräsidenten.

Gleichgültig, wem diese Geste einfiel, ihr Sinn ist eindeutig: der Sohn greift die Hand seines Vaters, wenn er sich in Not fühlt und ihn, der sein Halt bedeutet, nicht verlieren möchte. Das Ritual von Verdun wiederholte sich in Bitburg im Mai 1985 mit anderer Besetzung, als Ronald Reagan seinen Enkel-Kollegen beruhigte. Bilder, welche ans westdeutsche Kino der fünfziger Jahre erinnern, wenn im Finale Versöhnung gefeiert wurde.
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Ein Wort über "Gute Freunde"

Zur Rhetorik der Beschwichtigung gehört auch das Herauskehren einer „Freundschaft". Gute Freunde brauchen sich nicht ständig zu vergewissern, daß sie gute Freunde sind: sie sind sich dessen sicher.

Bei guten Freunden muß man auch nicht auf ein „Mitspracherecht" pochen: Freunde schließen einander nicht aus. Freundschaften lassen sich nicht herbeireden. Wer es tut, biedert sich an und enthüllt, wie unsicher er sich fühlt.

Und es gibt die Rhetorik des Trotzes.

Auf den Pfingsttreffen erinnern die Bundesbürger mittel- und ostdeutscher Herkunft an ihr „Recht auf Heimat" und betonen sogleich, daß sie „von Revanche und Vergeltung" nichts halten.

Eltern wissen, daß sie ihren Kindern, die auf einen sehnlichen Wunsch zu verzichten versprechen, nicht trauen können; Wünsche sind mächtig, sie werden nicht einfach aufgegeben. Jahr für Jahr knirschen die Teilnehmer jener Pfingsttreffen mit den Zähnen, versichern, sich in ihr bundesdeutsches Los zu fügen - und wiederholen ein Jahr später ihren zuvor dementierten Wunsch.

Wer glaubt Dementis? So werden die Pfingsttreffen in der westdeutschen Öffentlichkeit (aber auch in der ausländischen) mit Besorgnis aufgenommen; störrische Kinder, die auf unerfüllbaren Wünschen bestehen, stören den häuslichen Frieden.

Westdeutschlands Vergangenheit ist sehr gegenwärtig

Die Jahre 1984 und 1985 lehren: Westdeutschlands Vergangenheit ist sehr gegenwärtig. Sie ist noch längst nicht verkraftet. Seit Ende der 19sechziger Jahre, als die Arbeit des Psychoanalytiker-Ehepaares Alexander und Margarete Mitscherlich erschienen war unter dem Titel „Die Unfähigkeit zu trauern" (7), kursiert in der öffentlichen Diskussion das Klischee, die Bundesdeutschen hätten ihre Nazi-Vergangenheit „verdrängt".

Mit der „Verdrängung" hatte Sigmund Freud eines (von einem guten Dutzend) psychischer Manöver bezeichnet, „Abwehrmechanismus" genannt, mit welchem traumatische Erfahrungen oder ängstigende Impulse so bearbeitet werden, daß sie das seelische Gleichgewicht nicht gefährden (8).
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Die öffentliche Diskussion versteht „Verdrängung" als eine Art Besen, welcher den seelischen Dreck zusammenkehrt, der dann in die seelische Mülltonne, ins „Unbewußte" deponiert wird. Das Verständnis der „Verdrängung" orientiert sich an der Redewendung: „Unter den Teppich kehren".

Das ist aber keine „Verdrängung", sondern eine andere Form der Abwehr: der „Verleugnung". Was ich unter den Teppich kehre, möchte ich vergessen; ich hoffe, daß es keiner bemerkt, denn ich würde mich schämen. So lebe ich überempfindlich, mit einem vagen schlechten Gewissen.
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„Verleugnung" oder „Verdrängung"

Schaut man in das Buch des Autoren-Ehepaares hinein, sieht man: Alexander und Margarete Mitscherlich sprechen eher von „Verleugnung" als von „Verdrängung", aber sie sind ungenau im Gebrauch dieser Begriffe; für den nicht gut informierten Leser muß es so aussehen, als seien die beiden Abwehr-Manöver identisch.

Alexander und Margarete Mitscherlich beschrieben ihren Gegenstand nicht richtig. Normalerweise muß, wer von „Verdrängung" (oder einer anderen Abwehr-Operation) spricht, angeben, was sich im individuellen Bewußtsein verändert hat.

Wie steht es um das Bewußtsein einer Republik? Wie kann man es sich vorstellen? Man muß die öffentliche Diskussion, welche von den gedruckten und audiovisuellen Medien hergestellt wird, dafür halten.

Liest man das Buch der Mitscherlichs, entdeckt man: Die Autoren haben nicht regelmäßig Zeitung gelesen, ferngesehen und Kinofilme geguckt.

Den Prozeß der öffentlichen Diskussion der fünfziger und sechziger Jahre, in denen die nationalsozialistische Vergangenheit immer ein Thema war, haben sie nicht nachgezeichnet. Die Diagnose der westdeutschen „Unfähigkeit zu trauern" ist der Befund einer weit verbreiteten Verstocktheit. Ist er korrekt?

Mein besonderer Geburtstag, der 20. April .....

Wann immer ich das Datum meines Geburtstags nannte, erhielt ich die Antwort: „Ah, Führers Geburtstag!" Ich war befremdet und geschmeichelt, offenbar war ich an einem besonderen Tag geboren, und verstand erst spät, wieso Adolf Hitlers 20. April ein so bedeutsames historisches Datum ist.

Adolf Hitler fasziniert enorm. 1983 fällt die Chefredaktion des quicken STERN auf die gefälschten Tagebücher des Führers herein; Adolf Hitler machte blind. Alexander und Margarete Mitscherlich wunderten sich, was aus der riesigen Verehrung für Adolf Hitler wurde.

Die Antwort ist gar nicht schwer: darüber zu sprechen, ist schier unmöglich. Thomas Mann hat es versucht (9). Charlie Chaplin hat den Führer karikiert - das ist einfach: im Spott kann man die eigene Faszination verstecken (10).

Hans-Jürgen Syberberg hat einen Film zu machen versucht (11). Rainer Werner Fassbinder hat die Faszination des Dritten Reiches nachzuschmecken versucht (12). Aber dagegen hat Saul Friedländer Einspruch erhoben (13) - mit dem Verdikt „Kitsch".

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit - weggucken

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit dominierte die Verabredung von Leuten mit schlechtem Gewissen: Wenn du mir keine peinlichen Fragen stellst, stelle ich dir auch keine; wir einigen uns darauf, wegzugucken.

Alexander und Margarete Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern" enthält den Vorwurf: daß die Westdeutschen sich um ihre Nazi-Vergangenheit nicht scherten, sondern sich nur mit dem Aufräumen der Trümmer und dem Aufbau ihres Landes beschäftigten.

Ein harscher Vorwurf. Denn in der Bundesrepublik waren damals zugige Unterkünfte die Regel. Vorwürfe verhärten: Die Kampf-Vokabel von der „Verdrängung der Vergangenheit" verhinderte den Dialog über unsere Vergangenheit. Wer beim anderen eine „Verdrängung" diagnostiziert und diesem Abwehr-Manöver böswillige Absicht unterstellt, übersieht, daß jede „Verdrängung" eine unbewußte Not-Operation ist.

Und wer seine Tat leugnet wie das kleine Kind, das sich vor einer massiven Bestrafung sehr fürchtet, versucht, unbehelligt über die Runden zu kommen. Die westdeutsche Not bestand in der tiefen Scham bundesdeutscher Bürger.
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Im Juli 1979 kam Franz Josef Strauß in den (Wahlkampf-) Ring

Die sprichwörtliche Wende wurde am Montagabend, dem 2. Juli 1979 gegen 23.00 Uhr eingeleitet: die Bundestagsfraktion der Unionsparteien wählte, obgleich dafür nicht legitimiert, mit 135 Pro- und 102 Contra-Stimmen den bayrischen Ministerpräsidenten zum Kanzlerkandidaten.

Franz Josef Strauß wurde von der Union und der Öffentlichkeit auf den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt gehetzt: das Aufsteiger-Kind, Sohn eines Münchner Metzgers, gegen den Sohn eines Hamburgischen Lehrers.

Franz Josef Strauß, das politische Stehaufmännchen, Repräsentant des Tagtraums, ein Deutscher sein zu können und nicht bloß ein Bundesdeutscher sein zu müssen, gegen den Vertreter der mittelständischen, akademisch durchtränkten Angestellten-Kultur.
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Das unterhaltsame Spektakel einer Holzerei

Der Wahlkampf 1979/80 war das unterhaltsame Spektakel einer Holzerei. Franz Josef Strauß wurde verschlissen; er wurde endgültig abgehakt.
Im März 1983 wird Helmut Kohl endlich Bundeskanzler.

Was sich 1980 abzeichnete, wird zum Thema der Bundesrepublik: die bange Frage, wer wir sind. Diese 1980er Wende (also nicht die Wende von 1989) erweist sich als ein Rückgriff auf die 19fünfziger Jahre: auf die Rhetorik jener Zeit, auf die ungelöste Suche Westdeutschlands nach seiner nationalen Identität.

Die „Wiedervereinigung Deutschlands", die „offene deutsche Frage" werden zu drängenden Themen. „Heimat" wird zum Reizwort. Wo ist die Heimat der Westdeutschen? In Mitteldeutschland? In Westdeutschland? In Europa? Helmut Kohl betreibt eine Politik der Anlehnung an die USA. Helmut Kohl und Ronald Reagan - Konrad Adenauer und John Foster Dulles: die Besetzungen wechseln, aber die Muster bleiben.
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Worin bestehen Westdeutschlands Verdienste?

Mit der Frage nach der westdeutschen Identität ist die zweite beunruhigende Frage verknüpft: worin bestehen Westdeutschlands Verdienste? Im wirtschaftlichen Export? Kulturell sind wir ein Import-Land.

Haben wir uns unsere demokratische Staatsform verdient ? Westdeutschlands Wunden sind so sichtbar wie in den 19fünfziger Jahren. Die Bundesrepublik ist intellektuell aufgeschossen wie ein altkluges Kind, das sich seinen Eltern überangepaßt hat, um ihnen zu gefallen; aber seine Emotionalität ist nicht richtig entwickelt.

Die Affekte der 19fünfziger Jahre rumoren: die Kränkung über die Aufteilung Deutschlands, über den Verlust des eigenen Besitzes, die Enttäuschung über die politische Moral, die Verachtung und der Hohn über die politischen Repräsentanten, die Scham, drittklassig zu sein, hinter den Weltmächten, hinter Großbritannien und Frankreich.
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„Welchen Weg wird Deutschland gehen?"

Es zeigt sich, daß die unvollständige Abrechnung der Schuld-Konten derer, die im Dritten Reich und später in der neuen Republik reüssierten, verhinderte, offene Formen der Auseinandersetzung einzuüben. Unsere führenden Politiker werden wie schlechte Entertainer behandelt, deren Verlautbarungen zwar verachtet, aber verbreitet werden - und hohe Auflagen von Aphorismen-Büchlein erzielen.

In Timothy Ashs Aufsatz „Welchen Weg wird Deutschland gehen?", erschienen in der gar nicht zimperlichen „New York Review of Books" (14), ist kein mokanter Satz über den amtierenden Bundeskanzler zu finden.

Aber Timothy Ash bemerkt eine „allgemeine Unterschätzung des existierenden westdeutschen Staates". Wer sich klein macht und sich entwertet, bleibt auf dem Entwicklungsniveau des Kindes, das sich nicht traut, heranzuwachsen. Helmut Kohl ist nicht der einzige Enkel in unserer Republik.
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1983 - „Die Sehnsucht nach den fünfziger Jahren"

Ende 1983 brachte die Illustrierte QUICK die Titelgeschichte heraus: „Die Sehnsucht nach den fünfziger Jahren" (15). Es ist weniger eine Sehnsucht, welche das Interesse an dieser Zeit bestimmt, als das Gefühl, daß einige Hausaufgaben unerledigt blieben.

Die Nachkriegsjahre waren turbulent. Die junge Republik formierte sich unter dem Schock der nationalsozialistischen Verbrechen, arrangierte sich im westlichen Bündnis und beruhigte sich mit der wirtschaftlichen Wiedergeburt. Vermutlich ging die Bearbeitung der Nazi-Vergangenheit über die nationalen Kräfte. Unser Moratorium geht zu Ende. Die Frage nach unserer Identität ist drängender denn je.
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Eien Betrachtung von Gehard Bliersbach aus 1985

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