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Vorwort von Gert Redlich zu dem Buch "Grün ist die Heide"

Das Buch ist aus 1985

Das Buch aus 1985 titelt etwas anders : "So grün war die Heide", denn die Zeit dieser Heimat-Filme ist ja (in 1985) gut 30 Jahre vorbei. Weiterhin gibt es eine große Anzahl von mehr oder weniger kompetenten Autoren, die sich nach 1945 dieses Themas angenommen hatten.

Es gibt aber nur wenige Autoren, die die Entwicklung des Films von Anfang an miterlebt und später in mehreren dicken Bänden beschrieben haben. Mir sind 2 Autoren besonders empfohlen worden, die die Entwicklung des Films an sich aus unterschiedlichen Perspektiven aufarbeiten.

Der eine Deutsche (Fraenkel, geb 1897) war lange Jahre in Hollywood und sieht das aus der Sicht eines dortigen "Filme- machers", obwohl er nie selbst einen gemacht hatte, sondern die Drehbücher bearbeitet hatte. Der andere deutsche Autor (Riess, geb. 1902) lebte als emigrierter Auslandskorres- pondent viele Jahre an der Ostküste der USA und sieht den amerikanischen und den deutschen Film mit ganz anderen Augen, aus künstlerischer Sicht. Beide kamen nach 1945 zurück nach Deutschland (West), der eine als Engländer in Uniform, der andere als Amerikaner - ebenfalls in Uniform.

Der dritte deutsche Autor Gehard Bliersbach (geb. 1945) ist als jugendlicher Film-Fan oder Film-Freund in dieses Thema reingerutscht und hat nach seinem Studium der Psychologie eine wiederum gänzlich andere Sichtweise auf den deutschen Heimat-Film und seine Macher und seine Zuschauervon 1945 bis etwa 1960.

Gehard Bliersbach hat in 2014 eine überarbeitete Version seines Buches aus 1985 herausgebracht, über die wir hoffentlich bald berichten können.

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Um die Intention und die Grundlagen seiner Ausführungen zu verstehen, gibt es ein ganzes Kapitel über den Autor Bliersbach

Nach dem Lesen des Buches habe ich zur besseren Verständlichkeit des ganzen Themas - der Betrachtungsweise und der Grundlagen - die Biografie von Gehard Bliersbach (1985 von ihm selbst verfaßt) ganz an den Anfang gestellt.
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VON EINEM, DER INS KINO ZOG, DAS FÜRCHTEN ZU "VERLERNEN"

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Von hier an erzählt Gehard Bliersbach in der "ich"-Form :

Ich war fünf Jahre alt, als mein Großvater mich in Hameln an einem Spätnachmittag im Winter 1950 zum ersten Mal ins Kino mitnahm. Wir mußten uns in einem schummrigen Filmtheater zurechtfinden: Gedämpftes Licht, Plüsch-Farben, hölzerne Klappsessel, ein Vorhang aus Samt-Stoff, tuschelnde Stimmen: Taten wir etwas Verbotenes?

Wir sahen, was ich erst viel später herausfand, Charlie Chaplins „Goldrausch" (1925). Ich war erschlagen und nahm die Komödie todernst: Diese nur auf einer Felsenkante aufliegende Holz-Hütte, die über dem Abgrund wippte, vom Absturz bedroht, unbemerkt von Charlie, der in seinen wackligen vier Wänden Schuhsohlen aß ...

Charlie kann sich am Ende des Films retten, bevor seine Wohn-Kiste im Abgrund zerschellt. Eine Strapaze, dieser Streifen. Zum Glück war ich nicht allein.
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1952 - Meine zweite Kino-Erinnerung ......

Meine zweite Kino-Erinnerung verbinde ich mit Hannover. In einem zum Brechen vollen Vorort-Kino sah ich 1952, zusammen mit Eltern und Großeltern, den Zirkusfilm „Die größte Schau der Welt" (1952) von Cecil de Mille, dem Spezialisten für pompöses Kino: meine erste Begegnung mit Hollywood.

Der Film hatte die Wucht eines Brechers. Ich wurde überrollt von der Artistengeschichte, in der Rivalität, Neid, Haß und Eifersucht in einem Überfall auf den Eisenbahnzug des Zirkus kulminieren: Die Lokomotive entgleist, die Waggons bersten, die Löwen, Affen und Elefanten brechen aus.

Ein Tumult auf der Leinwand. Viel Aufregung im Kino-Saal. Ich hockte tief in meinem Sitz - und sehe noch heute die vielen Köpfe vor mir, die mir die Sicht versperrten: mein Schicksal anfangs der 50er Jahre; am Ende dieses Jahrzehnts war ich zu einer Kinogänger-Größe herangewachsen, mit der ich keine Vorderfrau und keinen Vordermann mehr zu fürchten brauchte.
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10 Pfennig das Stück für die „Illustrierte Filmbühne"

Später, als ich die Film-Programme, jene „Illustrierte Filmbühne" für 10 Pfennig das Stück, sammelte und die Besetzungslisten der Spielfilme studierte, erfuhr ich, wen ich auf der Leinwand gesehen hatte: Betty Hutton (der Star des Musicals „Annie get your gun", George Sidney, 1950) und Charlton Heston (der künftige Star opulenter Kino-Feste wie „Die zehn Gebote" 1956, „Das weite Land" 1958, „Ben Hur" 1959). James Stewart, im Film der wegen Mordes gesuchte Arzt, war auch dabei und Cornel Wilde, der unglückliche Trapezkünstler: Schauspieler-Gesichter, die zu guten Bekannten wurden.

Seit Hannover bin ich regelmäßig ins Kino gegangen. Meine Eltern hatten nichts dagegen; wir gingen häufig gemeinsam. In Köln, wohin wir 1953 zogen, war der Freitag unser Kino-Tag: Einträchtig drückten sich meine Eltern, Großeltern und ich durch die damals (fast immer) voll besetzten Reihen zu fünf freien Plätzen hindurch.
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Freitag war in den Kinos der Programm-Wechsel

Die Donnerstag-Ausgabe unserer Tageszeitung erwartete ich immer ungeduldig: Freitag war Programm-Wechsel in den Kinos, und donnerstags überboten sich die Filmtheater mit großformatigen Anzeigen für ihre neuen Spielfilme, die reißerisch offeriert wurden - als Liebesdramen, in denen tief dekolletierte Damen für erotische Verwicklungen sorgten, als Männer-Feindschaften, in denen der „tödliche Haß" eben jener Ladies wegen sich austobte ... natürlich in Cinemascope und Technicolor oder in Metrocolor oder in Deluxe. Ich liebte diese aufgeregten Sprüche.

1953 wurde die Breit-Leinwand mit Cinemascope eingeführt

.... , die Filmtheater mußten umbauen. Die US-Verleihfirma „20th Century Fox" hatte die Rechte für das von dem Franzosen Henri Chretien entwickelte, patentierte Cinemascope-Verfahren erworben.

Der erste mit diesem System gedrehte Streifen war das Christus-Spektakel „Das Gewand", von Henry Koster 1953 inszeniert. Die „Freiwillige Selbstkontrolle" der Filmwirtschaft, die FSK, ein treuherziger Name, hatte diesen Film erst ab 12 Jahren freigegeben.

Ich war 8 Jahre alt und konnte nicht rein: als 12jähriger die Kinokasse zu passieren traute ich mich nicht.
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Dann traute ich mich, als 14jähriger mit Hut .....

Das tat ich später: als ich mich als 14jähriger mit Hut in den ab 18 Jahren freigegebenen Film „Manche mögen's heiß" von Billy Wilder (1959) reinschmuggelte - Marilyn Monroe wollte ich unbedingt sehen (außerdem hatte mir ein Klassenkamerad von den anspielungsreichen Dialogen erzählt).

Die FSK-Einstufungen fand ich damals arg kleinlich: Ich empfand mich als vorgereiften Kinogänger, der schon einiges gesehen und ausgehalten hatte im Vorführ-Saal. Heute sind die FSK-Normen sinnvoller ausgelegt und der Vertrautheit der jungen Leute mit den Kino-Geschichten angepaßt, und schließlich will das Kino dem Fernsehen, das seine Mord-reichen und Busen-freien Produktionen um 20.15 Uhr präsentiert, nicht allzusehr nachlaufen.
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Das Fernsehen war in den 1950er Jahren keine Konkurrenz

Das Kino der 1950er Jahre hatte den Konkurrenten Fernsehen noch nicht. Die Filmindustrie lieferte Trost-und Versöhnungsgeschichten, die den Schock der Kriegsfolgen milderten

In den 1950er Jahren ging es überhaupt sehr ängstlich zu, nicht nur bei uns. Noch 1962 wurde in den USA der Frangois Truffaut-Film „Jules und Jim" (1961), von der „Catholic Legion of Decency", einer Institution, ähnlich der bundesdeutschen katholischen Filmkommission, verdammt.

Das Kino galt, wie es Jean-Paul Sartre, ein Kino-Fan übrigens, in seinem autobiographischen Buch „Die Wörter" nannte, als „Pöbelkunst" - also als Un-Kunst (1). Hugo von Hoffmannsthals Formel vom Film als dem „Ersatz für Träume" und das mokante Wort über Hollywood als der „Traumfabrik" machten die Runde.
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Meinen Eltern ließen mich ziehen - von meinem Geld ...

Ich war meinen Eltern dankbar, daß sie mich ohne ästhetische Diskussionen ins Kino ziehen ließen. Ich lief, soweit mein Taschengeld reichte, meinen Kino-Lieben nach. Der Klang und der Schriftzug des Wortes Cinemascope hatten mich enorm fasziniert; die Ankündigung eines Breitwand-Spektakels reichte aus, mich ins Kino zu locken.
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Cinemascope - ein Bildwandtraum für einen Kino-Fan

Ich hatte bald herausgefunden, welche Kölner Filmtheater die größten Leinwände hatten und von welchen Sitzreihen aus mein Gesichtsfeld ausgefüllt war vom farbigen Panorama-Bild.

Ich setzte mich so nah vor die Leinwand, daß ich meinen Kopf leicht drehen mußte, um die Film-Bewegungen zu verfolgen, eine Gewohnheit, mit der ich mich gut einpaßte ins ausgetüftelte System der Filmtheater, die Eintrittspreise mit den aufsteigenden Sitzreihen zu erhöhen: Wer nah vor der Leinwand saß, sah preiswert.

Den weiten Blick, den die Breitwand-Streifen eröffneten, fand ich enorm: Im Kino konnte ich kräftig durchatmen, wenn die Kamera auf ein Fels-Gestein zufuhr und sich erhob und ein tiefes Panorama freigab.

Hollywood löste mit solchen Kamera-Bewegungen Amerikas Verheißung eines offenen Landes ein. Dagegen kam mir die Bundesrepublik klein, grau und eng vor, ich mochte sie nicht sonderlich; ich wuchs in engen Wohnverhältnissen auf.

Ich lernte, die Leinwand nach den Gefahren, die meinen Helden auflauerten, abzusuchen. Ich lernte (so unbewußt wie die eigene) die Film-Sprache: Die Kamera-Bewegungen, die Fahrten und Schwenks, näherten oder entfernten die Gefahren-Punkte; die Musik signalisierte drohendes Unheil oder beruhigte. Die filmische Klaviatur fand ich sehr vielfältig.
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Und dann wurde Cinemascope gesteigert - durch TODD-AO

1960 eröffnete in Köln das „Residenz" nach längerer Umbauzeit die Kino-Kassen: Gina Lollobrigida und Yul Brynner waren im King-Vidor-Film „Salomon und die Königin von Saba" (1959) auf der riesigen Todd-AO-Leinwand zu bestaunen, bei der man, vorausgesetzt man saß schön nah, hochschauen konnte wie an einem Bauwerk. Ich glaube, ich habe in Köln in den 1960er und 1970er Jahren keinen der in diesem Format projizierten Filme verpaßt. Das bombige US-Kino hatte mich gepackt.
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Jeder Spielfilm hatte sein bombastisches Markenzeichen

Damals starteten die amerikanischen Verleih-Firmen jeden Vorspann ihrer Spielfilme mit ihren Markenzeichen, die vielversprechender waren als die der westdeutschen Firmen. Bei der „Metro Goldwyn Mayer" steckte ein brüllender Löwe mit wütendem Schwung seinen Kopf durch einen Ring, der mit „ars gratis artis" beschriftet war.

Bei der „Universal" drehte sich im dunkelblauen, sternübersäten Weltall die Erdkugel, um die sich das Schriftband „Universal" wandt.

Die „Paramount" schrieb ihren Namenszug über eine Bergspitze, und manchmal wurde das Doppelwort „Vista Vision", welches ein anderes Breitwandverfahren ankündigte, quergeschrieben: Das Versprechen für gestochen scharfe, brillante Filmbilder.

Bei der „Columbia" hielt eine Göttin eine Fackel in der Hand. Und bei der „20th Century Fox" dröhnten die Fanfaren, ein paar Scheinwerfer schwenkten ihre Lichtkegel auf ein monumentales Gebilde, einen Kinoaltar, der mit klassizistischem Schriftzug diese Filmgesellschaft zu Recht verherrlichte.
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Als die Krise des Kinos die Besucherzahlen schrumpfen ließ

Als die nationale und die internationale Krise des Kinos in den 1960er Jahren die Besucherzahlen schrumpfen ließ, wurden die Vorort-Kinos (wie häufig in der Bundesrepublik) von jenem US-Import besetzt, der uns in schnelle Konsumenten verwandeln sollte: den sogenannten Selbstbedienungsläden, die eigentlich Selbstbeladungsläden (denn auf die vollen Einkaufswagen kam es an) hätten heißen müssen.

Die USA, unsere Befreier von 1945 und unsere politischen Zieh-Eltern, zogen auf verschiedenen Wegen in den westdeutschen Alltag ein.

Ein Weg war das Kino. Die Kölner Filmtheater boten jeden Sonntagmorgen „Frühvorstellungen" um 11.00 Uhr an. Die Eintrittspreise damals: 70 Pfennig und 1,- DM für einen Balkonplatz, auf dem man sehr hoch und sehr entfernt von der Leinwand thronte.

Jeden Sonntag fand ein tumultuöses Gedränge statt, erst vor dem geschlossenen Filmtheater, dann vor der Kasse, ein Schreien und Schieben: Die Invasion unbändiger Fans, die fürchteten, keinen Platz mehr zu kriegen. Im Vorführ-Saal herrschte der Lärm sich gegenseitig überbietender Stimmen: Es gab noch keine Süßigkeiten zu kaufen (oder wir hatten kein Geld dafür), welche uns den Mund gestopft hätten.
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Die Filmtheaterbesitzer sorgten sie sich um ihre Einrichtung

Wir konnten unsere Aufregung nicht bremsen, ähnlich den Passagieren einer Achterbahn, die sich kreischend dem höchsten Punkt der Anlage nähern. Die Filmtheaterbesitzer versuchten vergeblich, uns zu beruhigen; vermutlich sorgten sie sich um ihre Einrichtung. Auch ihre häufige Drohung, die Vorstellung nicht zu starten, ernüchterte unsere laute Begeisterung kaum, in welche sich die Angst vor dem unbekannten Kino-Abenteuer mischte.

Das erlöschende Licht, der den Hauptfilm ankündigende Gong, der Vorhang, der langsam aufgezogen wurde: der Moment der Erlösung, welche sich im Chor eines langen „ahh!" entlud.

Die Kino-Begeisterung damals war gewaltig. Der deutsche Ordnungsruf der Erwachsenen: „Ruhe!!" blieb wirkungslos. Sie waren hier ohnmächtig. Wir hatten das Schreien, das Seufzen, das Klatschen, das Stöhnen, das Jubeln.
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In den „Frühvorstellungen" die „B-pictures" aus den USA

Abgesehen von wenigen Märchenfilmen und einigen westdeutschen Filmstreifen wie „Toxi" (R. A. Stemmle, 1952) und „Pünktchen und Anton" (Thomas Engel, 1953), überwogen in den „Frühvorstellungen" die „B-pictures" aus den USA: relativ preiswert produziertes, robustes Kino mit Männer-Geschichten (die Jungens-Abenteuer waren) und Liebesverwicklungen (die wie Märchen funktionierten), welche mit einem happy ending entwirrt wurden.

Als sehnsüchtiges Einzelkind, das mit seinen pubertären Verliebtheiten nicht so richtig zum Zuge kam, schöpfte ich hier Hoffnung und Trost auf eine glückliche Entwicklung meines emotionalen Lebens. Ich hoffte darauf, daß mir meine Prinzessin über den Weg laufen und ich in einen Kino-"plot" geraten würde.

Außerdem hatte ich die Idee, Sport treiben zu müssen für die physischen Wechselfälle des Lebens. Zu Hause sprang ich jedenfalls schon als Retter der wunderschönen Kino-Damen herum, in der Hand einen (Karnevals)-Revolver oder ein Lineal (an Stelle eines Ritterschwertes), je nach den Erfordernissen meines Tagtraum-plots.
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Kino sei der uralte "Spaß am Erschrecktwerden" - Aha ...

Pauline Kael, die Filmkritikerin der amerikanischen Zeitschrift „The New Yorker", hat eines der Kino-Vergnügen „the primal fun in being frightened" genannt - den uralten Spaß am Erschrecktwerden, an der Angstlust (2). Pauline Kael hat vom Erwachsenenstandpunkt aus formuliert: Im dunklen Kino-Saal, aber in sicherer Entfernung können wir uns unseren Kinderängsten aussetzen, den Schrecken, die wir überwunden haben oder nicht mehr erinnern. So weit war ich, als ich mich im Kino einrichtete, nicht.

Man nannte sie die Gurken aus Hollywood

Das Gucken der Hollywood-Filme setzte die Lektüre meines Lieblingsmärchens aus der Grimmschen Sammlung fort, der Geschichte „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen". Ich hatte sie wieder und wieder gelesen: Nach etlichen Mutproben, die ihn das Gruseln nicht lehrten, aber ihm eine Königstochter einbrachten, schüttelt sich der furchtlose Bursche vor Entsetzen, als das Dienstmädchen seiner Frau ihm eine Schar Elritzen auf seinen Bauch schüttet, während er schläft.

Die Unerschrockenheit des Märchen-Helden und der Hollywood-Protagonisten hatte es mir angetan: So wäre ich auch gerne gewesen. Die Prosa-Märchen, schrieb Bruno Bettelheim in seinem Buch „Kinder brauchen Märchen", sind Geschichten psychosozialer Reifung, in denen die Krisen der Adoleszenz verhandelt werden (3). In meinem Lieblingsmärchen wird aus dem rohen, rauflustigen Burschen ein verheirateter Mann.

Die Kino-plots Hollywoods ......

Die Kino-plots Hollywoods, welche ich so genoß, erzählen ähnliche Entwicklungsverläufe: Die Heranwachsenden mausern sich zu Erwachsenen.

Robert Wagner, als der quirlige „Prinz Eisenherz" (Henry Hathaway, 1954), kämpft anfangs mit den unsauberen Mitteln des Straßenjungen, aber innerhalb von 100 Film-Minuten lernt er das legendäre „singende Schwert" zu schwingen: Als Ritter kehrt er mit Janet Leigh in seine Heimat zurück.

Ich liebte am amerikanischen Kino die Reifungsprozesse im Zeitraffer-Tempo mit glücklichem Ausgang; es hatte die Geschwindigkeit meiner Tagträume. Wie kein anderes Kino hat Hollywood die Strapazen der Reifung, die Ängste und Konflikte, die Phantasien und Wünsche auf die Leinwand gebracht.

Der äußere, sichtbare plot einer Geschichte ist die ExternaUsierung des inneren Dramas. Cary Grants Entführung als Hitchcocks „Unsichtbarer Dritter" (1959) erweist sich als seine Verführung: Muttis Liebling läßt Mutter im Stich und wendet sich Eva Maria Saint zu, die er am Ende ins fertige Bett des Schlafwagen-Abteils hochzieht. Die virilen Stars absolvieren ein maskulines Pensum - Cary Grant, Robert Mitchum, Tony Curtis, Victor Mature, John Wayne, Richard Widmark.

Mein Alltag machte süchtig nach diesen Leinwand-Märchen

Hollywoods Filme der 1950er Jahre langten zu, wo ich nicht hinzulangen wagte. Ich lebte ein Doppelleben: im Dunkel vor der Leinwand war ich mit meinen Sehnsüchten sicher und ließ mich entschädigen für den grauen, vergeblichen Alltag. Ich badete in meinen Sehnsüchten und wurde süchtig nach diesen Leinwand-Märchen, mit denen das Kino mich gut versorgte.

In meinem Alltag blieb ich ein Zuschauer in diesen Jahren. In Jean-Luc Godards „Die Karabinieri" (1962/63) gibt es eine Szene, in der der Kinogucker karikiert wird. Im Freien wird ein Filmstreifen vorgeführt, ein Bettlaken fungiert als Leinwand: eine blonde Frau schrubbt sich in der Badewanne - da steht einer der Soldaten auf und wirft einen Blick hinter die Bettuch-Leinwand: von der Frau kriegt er nicht mehr zu sehen. Dieser Soldat war mit der Kino-Fiktion nicht zufrieden; er wollte zupacken, was ich mich nicht traute.
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Und wenn sie nicht gestorben sind ........

Ich war ein braver Kinogänger. Die Prosa-Märchen schlagen mit ihrem Standard-Schlußsatz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute", vor dem Leser die Schlafzimmer-Tür zu.

Im Hollywood-Kino wurde dem Kinogänger häufig, wenn der Schlußtitel „Ende" eingeblendet wird, der Vorhang vor der Nase zugezogen. Was Eva Maria Saint und Cary Grant im Schlafwagen-Abteil des nach New York City zurückdonnernden Zuges tun, verschweigt Alfred Hitchcock, der uns in seinen 53 Filmen erst zum Gucken einlud und uns dann doch das Gucken vergällte, schuldbewußt und ängstlich angesichts der Komplikationen erwachsener Sexualität.

Nichts anderes, nur fröhlicher hatte das Grimmsche Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen" erzählt: Heikel wird es für den furchtlosen Ehemann, als er über sein Ejakulat erschrickt (dem die Märchen-Autoren die Form glitschiger Fische gaben) - ein Spätpubertierender.

Der Kinogänger hat es schwer, sich zurechtzufinden .....

„Unser angeborener Voyeurismus", meint der Psychoanalytiker Harvey Greenberg, bringe uns in die Kinos, die erotische Faszination des Zuguckens und Abguckens (4). Der Film ist eine Kunstform, welche mit sichtbarer Realität eine Fiktion gebiert. Häufig erfüllen sich auf unheimliche Weise unsere Tagträume.

Aber wir tagträumen nicht im Kino: wir sitzen hellwach vor der Leinwand und lassen uns von der Geschichte, die uns erzählt wird, verschlucken. Der Kinogänger hat es schwer, sich zurechtzufinden: er ist leicht zu beunruhigen.

Sigmund Freud hat die Erfahrung des Unheimlichen mit dem „merkwürdigen Zusammentreffen von Wunsch und Erfüllung" erklärt, und zum anderen damit, daß „verdrängte infantile Komplexe wiederbelebt werden" (5).

Das Kino kann diese Wirkungen leicht erzeugen. Es ist eine hypertrophe Geisterbahn, die affektive Abenteuer verheißt: Man muß sich auf viel gefaßt machen.
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Das Hollywood-Kino abeitete mit Erzähl-Klischees

Daß die Abenteuer nicht zu aufregend wurden, dafür sorgten die Erzähl-Klischees des Hollywood-Kinos der 1950er Jahre; sie beruhigten den Kinogänger, der wie ein erfahrener Autofahrer die Kurven und Windungen der Film-Geschichte voraussehen konnte. Das änderte sich am Ausgang der 1950er Jahre.

Die plots wurden brüchig, die Genre-Grenzen durchlässig, die Film-Besetzungen untypisch. Die Filme bekamen einen düsteren, ernsten Ton. Die Fröhlichkeit, mit der im Finale - beim show down eines Westerns - die Bösewichte zur Strecke gebracht wurden, verschwand.

Die filmischen Rache-Phantasien explodierten und erschreckten. Die Märchen endeten blutig, die Helden blieben blessiert. Sean Connery löste Eddie Constantine ab, James Bond mit der Doppel-Null ersetzte den Whisky-Trinker Lemmy Caution.

Das Jahr 1959 markiert den Neubeginn des europäischen Kinos

......, das vor allem die Franzosen und die Italiener prägten: Frangois Truffauts „Sie küßten und sie schlugen ihn", Alain Renais „Hiroshima, mon Amour", Eric Rohmers „Im Zeichen des Löwen", Claude Chabrols „Les Cousins", Michelangelo Antonioni's „L'avventura", Frederico Fellinis „La dolce vita".

Aus England kommt ein Jahr später Michael Powells „Peeping Tom" (deutscher Verleihtitel: Die Augen der Angst): die düstere Paraphrase des Alfred Hitchcock-Films „Das Fenster zum Hof" (1954) - ohne dessen Hochglanz-Lack, der den Sadismus des schamlosen Guckens verdeckt: Michael Powell (Jahrgang 1905) sprach aus, was Alfred Hitchcock in seinen Filmen versteckte.

„Schmutz zu Schauzwecken" war im Handbuch der Katholischen Filmkritik über „Peeping Tom" nachzulesen (S. 17), der spät rehabilitiert wurde von der angelsächsischen Filmkritik. Karlheinz Böhm, einst der österreichische Monarch an der Seite Romy Schneiders in drei „Sissi"-Produktionen, glaubt, daß ihm dieser Film die Karriere kostete, und Michael Powell litt unter der heftigen Ablehnung seines Films.
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„Hier spricht Edgar Wallace"

Im westdeutschen Kino schallte seit 1959 eine tiefe Stimme durch den Vorführ-Saal: „Hier spricht Edgar Wallace". Er kündigte eine Serie destruktiver Orgien an, in deren Verlauf vor allem steinreiche Engländer, die manchmal das Alter des ersten Kanzlers der Bundesrepublik hatten, auf umständliche, aber genußvolle Weise ermordet wurden - ein gutes Jahrzehnt bevor die Terroristen sich aufmachten, Westdeutschland mit ihrem Rachefeldzug in die tiefe Krise zu stürzen.

Im Februar 1962 lehnte sich auf den Oberhausener Kurzfilmtagen eine junge Gruppe Filmregisseure gegen „Papas Kinos" (das zu „Opas Kino" gesteigert wurde) auf. Ein Protest, der dem westdeutschen Kino galt und die alten Herren meinte. Die kamen an den Pranger, als die Bundesregierung, allen voran der schneidige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (Jahrgang 1915) sich in der sogenannten „Spiegel-Affäre" verhedderte.

Angesichts des Protest-Sturms in der Öffentlichkeit, blieb dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer nichts anderes übrig, als seinen Verteidigungsminister gehen zu lassen. Die Entmachtung des Großvaters hatte Folgen. Nicht nur für das Kino, das sich in der Bundesrepublik wandelte.

Mit Hitchcocks Filmen, vor allem mit „Psycho", kam die düstere Seite der menschlichen Natur auf die Leinwand - eine neue Film-Ära beginnt
Im Nachhinein scheint vieles übersichtlich. Ende der 1950er Jahre begann ich, aus dem Film-Alter der „Frühvorstellungen" herauszuwachsen.

Die Zeit der Tagtraum-Märchen mit glücklichem Ausgang ging zu Ende.
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1963 war ich gerade in der Oberprima angelangt ....

Also, 1963, gerade in der Oberprima angelangt, hockte ich in der Aula der Kölner Universität: Ich kaute mir die Fingernägel ab in Alfred Hitchcocks „Psycho" (1960). Darin dirigierte Hitchcock Janet Leigh unter die Dusche in „Bates Motel", wo sie, zu meiner ungeheueren Überraschung, niedergemetzelt wird.

Alfred Hitchcock, der Regisseur mit den schwarzen Phantasien, düpierte das Klischee, das einem Star wie Janet Leigh normalerweise ein „happy ending" bereitet wird. In „Psycho" litt ich enorm.

Alfred Hitchcock habe ich diesen bösartigen Schocker, den er Frangois Truffaut gegenüber einen Schabernack nannte, nicht verziehen: zu sehr beutete er meine Zuneigung für Janet Leigh aus, und zu sehr sympathisierte er mit einer grausamen Masturbationsphantasie, welche Anthony Perkins mit einem riesigen Schlachtermesser exekutiert.
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Hitchcocks Mord hat Filmgeschichte gemacht

Hitchcocks Mord unter der Dusche hat Filmgeschichte gemacht: als die ebenso brillante wie raffinierte Inszenierung, welche die voyeuristische Faszination am nackten Opfer ausbeutet und bestraft -Hitchcock schlägt den Zuschauern ihre grausamen Wünsche um die Ohren.

„Psycho" wurde zum Wegbereiter für eine Reihe von Kino-Produkten, welche sich als Schlachter-Filme rubrizieren lassen - bis hin zu Steven Spielbergs Maschinen-Ungetüm „Der weiße Hai" (1975), der an seine Opfer ebenfalls voyeuristisch herantaucht, mit Kamera-Blick auf deren Genitalien, und ihnen die Gliedmaße abreißt, während sich das Meer-Wasser, filmtechnisch gekonnt, rotfärbt.

Das tückische Spiel mit den Erwartungen auf einen märchenhaften Ausgang, das begriff ich allmählich, gehörte am Ende der 1950er Jahre zu den Risiken des Kinogängers.
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Die „Illustrierte Film-Bühne" - 4 Blätter pro Film

Ich hatte die „Illustrierte Film-Bühne" zu sammeln begonnen, jene vierseitig bedruckten Blätter, die neben der Inhaltsangabe auch die an der Herstellung der Filme beteiligten Künstler auflisteten: den Regisseur, Autor, Cutter, Kameramann, Komponisten und Produzenten sowie die Schauspieler und manchmal, bei den amerikanischen Streifen, auch die deutschen Synchronsprecher.

Ich orientierte mich an den Namen der Regisseure, die einstanden für bestimmte Kino-Geschichten. Der Film-Journalismus der 1950er Jahre war dürftig, er half mir nicht, ein erwachsenes Verhältnis zum Kino zu entwickeln: Der vulgäre oder moderate Klatsch über das öffentliche Privatleben der Stars, endlose Kino-Inszenierungen, absorbierte das Interesse am Film.
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Und dann noch die „Film-Revue" im Großformat

Ich las die im Großformat publizierte „Film-Revue", eine um den Film bemühte Zeitschrift, welche die Film-Industrie als eine Familien-Idylle schilderte, in der häufig unsere Kinostars mit Bildern aus der Privatsphäre vertreten waren:

Otto Wilhelm Fischer lehnte sich, während er in einem Folianten blättert, an seine Bücherwand und ließ den Kino-Fan Einblick nehmen in sein mit kostbaren Möbeln ausgestattetes Haus.

Hardy Krüger, Ruth Leuwerik, O.E. Hasse, Sonja Ziemann, Klaus Biederstaedt, Romy Schneider - sie lebten nicht schlecht. Aber was besagten solche Wohn-Berichte über das Kino?

Die Artikel (es waren keine Berichte) wurden aus der Schlüsselloch-Perspektive geschrieben. Schlagzeiten machten die Rhythmen von Heirat und Scheidung, die psychischen Dekompensationen der weiblichen Stars, deren Gewichtsprobleme und Fehlgeburten, das absichtsvoll-zufällige Baden in Swimmingpools.

Der Eifer, mit dem die gedruckten Medien ihre Meldungen über Film- Schauspielerinnen mit der Angabe ihrer Körpermaße garnierten, Umfang von Brust, Taille und Hüfte, wirkt heute albern: ein pubertäres Befingern mit Druckerschwärze.

Eine schwelende Angst vor den Frauen herrschte, wie Pauline Kael in ihrem Aufsatz „Fantasies of the Art-House Audience", bemerkte (6). Jene als „Sexbomben" berühmt-berüchtigten Film-Darstellerinnen, deren Physis verhökert wurde wie Obst, wurden zu grotesken Puppen, wohlfeilen Masturbationsvorlagen, degradiert.
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Ich war fasziniert und enttäuscht zugleich.

Denn die Kino-Damen, die in den Medien soviel Hitze ausstrahlten, erschienen zumeist in belanglosen Filmen. An Marilyn Monroe, der Göttin des männlichen schlechten Gewissens, läßt sich das sexuelle Brimborium illustrieren.

Der gebürtige Wiener Billy Wilder drehte mit ihr 1955 die Cinemascope-Farce „Das verflixte siebente Jahr". Der Streifen ist für eine Sequenz berühmt, in der die männlichen Kino-Phantasien, das Interesse am Kino, mustergültig für das ganze Jahrzehnt verdichtet sind :

Marilyn Monroe, auf den Gittern eines New Yorker Entlüftungsschachtes stehend, bläst die unter ihr durchdonnernde subway den Plissee-Rock ins Gesicht. Es ist heiß in New York City, sie genießt den kühlenden Luftzug, und ihr Partner, Tom Ewell, kann sich nicht satt sehen.

Der Kinogänger auch nicht. Die vielen New Yorker, die den nächtlichen Drehort belagerten, konnten es auch nicht. Endlich war der Blick unter den Rock freigegeben - kein mühsames Spingsen mehr, wie bei den wippenden Petticoats.

Marilyn Monroe wurde mit ihrem Leben nicht fertig. Am Drehort stand auch ihr zweiter Ehemann, der Baseball-Spieler Joe DiMaggio. Er hielt das Johlen der New Yorker, die filmisch legitimierte Treibjagd, nicht aus. Reporter traktierten ihn mit höhnischen Fragen. Er ging. Zwei Wochen später annoncierte Marilyn Monroe ihre Scheidung.
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Kino: Leben und filmische Phantasie vermischten sich

Das war Kino: Leben und filmische Phantasie vermischten sich, übergangslos. Aber Diffusionsprozesse haben oft destruktive Folgen. Marilyn Monroe starb 1962 an einer Überdosis Barbituraten (Schlaftabletten).

Seitdem ist ein "Wiedergutmachungsprozeß" zu beobachten: Andy Warhol brachte Marilyn Monroe in die Künstler-Galerien. Norman Mailer pries sie als „eine der letzten Aristokraten des Kinos": Eine späte Idealisierung, mit welcher die Schuldgefühle über die so vehementen Kino-Phantasien, welche die 1950er Jahre beherrschten, beschwichtigt werden soll.
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Blicken wir auf das bundesdeutsche Kino .....

Das bundesdeutsche Kino hat ebenfalls seine dramatischen Lebensgeschichten - die prominenteste: Romy Schneider, der nicht verziehen wurde, daß sie ihr Image des herzigen jungen Mädchens, auf das sie seit den „Sissi"-Filmen festgelegt worden war, abzustreifen suchte. Aus Deutschland auszuwandern galt schon immer als Sakrileg und Verrat.

Die weniger prominenten Lebensgeschichten: Susanne Cramer und Renate Ewert und Peter Vogel. Aber auch ein Wiedergutmachungsversuch ist zu konstatieren. Barbara Valentin, geborene Uschi Ledersteger (Jahrgang 1940) aus Bruchsal war die 1959 genußvoll plakatierte „Skandalnudel" (ein Medien-Etikett, gegen das sie gerichtlich klagte): Die bundesdeutsche Version einer angelsächsischen bombshell.

Ihre Filme waren dürftig, aber ihr Privatleben war turbulent. Rainer Werner Fassbinder holte sie 1973 für seinen Fersehfilm „Welt am Draht": ihr Start zu der zweiten Karriere. Und im ZEIT-Magazin (vom 2. Febr. 1979) beschrieb der Filmkritiker Hans Christoph Blumenberg die „aufregende Wandlung der Barbara Valentin", sechs Jahre nachdem Norman Mailer sein Hochglanz-Opus über Marilyn Monroe 1973 publiziert hatte.
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Was gab es damals an Literatur über den Film (ca. 1960/65) ?

Als Film-Fan, der im Kino gern seine Tagträume wiedersah, aber gern auch mehr erfahren wollte, schaute ich mich nach Literatur über den Film um. Die war allerdings mehr als dürftig und entsprach dem Desinteresse am Film als einer Kunstform.

Es gab keine systematische Filmgeschichte in deutscher Sprache, kein Nachschlagwerk, das gründlich informiert hätte über die Film-Künstler. Die Zeitschrift „Film-Revue" beantwortete Leseranfragen nach biographischen Daten und hatte einen Steckbrief für Stars eingerichtet, ähnlich jener Sparte, die in der Programm-Zeitschrift HÖR ZU „Wie sie wurden, was sie sind" hieß.
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  • Anmerkung : Da stiimmte irgendetwas nicht. Curt Riess hatte 1956 das erste Buch raus gebracht (Auflage angeblich 25.000) und 1958 das zweite. Auch die beiden Bücher von Heinrich Fraenkel waren 1965 bereits in den Buchhandlungen verfügbar. Weiterhin war damals im Stern eine "zigteilige" Serie des ersten Curt Riess Buches abgedruckt worden. Sicherlich gab es kein Internet und keine Suchmaschinen, doch in Köln gab es mehrere kompetente Buchhändler, die diese Film-Bücher kannten.

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1960 kaufte ich das Herder-Taschenbuch „Wir vom Film."

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  • Anmerkung : Auch hier ist etwas vertauscht, denn eben waren wir bereits in der Oberprima und jetzt sind wir wieder in 1960, doch da war der Autor aber erst 15 Jahre.

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„Wir vom Film. 1300 Kurzbiographien mit rund 10.000 Filmtiteln". Ein bescheidenes Referenz-Werk. Ein Jahr zuvor hatte ich mich als Volkszähler (ohne große Datenschutz-Skrupel) von Tür zu Tür durch einen Straßenbezirk eines Kölner Wohnortes geklingelt.

Von meinem Zählhonorar, 25,- DM, kaufte ich mir mein erstes Film-Buch: Fritz Kempes „Film. Technik, Gestaltung, Wirkung". Fritz Kempe, der damalige Direktor der Hamburger Landesbildstelle, mochte das Kino; er verhunzte es nicht.

Ich verschlang sein Buch: Die erste ordentliche Darstellung (die ich kannte) des komplizierten Mediums Film, der auch eine Kunstform ist mit einer eigenen Sprache. Ich begann, den Film mit meinen Lese-Interessen zu verbinden und von ihm Ähnliches wie von der Literatur zu erwarten: Im Kino wollte ich mich erfahren, bereichern, erfrischen, bewegen, rühren und unterhalten lassen. Fritz Kempe versorgte mich mit dem ersten kritischen Instrumentarium: Was gute Filme ausmacht.
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Ab 1957 - die Zeitschrift FILMKRITIK

Aber vor allem prägte die Zeitschrift FILMKRITIK, von Wilfried Berghahn und Enno Patalas herausgegeben und 1957 zum ersten Mal erschienen (inzwischen beim Buch-Versand „2001" nachgedruckt) mein erstes kritisches Verständnis vom Film: Der Kino-Gucker mauserte sich zum Kino-Kenner.

Es war Anfang der 1960er Jahre, als ich die FILMKRITIK in einem Buchladen entdeckte, abonnierte und die alten Jahrgänge nachkaufte. Zeitschriften, die aussprechen, was man schlecht sagen kann oder zu sagen sich nicht traut, haben etwas sehr Tröstendes.

Als das erste „Kursbuch", im Juni 1965 von Hans Magnus Enzensberger herausgegeben wurde, empfand ich ähnlich. FILMKRITIK und KURSBUCH: sie gehörten zu jenem intellektuellen Protest, der sich am Ausgang der 1950er Jahre gegen die ängstliche Großvater-Republik, in welcher der Opa-Bundeskanzler außenpolitisch leise trat, aber innenpolitisch hemdsärmelig fuhrwerkte, formierte und in den späten 60er Jahren explodierte. FILMKRITIK und KURSBUCH: publizistisches Luftholen für eine andere Bundesrepublik.
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Die Kriegserklärung gegen die alte Filmkritiker-Garde

Im ersten Heft der FILMKRITIK von 1957 stand auf der ersten Seite die Kriegserklärung gegen die alte Filmkritiker-Garde, in der jene alten Herren bekämpft wurden, die mitverantwortlich waren für die nationale Katastrophe des Dritten Reiches:

„Die feuilletonistische Filmkritik versagt ebenso vor dem bedeutenden Kunstwerk wie vor dem kommerziellen Produkt der Lebenslüge. Vor dem Kunstwerk ist sie nicht imstande auszusagen, worin denn sein Kunstcharakter besteht. Und die Lebenslüge durchschaut sie nicht, weil sie es für unnötig hielt, den Film an der konkreten (soziologisch-ökonomisch zu begreifenden) Wirklichkeit zu reflektieren".
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Mir gefielen die militanten "linken" Sätze.

Die Autoren der FILMKRITIK folgten einer soziologisch orientierten Systematik: Filmkritik verstanden sie als Gesellschaftskritik. Sie gingen der Bundesrepublik ans Leder, indem sie ihre Schläge gegen Westdeutschlands Filmindustrie austeilten.

Ich war mit unserer schwarz eingefärbten Krüppel-Republik ebensowenig einverstanden. Karl Jaspers Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?" (7) hatte ich verschlungen. Ich hatte nichts dagegen, daß Westdeutschland und seine regierenden Herren einige Schläge abbekamen.

Die FILMKRITIK war sehr westdeutsch - in "linker" Ausprägung: Voller Scham und Verachtung für das eigene Land, das die demokratische Verfassung, seine neue Freiheit, nicht richtig nutzte, statt dessen die ökonomische Gier predigte und darüber die Nazi-Vergangenheit vergaß, im „Wirtschaftswunder"-Taumel.
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Mit der Bundesrepublik "war kein Staat zu machen" ....

Mit der Bundesrepublik, das war der Konsensus, den ich teilte, war kein Staat zu machen, mit der bundesdeutschen Filmproduktion ebensowenig. Nur eine Handvoll westdeutscher Filmstreifen war auf den internationalen Festivals salonfähig. Die Scham über die nationalsozialistische Vergangenheit saß tief.

Vom 20.12.1963 bis zum 19.8.1965 wurde in Frankfurt der Auschwitz-Prozeß verhandelt. Sprachlos sah ich in Köln Peter Weiss' „Ermittlung", die dramatische Bearbeitung dieses ungeheuerlichen Prozesses.

Wie viele damals sprach ich den umständlichen, demütigenden Namen meines Landes nur mit distanziert-ironischem Tonfall aus. Die Bundesrepublik hatte damals keine große Chance, als eigenes Land, als eine Heimat, angenommen zu werden - verständlich, daß vor allem bundesdeutsche Politiker die europäische Idee vorantrieben: In der Hoffnung, im internationalen Staaten-Verband unterkriechen und die deutsche Hypothek verstecken zu können.
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Eine kritische Abrechnung mit den "deutschen Vätern"

Wer sich schämt, fügt sich. Zum Beispiel in die tröstende Automatik des wirtschaftlichen Aufschwungs der vom Wirtschaftsminister Ludwig Erhard proklamierten „formierten Gesellschaft".

Wer sich schämt, kann sich aber auch zu wehren versuchen: mit einer kritischen Abrechnung mit den deutschen Vätern, deren Korruption im Nachkriegs-Westdeutschland offenbar weiter wirkte. Dachte ich.

Die FILMKRITIK spießte die deutsche Kontinuität im westdeutschen Kino auf: Dessen Autoritätsgläubigkeit, Realitätsflucht, Geschichtslosigkeit. Zu Recht, fand ich.

Ich genoß den Witz, mit dem die Autoren den bundesdeutschen Film verhöhnten. Und verleugnete, was mir viel später aufging, mich selber.

Amerikanische Heimatfilme, die „Western", waren zugelassen, westdeutsche nicht. Wieso? Unsere Nachkriegsfilme, trotz ihrer künstlerischen Unzulänglichkeiten, kamen zu nah, vermute ich heute.
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Ich war (im Kino) häufig zu Tränen gerührt.

Ich mochte unsere Filmschauspielerinnen sehr - Sabine Eggert, Christine Kaufmann, Susanne Cramer, Maria Perschy, Wera Freydtberg, Doris Kirchner, Johanna von Koczian, Lieselotte Pulver.

Ich atmete schwer im kleinbürgerlichen Mief, von dem ich nichts wissen wollte, weil ich kleinbürgerlicher Herkunft bin. Ich konnte das Schnauz-Milieu, welches zur deutschen Sozialisation gehört, schlecht ertragen.

Selbst Heinz Rühmann, der Typus des gebrochenen, verletzten Vaters, dessen weinerlicher Tonfall und leichte Kränkbarkeit, dessen resignative Schlitzohrigkeit und Ergebenheit jede Opposition im Keim erstickte, quälte mich sehr.

Die westdeutschen Filme waren auf ihre Weise präzise. Sie als Schmonzetten abzutun, war einfach: Ich konnte meine Herkunft vergessen und mich als besserer Westdeutscher dünken, ein inländischer Ausländer, der von anderen Ländern träumte.
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Der deutsche filmtechnische Standard war miserabel

Verglichen mit dem amerikanischen Kino waren die westdeutschen Filme ein Grund zum Rotwerden. Ihr filmtechnischer Standard war miserabel. Der Erzähl-Rhythmus holperte, typisch die schnellen Szenen-Wechsel, die kurzen Einstellungen; man wurde herumgestoßen und konnte sich als Zuschauer nicht einrichten im Film.

Ein amerikanischer Film packt seine Realität an, breitet sie aus, erzählt sie, Bild für Bild. Im deutschen Nachkriegskino sieht man den Autofahrten an, daß sie aus dem Atelier stammen; und wenn sie in Städten gedreht werden, erinnern die (die Dreharbeiten beobachtenden) Passanten daran, daß man einen Spielfilm sieht.

Amerikanische Filme haben keine Scheu vor der Realität, die sie für die Kamera herzustellen beabsichtigen, dafür lohnt sich jeder inszenatorische Aufwand, dafür werden Straßen nachgebaut, Dekorationen hergestellt, in denen die Kamera sich bewegen kann.
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Man kann die Pappkulissen buchstäblich riechen

Im westdeutschen Kino bleibt es eng; die Pappe ist leicht auszumachen, der Ton, der aus dem Synchron-Studio stammt, ebenso. Mich störte auch die physische Unbeholfenheit westdeutscher Kino-Schauspieler. Das waren keine richtigen Männer. Eher Muttis Lieblinge, die bei der ersten Rempelei nachgeben, weil sie sich im dreckigen Sonntagsanzug nicht nach Hause trauen.

Joachim Fuchsberger, unser Mann im Trenchcoat vom Londoner Scotland Yard, korrigierte meine Enttäuschung nicht: er raufte sich in Dekorationen, die blitzschnell zusammenbrachen und hechtete seine Rolle vorwärts durch papierene Wände. Welch ein Unterschied zu den französischen Rauf-Filmen mit Eddie Constantine! Da flogen die Fetzen, krachten die Dekorationen, zersplitterte das Mobiliar.

Das westdeutsche Kino kam wie gelähmt auf die Leinwand, aggressiv gehemmt, könnte man mit einem psychiatrischen Terminus dazu sagen.
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Und viele Szenen sahen "getürkt" unwirklich aus ......

Einer der beliebtesten Kino-Stars der 50er Jahre war der Österreicher (Otto Wilhelm) O.W. Fischer. Im Film „Peter Voss, der Held des Tages" (Georg Marischka 1959), versuchte er, sich mit seinen Fäusten durchzusetzen: bei einer Keilerei holt er zu einem weiten Schwinger aus und schlägt, die Faust seltsam nach innen eingeknickt, mit dem Handgelenk zu.

John Wayne boxte stets satte Geraden. Otto Wilhelm Fischer lief Gefahr, sich die Hand zu brechen. Die US-Schauspieler besaßen eine physische Präsenz, die ihren deutschsprachigen Kollegen fehlte. Das US-Kino schämte sich nicht, wofür ich es beneidete, die heimischen Landschaften und Städte in ihren Geschichten herzuzeigen.

New York City kannte ich längst, ehe ich es 1976 zum ersten Mal besuchte. Das westdeutsche Kino hat unsere Wälder präsentiert, aber unsere zerbombten Städte versteckt; westdeutsche Städte habe ich durch unser Kino nicht kennengelernt. Ich kann keinen Nachkriegsfilm nennen, der mit dem Charakter einer Stadt verbunden wäre.
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Die Schauplätze der US- Produktionen waren authentisch

„Bullit" (Peter Yates, 1968) kann nur in San Francisco spielen, „French Connection" (William Friedkin, 1971) nur in New York City, und selbst Louis Malles „Mein Dinner mit Andre" (1981), dieser zweistündige spannende Gesprächsfilm, gehört zu New York City.

Das amerikanische Kino ist auch ein urbanes Kino, stolz auf seine Heimatorte; das westdeutsche Kino traut sich nicht richtig in die Städte.

Volker Schlöndorffs „Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (1975) ist kein Film, der Köln nahebringt. Und selbst die „Tatort"-Reihe der ARD, der TV-Versuch in Heimat, präsentiert fade Städtebilder. Es können nicht nur die Dreh-Kosten sein. Ich glaube: Es fehlen der Mut und die Zuversicht in die Beredsamkeit deutscher Städte-Bilder.

Die deutsche Filmproduktion der fünfziger Jahre war eine gute Zielscheibe: leicht zu treffen, einfach zu verhöhnen. Sie hatte keinen internationalen Ehrgeiz und setzte, wie ein Hersteller eichener Bauernmöbel, auf die bewährten Nachkriegsrezepte bundesdeutscher Unterhaltung.
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Werfen wir einen Blick auf die 1957er Kino-Sprüche

1957 kam die „Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft" (SPIO) mit dem neuen Werbe-Slogan heraus: „Mach dir ein paar schöne Stunden - geh ins Kino".

Mehr war nicht beabsichtigt. Das westdeutsche Kino weigerte sich auf störrische Weise, sich an die Kino-Zeiten der 1920er Jahre zu erinnern, als Deutschlands Filmkünstler ihren internationalen Ruf begründeten. Heute glaube ich, daß unsere Filmproduktion den Auftrag einer heimlichen Opposition erfüllte: die Weigerung der Mehrheit der Bundesbürger, sich auf mehr als auf den Wunsch einzulassen, in Westdeutschland zu überleben.

Hans M. Enzensberger und die Vorliebe für den Gartenzwerg

In seinem Aufsatz „Verteidigung der Normalität" schreibt Hans Magnus Enzensberger: „Die vorliegende Vorliebe für den Gartenzwerg und für den Flipper, für die Kegelbahn und das Haschischpfeifchen, für Disco, Horoskop und Suzuki ist nicht, wie die Aufklärer glaubten, selbstverschuldete Unmündigkeit oder planmäßige Verblödung wehrloser Massen.

Hier schreit kein historischer Rückstand danach, aufgeholt zu werden. Sondern die armen Opfer der Manipulation verbitten sich stumm, aber energisch jede Belehrung. Um keinen Preis wollen sie sich emporziehen lassen auf eine höhere Stufe der Bildung, des Geschmacks, des politischen Bewußtseins, d.h. dorthin, wo der jeweilige Sprecher vom Dienst steht" (Kursbuch 68, S. 61).

Und: „Der deutsche Faschismus läßt sich als ein großer Versuch verstehen, reinen Tisch zu machen. Am Ende des zweiten Weltkriegs schien dies Experiment gelungen: Das ganze Land war eine Tabula rasa.

Daß die Rechnung Hitlers (und Morgenthaus) dennoch nicht aufgegangen ist, daran sind die Trümmerfrauen, Heimkehrer, Ami-Fräuleins, Kellerkinder, Schwarzhändler, Benzinscheinbesitzer, Kohlenklaus, Bastler, Schrebergärtner und Häuslebauer schuld, eine schweigende Mehrheit, die darauf bestand, Deutschland wieder herzustellen" (Kursbuch 68, S. 62).
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Die Lehren der NS-Zeit - "laß mich endlich in Ruhe" ......

Die Bundesrepublik wurde von den kleinen Leuten aufgebaut, die eine Regierung wählten, die sie in Ruhe ließ. Westdeutschland ist, wie Hans Mayer bemerkte, ein kleinbürgerliches Land, aus dem die Nazis die "Großbürger" (??) vertrieben hatten, ein Land, das nicht mehr sehr darauf drängt, „ein Volk der Dichter und Denker" zu sein.

Das hat sich so weit fortgesetzt, daß die Bundesbürger 1983 eine konservativ- liberale Regierung wählten, deren Chef, der gute Mann aus Oggersheim, es den Bundesbürgern leicht macht, ihn zu karikieren: Westdeutschland schämt sich nicht mehr so sehr, sich von einem Kleinbürger vertreten zu lassen.

Das war Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre anders. Da waren die übergewichtigen Westdeutschen, in buntbedruckten Diolen-Hauskleidern die Frauen, mit Hosenträgern und Hut die Männer, die mit ihren Devisen ins Ausland einfielen, jene „Neckermänner", Anlaß für beißenden Spott und Verachtung.

So wollte ich nicht sein. Und so sollte das westdeutsche Kino nicht sein. Ich glaube, die Leute von der FILMKRITIK empfanden ähnlich.
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Theodor Wiesengrund Adorno war auch zurückgekehrt

Als Film-Fans unterwarfen sie sich dem strengen Gewissen eines Mannes, des nach Westdeutschland zurückgekehrten Großbürgers, der in den „Minima Moralia" schrieb: „Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus" (S. 21) - Theodor Wiesengrund Adorno (8), der zusammen mit Max Horkheimer, die „Dialektik der Aufklärung" verfaßte - die Protest-Bibel der sechziger Jahre. Was tut man nicht alles, um respektiert zu werden.

Die FILMKRITIK-Autoren bezogen aus dem ideologiekritischen Instrumentarium, welches Adorno und Horkheimer entwickelt hatten, ihre Legitimität.

Das fand ich in Ordnung. Sie assimilierten Siegfried Kracauers Suche nach sozialen Klischees, welche die Filme verbreiteten wie Viren.

In seinem methodologischen Pilot-Text „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino" hatte er den sorgenvollen Befund formuliert: Dort säßen die jungen Frauen (für wie alt hält er sie wohl?) und bekämen glänzende Augen vom rührenden happy ending und hörten nicht auf mit dem Tagträumen vom eigenen Prinzen:

„Es mag in Wirklichkeit nicht leicht geschehen, daß ein Scheuermädchen einen Rolls-Royce-Besitzer heiratet; indessen, ist es nicht der Traum der Rolls-Royce-Besitzer, daß die Scheuermädchen träumen, zu ihnen emporzusteigen? Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten".

Damals erschien mir das plausibel. Kracauer folgte einem inhaltsanalytischen Vorgehen.
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In welche Gefühlsverfassung bringt der Kinofilm den Zuschauer?

Heute denke ich, daß Kracauers Methode zu kurz griff: die Affektlage des Tagtraums, dessen aggressive oder erotischen Bilder sind wichtig. Entscheidend ist: In welche Gefühlsverfassung bringt der Kinofilm den Zuschauer? Und schließlich: wie ist es mit den eigenen Phantasien bestellt? Träumt nicht auch der Autor Siegfried Kracauer davon, daß die (angeblich) „kleinen Ladenmädchen" zu ihm aufschauen?

Adorno und Horkheimer hatten das Kino der „Kulturindustrie" subsumiert, welche mit der Manipulation der „Lebenslüge" ihre Konsumenten über die Herrschaftsverhältnisse hinwegtäusche. „Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde", schrieben Adorno und Horkheimer.

Die beiden Sozialwissenschaftler hatten in den USA die Radioprogramme, die Serien-Filmprodukte und das aufkommende kommerzielle Fernsehen studiert und waren entsetzt über die Standardisierung und Infantilisierung der Unterhaltungsware - sie hatten die dröhnende Nazi-Propaganda noch im Ohr.

So machten sie in den Produkten der Kulturindustrie einen virtuellen Faschismus aus; einen Kontext, den Adorno schon früher, in seiner Arbeit über Jazz, formuliert hatte: „Jazz und Progrom gehören zusammen". Es war, als hätten Adorno und Horkheimer von den TV-Serien „Dallas" und „Denver" auf die Qualität des Kinos geschlossen. Die Autoren der FILMKRITIK versäumten, Adornos und Horkheimers Überlegungen auf ihr Medium zu transponieren und deren Belang zu prüfen.
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Die alten Film-Märchen bleiben die herrlichsten Vergnügen

Das höchste Glück, schrieb Sigmund Freud, sei die Erfüllung eines Kinderwunsches. Das gilt auch für den erwachsenen Kino-Fan: Die alten Film-Märchen bleiben die herrlichsten Vergnügen, trotz der ernsthaft (und mit Recht) verfochtenen Film-Kunst.

Vor die Wahl gestellt, würde ich mir heute lieber Stanley Donens „Charade" (1963) mit Audrey Hepburn und Cary Grant anschauen als Michelangelo Antonionis „Die Nacht" (1960) mit der fragilen Monica Vitti und Marcello Mastroianni, lieber Vincente Minellis „Bandwagon" (Vorhang auf; 1953) mit Fred Astaire als Volker Schlöndorffs „Blechtrommel" (1979) mit Angela Winkler und Mario Adorf, lieber Bertrand Bliers „Preparez Vos Mouchoirs" (Frau zu verkaufen, 1978) als einen Rainer-Werner-Fassbinder-Film. „Es hat niemals aufgehört: Auch heute noch lese ich lieber Kriminalromane als Wittgenstein" schrieb Jean-Paul Sartre in seinen „Wörtern".

Theodor W. Adorno ist zu selten ins Kino gegangen, vermute ich. Er, der die Katastrophe des Dritten Reiches erlebt hatte, vertraute einem spielerischen Umgang mit Phantasien nicht. Phantasien und Träume sind, so hat es Freud im Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren" beschrieben, ein Probehandeln.

Ernst Kris' Wort von der „Regression im Dienste des Ich" trifft auch aufs Kino zu: Wir müssen, um die herbe Realität des Alltags ertragen zu können, im Kontakt zu unseren alten Phantasien bleiben. Das Kino vermag die kindliche Realität mit ihrer Faszination und ihren Schrecken zu beleben.
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Die FILMKRITIK zerbrach in den 1960er Jahren

Die FILMKRITIK zerbrach in den 1960er Jahren an der Schwierigkeit, das Kino mit den Mitteln der Ideologiekritik zu verstehen. Anfang der 1960er Jahre waren die FILMKRITIK-Autoren meine Heroen. Obwohl mein geliebtes Hollywood-Kino, vermeintlicher Ort spätkapitalistischer Manipulation, von den strengen Auguren sein Fett abbekam.

Enno Patalas erledigte mit einem Satz den Großwildjäger-Film „Hatari!" (Howard Hawks, 1962), den ich mit vor Kino-Glück wässrigen Augen beguckt hatte: „Für eine Studie über die Zusammenhänge von Patriarchalismus, Patriotismus und Untertanentum bietet sich ,Hatari!' als ideales Objekt an" (9).

Ich ging vor Patalas in die Knie und tat meine Rührung als spätpubertäre Zuckung ab, als Gefühlskitsch, der nicht zählt; schließlich war er (Jahrgang 1929) 16 Jahre älter als ich.

Ich kannte damals Ludwig Marcuses Wort noch nicht, dieses humane Credo: „Jeder sollte frei sein, sich ins Herz treffen zu lassen oder keine Notiz von einem Meister zu nehmen" (10).
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Die FILMKRITIK veränderte die filmpublizistische Landschaft ...

Die FILMKRITIK veränderte die filmpublizistische Landschaft in der Bundesrepublik. Enno Patalas holte von 1962 an nach, was seine ausländischen Kollegen ihm vorgemacht hatten: Er publizierte Drehbücher. Zwei große, schöne Suhrkamp-Bände, der Spectaculum-Reihe nachempfunden, gab er heraus. Das Kunst-Kino der Bunuel, Renais, Antonioni, Visconti, Bergman wurde salonfähig.

Das großbürgerliche Willi Fleckhaus- "cover flair" des Suhrkamp-Hauses desodorierte das derbe Kino-Vergnügen. Im Marion von Schröder-Verlag eröffnete Enno Patalas (im selben Jahr) mit dem Ingmar-Bergman-Drehbuch „Wie in einem Spiegel" (1960 entstanden) die Reihe „Cinemathek", worin die Wehmut bundesdeutscher Film-Fans jener Zeit anklang: In Paris gab es die von Henri Langlois geleitete „Cinematheque", dieses im Palais de Chaillot (gegenüber dem Eiffelturm) untergebrachte Film-Museum, wohin die junge Kritiker-Garde der Zeitschrift „Cahiers du Cinema" gepilgert war, bevor sie die Kamera in die Hand nahm und die „Nouvelle Vague" startete.

Enno Patalas: ein typischer Westdeutscher, der sehnsüchtig nach Frankreich, dem Kino-Paradies, blickte. Zusammen mit Ulrich Gregor, auch ein Mann von der FILMKRITIK, schrieb Enno Patalas die erste solide westdeutsche Filmgeschichte.
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Auf 500 Seiten 2 Seiten für das westdeutsche Nachkriegskino

Ich fand es natürlich richtig, daß die beiden Autoren in ihrer gut 500 Seiten starken Arbeit ganze zwei Seiten für das westdeutsche Nachkriegskino reserviert hatten. Ich teilte ihr Fallbeil-Urteil im Kapitel „Film in der Ära Adenauer": „Die künstlerische Belanglosigkeit und Antiquiertheit auch des ambitionierten Teils der westdeutschen Produktion ist die unablösbare Kehrseite ihrer ideologischen Fixierung: Die rigorose Weigerung der Autoren und Regisseure, sich und ihr Publikum mit der Wahrheit über den herrschenden Zustand zu konfrontieren, produziert die Halbwahrheiten des Kabarettstils und des Momentrealismus" (11).

Was die FILMKRITIK-Leute publizierten war das Maß der Dinge

Ich kaufte und las, was die FILMKRITIK-Leute publizierten. Sie setzten filmkritische Standards mit sorgfältig geschriebenen Rezensionen. Sie machten mich, wofür ich dankbar bin, mit den wichtigen Werken der Filmgeschichte bekannt. Sie brachten mir den zeitgenössischen Film nahe: die französische Nouvelle Vague, das italienische Kino der Antonioni, Visconti, Fellini und Germi, das britische „Free Cinema" der Anderson, Reisz und Schlesinger.

Als im September 1964 Wilfried Berghahn starb ....

Mitte der 19sechziger Jahre kühlte meine Verehrung für die FILMKRITIK ab. Im September 1964 starb Wilfried Berghahn, 34jährig, Vater von zwei Kindern: der integrative Kopf der FILMKRITIK. Er, der über Robert Musil promoviert hatte, war für mich der Garant des FILMKRITIK-Konsensus gewesen; ein Mann, der nicht so sehr unter dem schlechten Gewissen seiner Zunft litt, mit dem Kino ein zweitklassiges Vergnügen zu pflegen.

Nach seinem Tode (er hatte unheilbaren Kebs) erschütterte der Streit um den filmkritischen Konsensus die Zeitschrift: die Autoren fraktionierten sich, harte Bandagen wurden umgewickelt. Ich war irritiert: vor meinen Augen ließ die bewunderte FILMKRITIK Federn. Die Autoren, als Freunde angetreten (so klangen für mich die redaktionellen Äußerungen), traten sich in der Öffentlichkeit vors Schienbein.
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In welche Verfassung bringt mich ein Buch, ein Theaterstück ?

Herbert Linder, ein Autor der zweiten FILMKRITIK-Generation, wartete mit einem vernünftigen Programm auf, das er mit einem pompösen Bild illustrierte: „Ein Film ist für mich ein Pflug, mit dem ich mich umgrabe - die Kritik das Protokoll der Begegnung" (12).

Der Filmkritiker sollte nicht länger seine Subjektivität verheimlichen, sondern als Erkenntnisinstrument benutzen. Schön und gut. Neu war das nicht. Gute Kritiker haben schon immer die Verfassung beschrieben, in die sie ein Buch, ein Theaterstück oder eine Komposition brachte.
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Den Spaß am Kino auszusprechen erfordert Mut.

Wer traut sich, etwas über die eigene Kindlichkeit im Vorführ-Saal zu sagen? Über seine vom Kino angeregten Phantasien und Wünsche? Von so komplizierten psychosomatischen Reaktionen wie Tränen, Schauder, Gänsehaut, Drüsen-Prickeln und Erektionen ganz zu schweigen.

Die Psychoanalyse hat die Aufrichtigkeit zum Erkenntnisprinzip erhoben: Nur wenn wir unsere Innenwelt präzise beschreiben, können wir wirklich etwas über uns erfahren. Nur dann lassen sich die Wirkungen der Spielfilme auf uns feststellen - der „Heimatfilme", Musicals, Western, Thriller, Kriegsfilme und Schlachterfilme. Dann läßt sich auch besser entscheiden, was einen guten und was einen schlechten Film ausmacht.
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Die FILMKRITIK-Leute waren nicht (mehr) mutig.

Sie paßten sich ein zweites Mal an. Kracauer und Adorno waren out, Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Frangois Truffaut in. Die vier französischen Filmkritiker, Mitarbeiter der französischen Zeitschrift Cahiers du Cinema, hatten die „Theorie der Autoren" proklamiert: der Filmregisseur, ein Schreiber auf Zelluloid. Sie staffierten ihn mit dem Adel des Schriftstellers aus.

Das Kino war kein Kirmes-Vergnügen mehr, sondern Kunst-Objekt. Die „Theorie der Autoren" rehabilitierte den Kinogänger und milderte dessen Schuldgefühle. Er konnte sich ins Tageslicht öffentlicher Diskussionen wagen. Kino-Autoren waren, im Verständnis der Pariser Vier, Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Ingmar Bergman, Fritz Lang, Nicholas Ray, Jean Renoir - vor allem die Regisseure des amerikanischen action-Kinos. Die Theorie der Autoren, darauf wies Pauline Kael hin, hatte kunstfeindliche Wirkung: das Werk eines Regisseurs zählte, ein Meister inszenierte nur Meisterwerke.
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Filmkünstler oder nicht Filmkünstler ?

„Es ist, als ob man Kleider nach dem Hersteller-Etikett kauft: Ist es „Dior", ist es gut." schrieb Pauline Kael 1963 in ihrem Aufsatz „Circles and Squares" (13). Ich traute meinen Augen nicht: die FILMKRITIKer inaugurierten Howard Hawks als Filmkünstler. Damit war ich einverstanden. In Alfred Hitchcocks Fall: nicht.

In der FILMKRITIK wurde Hitchcocks 1964 entstandener Thriller „Marnie" als aufregendes Spiel mit Hollywoods Erzähl-Klischees gedeutet.

Ich fand „Marnie" kitschig: Alfred Hitchcock hatte seine Vergewaltigungsfantasien aus „Vertigo", „Psycho" und „Die Vögel" weitergesponnen, mit Tippi Hedren als kleptomanischer, frigider Tochter einer bigotten Mutter und mit Sean Connery als einem Ehemann-Raubtier, das die Neurose dieser hübschen Frau zerfetzt, das Spektakel einer flotten Defloration. Kritiken wie diese entfernten mich von der FILMKRITIK.
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1976 kündigte ich mein Abonnement.

Heute denke ich, daß die Geschichte der FILMKRITIK die Geschichte der Protestbewegung der späten 19sechziger Jahre vorwegnahm; auch ihr Scheitern, das in der depressiven Verstimmung des „deutschen Herbstes" verklang. Mein Interesse für die publizierte Filmkritik hatte abgenommen.

Seit 1964 studierte ich in Köln Psychologie - bei einem Kino-Fan: Wilhelm Salber. Er ließ seine Studenten ihre Erlebensverläufe bei Kinofilmen beschreiben. Über diesen Umweg - die Psychologie - lernte ich, der Kinogänger, meine „inneren Filme" neu zu betrachten.
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LITERATUR

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1 Jean-Paul Sartre: Die Wörter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965
2 Pauline Kael: When The Lights Go Down. London: Marion Boyars Publishers Ltd., 1980
3 Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1977
4 Harvey Greenberg: The Movies on Your Mind. New York: Satur-day Review Press 1975
5 Sigmund Freud: Das Unheimliche. Gesammelte Werke. Bd. XII. Frankfurt: S. Fischer 1966
6 Pauline Kael: Fantasies of the Art-House Audience. In: I Lost It At The Movies. Boston: Little, Brown and Company o.J.
7 Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? München: Piper 1966
8 Theodor Wiesengrund Adorno: Minima Moralia. Frankfurt: Suhrkamp 1964
9 Enno Patalas: Hatari! FILMKRITIK 1/1963
10 Ludwig Marcuse (Hrsg.): Ein Panorama des europäischen Geistes. Zürich: Diogenes 1984
11 Ulrich Gregor und Enno Patalas: Geschichte des Films. Gütersloh: Mohn 1962
12 Herbert Linder, FILMKRITIK 4/1967
13 Pauline Kael: Circles and Squares. In: I Lost in At The Movies. Boston: Little, Brown and Company o.J.
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