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Titel: Unser Leben im Real Existierenden Sozialismus

Treibjagd
4.8.91     
Bis etwa Januar 1991 habe ich mit K. eine Art gemeinsames Tagebuch geführt, nun erneut Beginn meiner „heimlichen“, ganz privaten Aufzeichnungen.. Denn das Thema, das mich jetzt rüttelt und schüttelt, ist für K. (noch) tabu, sie weiß (noch) nichts von meiner Beziehung zur Stasi, bestenfalls ahnt sie seit einigen Wochen etwas. Selbst wenn ich gewollt hätte – ich hätte ihr meine unselige Verstrickung nicht gestehen können, denn dann wäre sie – vorausgesetzt, sie verließe mich danach nicht sofort – mit denselben Ängsten ausgestatte wie ich zur Zeit. Und das muß ja nicht sein. Der Schock kommt noch früh genug.

In dieser neuen Zeit also, da wir BRD sind und demokratisch und die alten Machthaber im Ruhestand, herrscht eine Stasi-Pogromstimmung, die eher kriminelle Vergehen verzeiht als eine Verbindung zum MfS.   
Kein Tag, wirklich keiner, ohne neue Enthüllungen, wer ein sogenannter „IM“, ein „Informeller Mitarbeiter“ gewesen ist. Und je bekannter und bedeutender der „Enttarnte“, um so größer das Interesse und der Schauwert.  
Dass mir dabei langsam der Boden unter den Füßen heiß wird, liegt nahe.   

Zweifelhaft war meine Beziehung zum MfS ja immer, daran habe ich über die Jahre selbst in  meinen damaligen Aufzeichnungen keinen Zweifel gelassen. Aber man könnte die Dinge natürlich auch relativieren, könnte bei einer sogenannten „Einzelfallprüfung“ die tatsächliche Verfehlung ermitteln und dabei zu einer zumindest gespaltenen Einschätzung kommen. Die Beleuchtung des einzelnen Falles jedoch findet nicht statt. Der Stempel, diskreditierend wie früher der Judenstern, wird aufgedrückt, der Rest ist Feme, Verachtung, berufliches Aus. Und, wenn es ganz dick kommt, und das könnte bei mir durchaus der Fall sein, auch noch die familiäre Katastrophe.  

Wie sich K. verhält und was M., inzwischen 15 ½ Jahre alt, dazu sagt, wenn es bekannt wird, vermutlich öffentlich bekannt, das ist schwer einzuschätzen.  

Allerdings – meine rückhaltlose und euphorische Bejahung der Wende nehme ich deshalb nicht zurück. Die unseligen Schatten einer Jahre zurückliegenden Vergangenheit (seit etwa 85 gab es ja im Prinzip keine Verbindung mehr zwischen den Stasileuten und mir, ich ging nicht mehr hin und sie luden mich dann nicht mehr ein), also diese Schatten der Vergangenheit erschienen mir zunächst angesichts der historischen Ereignisse eher unbedeutend, eine kleine Wolke auf einem insgesamt strahlenden Zukunftsbild.  

In der Zwischenzeit ist mir klar, dass für mich persönlich diese kleine Wolke sehr bald das ganze Bild verdunkeln könnte.  

Anfangs glaubte ich, völlig unentdeckt und ungeschoren davonzukommen. Ich war kein Chef und will auch keiner werden – wer sollte mich durchleuchten wollen. In der Zwischenzeit aber ist klar, dass die Gefahr der Entdeckung gleich von zwei Seiten droht: Alle Fernsehmitarbeiter, soweit sie bei den Öffentlich- rechtlichen Sendern arbeiten wollen , werden überprüft, und zweitens soll laut Gesetz jedermann  in seine Akte Einsicht nehmen können. Da wird schon jemand herausfinden, wer wann was über ihn gesagt hat, und das dann ohne Rücksicht auf Verluste preisgeben.  

Während meines – ansonsten großartigen – Kanada/USA-Urlaubs, abgeschnitten von Nachrichten aus der Heimat, wuchsen meine Befürchtungen sich fast zu Neurosen aus. Vor allem die gesellschaftliche Verunglimpfung würde mich fürchterlich treffen.  

Inzwischen versuche ich, Vorkehrungen zu treffen für den beruflichen Blackout. Ich bewerbe mich bei Privaten Fernsehsendern. Bislang vergeblich.  
Heute, bei der Durchsicht all dessen, was ich über meine Stasiverstrickung  in mein Tagebuch geschrieben hab, würde ich mich am liebsten offenbaren. Würde Gerechtigkeit einfordern, würde sagen wollen, sie sollen  a l l e s lesen, was in meiner Akte steht, und das muß  a u c h  für mich sprechen ( im „Stern“ stand neulich, dass die Stasi uns, die Familie M., bespitzelt hatte durch eine Freundin von K., und ich bin auch sicher, dass Ende der 80er Jahre unsere Wohnung durchsucht und vielleicht sogar eine Wanze eingebaut wurde).  

Aber das bedürfte eben eines Interesses an der „Einzelfall-Prüfung“, und damit ist nicht zu rechnen. Die Zeit ist nicht danach.  

Vor einem Vierteljahr, als die Pogromstimmung noch schlimmer war, hat man uns Fragebögen ausfüllen lassen, u.a. wurde nach MfS-Kontakten gefragt. Erwogen hatte ich schon, sie preiszugeben und so ein für alle Mal die Lüge aus meinem Leben zu verbannen. Aber die Konsequenzen wären einfach zu brutal: Beruf, Familie, Freundschaften, Ansehen wären bei dem zu erwartenden öffentlichen Umgang mit dem Geständnis zerbrochen. Und dem sich einfach so ausliefern, bei einer rechtlich noch nicht einmal abgesicherten Aktion ...  

Natürlich träume ich davon, mich zu reinigen. Umsomehr, als ich im anderen Falle ein Leben lang  belastet, verwundbar, u.U. sogar erpressbar bleibe. Ich wäre innerlich auch bereit, eigentlich sogar freudig bereit, Konsequenzen auf mich zu nehmen, berufliche Ungelegenheiten, Einbußen. Nur müssten sie angemessen sein.  

Was aber jetzt droht, ist Spießrutenlaufen, könnte auf Vertreibung hinauslaufen. Im Geiste war ich schon im Ausland, zumindest in einer anderen Gegend Deutschlands. Allein und in einem Aushilfsjob.  
Und so viel, da bin ich sicher, habe ich nicht gefehlt.  

Die Trennung von der Stasi war ja schon einmal vollzogen, 1968, als ich aus meiner Empörung über den Einmarsch in die CSR  kein Hehl machte. Aber dann haben sie mich  erpresst, haben mich in meiner Arbeit nachweislich jahrelang in demoralisierender Weise gemobbt, bis ich 1976 wieder nachgab.  

Und auch 1985/86, beim endgültigen Bruch unter dem Einfluß Gorbatschows, ging die Initiative von mir aus. Aber wer will das hören?   
Bis November, sagte mir gestern ein Mitglied des Personalrates, sollen wir alle überprüft sein, und er fügte hinzu:„..falls die Gauckbehörde das schafft“. Was wird, wenn sie es schafft?  
 
5.11.91    
Wann fällt das Beil? Vielleicht morgen?  

Heute, beim Mittagessen, drückte mir eine zufällig aufgeschnappte Bemerkung zwischen zwei Personalratskollegen den Kopf tief über den Teller: „Morgen früh Sitzung, es geht um die Gauck-Auswertung“. Gauck ist der Stasi-Auflöser. Ich bekam einen wilden, fürchterlichen Schreck. Richtig, es ist ja November. Später noch eine Bemerkung, aufgebracht, enttäuscht: „Und dafür haben die fünf Monate gebraucht!“  

Sollte doch noch nicht alles beisammen sein, sollte ich doch noch davonkommen? Das wäre nicht nur Aufschub, denn ich werde mich beim MDR, wegen der zu erwartenden Durchleuchtung, nicht fest anstellen lassen. Ich habe mich als Freiberufler beworben, und die werden nicht durchforstet. Dann kann mich der Blitz zwar immer noch ereilen, aber nicht mehr aus beruflichen Wolken.  

Im Augenblick jedoch beherrscht mich flirrende Unsicherheit. Ich weiß nicht, ob morgen, nach der Personalratssitzung, mein Name in Verbindung mit der Stasi genannt wird oder nicht. Ob morgen mein ganzes Leben verändert, mein Dasein demoliert wird oder nicht.  

Es ist jetzt 19.30 Uhr. Es gilt, sich darauf vorzubereiten. Panikanfälle, wie sie mich heute Nachmittag heimsuchten, dürfen nicht sein. Aber das ist leicht gesagt.  
 
26.11.91  
Das Beil fiel nicht an jenem nächsten Morgen. Die Gauckbehörde hatte es nicht geschafft und begründete das damit, um die Anträge korrekt  bearbeiten zu können, müsse der Personalrat zunächst  von allen Kollegen sämtliche Wohnadressen der letzten zehn Jahren erfassen und per Diskette übermitteln usw......  

Es waren grausige Augenblicke an dem Morgen. Ich saß von 8 Uhr an gemeinsam mit meinem Kollegen D. am Schneidetisch. D. ist mein Redaktionsassistent, wir produzieren gemeinsam ein Bergsportmagazin, er ist ein guter Kerl, zu Recht Mitglied des Personalrats. Um 9 Uhr ging er zu der „Gauck“- Besprechung. Ich arbeitete scheinbar unberührt weiter, funktionierte normal, hatte Ideen, korrigierte Schnitte.  

Ab 10 Uhr jedoch traf mich jede Bewegung der Türklinke in meinem Rücken wie ein elektrischer Schlag. Denn wenn er wiederkäme und mich mit großen verwunderten Augen ansähe oder gar mit einem verächtlichen Lächeln, dann wäre es so weit.  Ich hatte für diesen Fall kein klares Konzept, ich wäre dem Augenblick ausgeliefert gewesen, und bei meiner Unfähigkeit zur Beherrschung hätte mir das Schuldbewusstsein sicher im Gesicht gestanden.  

Erst spät, unendlich spät, nach 11 Uhr, kam er. Mit ernstem, aber nicht weiter auffälligem Gesicht. Er setzte sich wieder neben mich, und wenig später, nach seiner ersten völlig normalen, schnittbezogenen Bemerkung, wusste ich, dass der Kelch mit großer Wahrscheinlichkeit noch einmal an mir vorbeigegangen war.  

Der Gedanke an den fragwürdigen Teil meiner Vergangenheit ist in der Zwischenzeit zu meinem ständigen Begleiter geworden. Was immer ich mir für die Zukunft vornehme, ich messe alles daran, was im Falle einer Entdeckung geschähe. Beruflich beispielsweise würde ich gern eine eigene Produktionsfirma gründen, aber ich dürfte keine existenzbedrohenden Kredite aufnehmen, weil schon am nächsten Tag die ganze Herrlichkeit zu Ende sein könnte.  

Oder meine Ehe mit K. – ich muß davon ausgehen, dass sie möglicherweise von einem Tag zum anderen zerbricht, weil K. den Belastungen aus meiner Vergangenheit nicht standhält.  
Oder M., mein Sohn. Ihm habe ich vor Jahren während eines Waldlaufes schon viel erzählt von meinen Kontakten, Einzelbeispiele, ohne Zusammenhang. Er hat das damals aufgenommen wie einen komplizierten Krimi (ich denke, er war 13).  

Oder meine Bekannten: Ich prüfe sie im Geiste, ob sie nach einer Aufdeckung noch mit mir reden würden. Einige gewiß, einige bestimmt nicht.  
Ich bin nicht in einer Dauer-Panik, aber ich denke immer daran.Bei jedem journalistischen Beitrag zum Stasi-Thema, ob in Zeitung, Rundfunk oder TV, argwöhne ich, ich könnte darin eine Rolle spielen. Jeder Brief, den ich erhalte, ist, bevor ich die Brille aufsetze und den Absender lesen kann, eine Bedrohung.  

Vor 14 Tagen etwa wurde das Gesetz über den Umgang mit den Stasi-Akten beschlossen. Mit, zu guter Letzt, noch einem einschneidenden Zusatz: die Zeitungen dürfen nun doch nahezu ungehindert veröffentlichen.   
Ich kann die Sendungen und Beiträge zu diesem Gesetz nicht mehr hören und sehen, sie verursachen mir endloses Grübeln, ich schalte neuerdings einfach ab.  
Es ist ein Irrwitz, dass ich Gefahr laufe, mit denen gleichgestellt zu werden, die ich genau so abgelehnt habe wie der größte Teil des Volkes, und von denen verurteilt zu werden, die für mich Gleichgesinnte waren und sind.  

Eine idiotische Konstellation, ich werde am Ende zwischen allen Fronten stehen und frieren und nicht wissen wohin. Die einen wollen mich nicht, zu den anderen will ich nicht.  
Wehe mir, wenn das losgeht.  

Gestern abend im TV – Günther Gauß im Gespräch mit Joachim Gauck. Gauß griff pausenlos an, ganz gegen seine Art, er stellte die Gaucksche Hexenjagd politisch und moralisch in Frage, er bohrte nach, was die Beweggründe betrifft , und er hob warnend den Finger,was die Auswirkungen angeht. Nur ein Unverdächtiger wie Gauß kann das, jeder andere wäre von den Gazetten ob dieser deutlichen Haltung zerrissen worden.   
Gauß bezweifelte, dass die geplante flächige Aufdeckung  im Interesse der Mehrheit sei und dass es deren Wille ist. Mir war das aus dem Herzen gesprochen, selbstredend. In den befürchteten Auswirkungen wird Gauß recht haben, denke ich, ob die Mehrheit aber nicht vielleicht doch, aus welchen Gründen auch immer, alles auf den Tisch haben will, mag ich nicht ausschließen.  
 
12.3.92    
Auch nach einem weiteren Vierteljahr ist der Gedanke an die Stasi mein täglicher Begleiter. Meist von ruhiger Dauerhaftigkeit, aber schon die geringsten Anlässe genügen,  um mich in Unruhe und verzweifeltes  Grübeln zu versetzen.  

Zwischendurch irgendwann einmal hatte ich mir einen Termin zur Offenbarung gesetzt.. Mein 54. Geburtstag sollte der Tag sein. Nicht ganz ohne, oder besser: aus deutlich materiellen Überlegungen: Ab 54 bekommt man die Arbeitslosenunterstützung statt 2 Jahre fast 3 Jahre lang. Ich gehe davon aus, dass nach der „Enttarnung“ niemand mehr meine journalistischen Werke haben will. Und so schnell eine andere Arbeit zu finden, gewissermaßen als „Ungelernter“, dürfte in meinem Alter nicht einfach sein.  

Aber je näher der Geburtstag rückte, um so mehr verdrückte sich der hehre Gedanke in den Hintergrund meiner Seele, um so größer wurde die Angst vor den erbarmungslosen Konsequenzen. Und am Geburtstag selbst, vor vier Tagen, war schließlich keine Rede mehr davon. Das größte Problem dabei wäre K. Wie sie diese schlimme Offenbarung aufnähme. Ich ertappe mich manchmal bei der Vorstellung, irgendetwas anderes, ein anderer Mann vielleicht, könnte uns vorher trennen und damit die Stasi-Sorge um K. gegenstandslos machen.Es bliebe dann allerdings immer noch die kaum vorhersehbare Reaktion von Sohn M.  

Alle Welt, alle nichtbetroffene Welt, fordert jetzt Leute wie mich auf, sich zu bekennen, um Frieden zu schließen mit sich und den anderen. Welch Ansinnen, wenn man danach am Pranger steht und das ganze Leben zerschlagen und ausschließlich auf die Stasi-Beziehung reduziert wird. Thierse, der stellvertretende SPD-Vorsitzende, den ich sehr mag, hat auch einen solchen Bekenner-Appell an die IM gerichtet. Das ist graue Theorie. Die Strafe ist so unangemessen hoch, so, als hätte man gemordet oder vergewaltigt, dass jeder Gedanke, einem solchen Appell zu folgen, und ich hatte ihn, bereits im Keim erstickt wird.  

Gelegentlich erwäge ich, mich wenigstens einem Freund anzuvertrauen. Im Vertrauen darauf, dass mein bisheriges Leben für ihn der Unterpfand ist, dass nicht diese Stasi-Verbindung das Bezeichnende, das Typische für mein Dasein in dieser Welt ist.  

Aber wenn das Geheimnis erst einmal auf den Weg gebracht ist, weiß man nicht, wohin es sich entwickelt.....  
An dieser Stelle fällt es mir ein, ich will es hier postulieren, weil es schon so oft gedacht habe:  

Ich habe in meinem Leben nicht betrogen, nicht gestohlen, im Prinzip – außer Kleinigkeiten - nie etwas Unrechtes getan, nun schon 54 Jahre lang. Nur diese gottverdammte Stasi-Liaison bin ich eingegangen. Aber ich bin nicht der einzige. Es gibt Zehntausende ,die nur an dieser und sonst keiner anderen Stelle versagt haben. Da muß  noch mehr im Spiel sein als nur ein mieser Charakter. Irgendetwas, das zumindest ich nicht herausfinde. Ich stand und stehe immer wieder kopfschüttelnd neben mir, frage mich „warum?“ und finde keine vollgültige Antwort.  

Es wird, von einsichtigen Leuten, nur langsam werden es mehr, von gesellschaftlichem Todesurteil gesprochen, wenn jemand auch nur in die Nähe der Stasi gerückt wird. Und dass das ungerecht sei. Es hat mindestens einen spektakulären Selbstmord gegeben, ein PDS-Bundestagsabgeordneter, der den Hass nicht ertragen konnte.  
Aber die Mehrheit will den Blick in die Akten, will aufklären und dabei Geheimes erfahren, möglichst etwas, das ihre kühnsten Erwartungen übertrifft.  

Ich habe mich mit Leuten unterhalten, die Antrag auf Einsicht in ihre Stasi-Akte gestellt haben (allein in Sachsen taten das mehrere Hunderttausend). Einer aus meiner Bekanntschaft äußerte unverblümt die Hoffnung, darin jemand zu finden, den er schon seit Urzeiten nicht leiden kann. Und eine Frau aus meinem Freundeskreis, die ohnehin jeden Zweiten der Stasi-Mitarbeit verdächtigte, will unbedingt ihren „ganz speziellen Freund“ am Pranger sehen, und vermutlich wird sie behaupten, die Akte sei unvollständig, wenn der erhoffte Name nicht auftaucht.  

Es ist jetzt auch die hohe Zeit jener, die sich angepasst hatten, wo es nur ging – wie die Mehrheit also - , die aber dieses eine Schlimme nicht taten, manchmal vielleicht nur, weil sie nie in eine Situation kamen, in der die Frage stand, vielleicht aber  auch wirklich aus moralischen Vorbehalten. Ein solcher Fall ist mein Bekannter aus H. Alt-CDU, Spießbürger, tiefgebeugter Anpasser mit entsprechender Karriere, aber mit der Stasi war er offensichtlich nicht im Bunde. Das verleiht ihm nun die wilde Entschlossenheit, all jene erkennen und mindestens verachten zu wollen, die über ihn – und nicht nur über ihn – berichtet haben. Er fühlt sich – vor allem wegen seiner jahrelangen CDU-Zugehörigkeit – als eine Art Widerstandskämpfer. Es könnte allerdings sein, dass über ihn gar keine Akte existiert, dass ihn gar niemand observiert hat. Das würde ihn tief enttäuschen. Als K. und ich die Fragwürdigkeit der Akteneinsicht feststellten – K. ist neuerdings auch dagegen -, da plusterte er sich mächtig auf.    

Auch meine beruflichen Dinge stehen eindeutig im Zeichen des Vergangenheits-Males. Ich habe mich beim MDR nicht fest anstellen lassen (ob ich angestellt worden wäre, ist eine andere Frage). Ich arbeite freiberuflich (in erster Linie an dem Bergsportmagazin, das der MDR übernommen hat), mit Vertrag zwar, aber da ich nicht zu den Angestellten gehöre, wird man meine Stasi-Akte nicht anfordern. Von dieser Seite also ist der tödliche Hieb nicht zu erwarten.  

Den Gedanken, eine eigene Produktionsfirma zu gründen, habe ich aufgegeben. Die Aussicht, von heute auf morgen verfemt zu sein, lähmt jeden Gedanken an perspektivische Investitionen.  
Vermutlich wäre es für den Sender und auch für mich finanziell sinnvoller, wenn ich mich fest anstellen ließe. Als K. neulich eine Bemerkung in diese Richtung machte, warf mich das wieder erheblich zurück, denn das zeigte, wie ahnungslos sie ist. Ich hatte zunehmend gehofft, dass ihr meine Haltung zur Stasiproblematik und meine häufigen Unkenrufe, was die Sicherheit meines Einkommens betrifft, dass ihr all das eine Ahnung vermittelte von meinen Sorgen, und dass sie nur deshalb nicht deutlich wird, um keine Gewissheit zu bekommen.  
Es bleibt dabei, es wird sie fürchterlich treffen.   

Ich will nun doch einmal davon schreiben, weil es nicht ehrlich wäre, es zu verschweigen:  

Natürlich geistert durch meine sorgenvollen Erwartungen auch der Name jenes Mannes aus Halle. Es ist mehr als 30 Jahre her, die Einzelheiten liegen im Nebel, mein damaliges Tagebuch gibt nicht viel her. Stünde er morgen vor meiner Tür und forderte Rechenschaft, ich würde ihm ruhig und vermutlich nach bestem Wissen Rede und Antwort stehen.  

Wir waren damals, Ende der 50er Jahre, ich war knapp 20, in Halle eine Skatrunde, 3 Leute, und er machte vor uns beiden kein Hehl daraus, dass er beabsichtige, nach dem Westen abzuhauen.  
Irgendwann fragte die Stasi mich, ob ich wüsste, dass er fliehen wollte. Sollte ich verneinen? Wo sie es offensichtlich bereits wussten? Wo ihnen vielleicht auch bekannt war, dass ich davon wusste? Ich bejahte.   
Das wäre eventuell noch zu verzeihen gewesen, denke ich, wenn ich ihn dann gewarnt hätte. Ich tat es nicht, aus Angst oder.., ich weiß nicht weshalb. Er wurde verhaftet und kam ins Gefängnis.  

Eine Wiedergutmachung ist nicht machbar. Wenn er sich auf Finanzielles einließe, wenn er die neben Erklärung und Bitte um Vergebung einzige Möglichkeit einer relativen Wiedergutmachung akzeptierte, wäre ich dazu bereit. Aber mit Geld Schuld von der Seele zu wälzen, das bleibt wohl ein frommer Wunsch.  

Natürlich hoffe ich, dass die alten Akten, immerhin aus den 50er Jahren, nicht mehr auffindbar sind. Aber mein Schuldbewusstsein hat  mit den Akten nur mittelbar etwas zu tun.  
Irgendwie läuft mir die Schreiberei etwas davon, ich habe zweieinhalb Flaschen Bier und einen Becherovka getrunken, sonst hätte ich die alte Geschichte aus Halle vermutlich gar nicht so ausführlich aufgewärmt. Aber sie gehört natürlich auch zu meinem derzeitigen Befindungsbericht, und eigentlich ziemlich vordergründig. Denn vor diesem Mann, und nur vor diesem, habe ich die Angst des Schuldbewussten, alle anderen liegen mir längst nicht so auf der Seele, da fürchte ich mich nur vor den Folgen der Aufdeckung oder eines Bekenntnisses.  

Letzter Satz: Gauck, der Stasi-Akten-Chef, erscheint mir immer mehr als der leibhaftige Rächer, böse, grausam, verführt von der Macht. Ist dies nur der verschobene Blickwinkel eines Schuldigen auf seinen Richter?  
P.S.  
Ich war schon fast im Bett, da fiel mir ein, was ich auch noch vermerken wollte, weil der Gedanke mich seit Wochen verfolgt:  

In der ekligen, menschenmordenden, die Pogromstimmung anheizenden Medienlandschaft (leider auch „Der Spiegel“) überlege ich einen anonymen Beitrag mit dem Titel  „Ich bin ein unentdeckter IM“.  
Und all das und mehr, was seit 91 in diesem Buch steht, müsste darin erscheinen. Sie würden es vermutlich drucken , aber sie würden mich jagen, sie würden mit allen Mitteln versuchen, den Schreiber zu enttarnen. Und was wäre dann? Ich wäre danach kein unbekannter, sondern ein bekannter Todgeweihter. Das wäre alles.  
 
15.3.92    
K., einer der großen Sportler der letzten Jahre, leidet enorm unter seinem Abdriften in die zweite Reihe. Dabei ist das normal bei seinem Alter um die 40, die Besten der Welt sind zwischen 20 und 30. Gestern, als ich ihm freundschaftlich grinsend sage, dass er zur Zeit unerträglich sei und ich wohl fünf Jahre warten müsse, bis man sich mal wieder friedlich mit ihm auf die Gartenbank setzen könne, antwortet er mir: „ Ja, Du hast Recht, ich meckere zur Zeit ziemlich viel. Aber wenn Du siehst, wie viel Idioten es gibt.... Und dann meine Geldsorgen, bisher spielte Geld für mich nie eine Rolle, und jetzt ist es das Wichtigste.....“, er bricht ab, guckt grübelnd vor sich hin und sagt dann, fast für sich: „ Ich freue mich auf meine Akte!“   

Die Deutung dieses Gedankensprungs ist einfach – in dem allgemeinen Frust, privat, sportlich und beruflich, gibt’s als einzigen Lichtblick die zu erwartende Eröffnung. Sie wird ihm die Peitsche in die Hand geben, mit der er andere geißeln kann. Um sich ein bisschen Luft zu machen. Um sich endlich wieder einmal über andere erheben zu können. Vermutlich ist es ihm gleichgültig, wen es dabei trifft.  

Am selben Tag, gestern, nur vormittags, gehen wir mit P. spazieren, einer Frau aus W. Sie ist nett, eigenwillig, nicht dumm. Sie leidet unter der Abgeschiedenheit ihres Dorfes. Die paar Bewohner geben ihr nichts, ihr Mann ist selten zu Hause. Aus Mangel an anderen Gesprächsstoffen ist ihr Lieblingsthema das Herziehen über andere Dorfbewohner. Einer aus dem Ort scheint nun, nachdem ähnliche Gerüchte ihm schon lange vorauseilten, per Akte der Stasi-Mitarbeit überführt zu sein. Dazu G.: „Der war wohl gestern abend noch in der Kneipe? Na, der traut sich was, dieses Schwein. Will wohl noch das Geld verprassen, das er für seine Spitzelei gekriegt hat!“  

Später: „Einen Wohnwagen hat er sich gekauft. Hübscher Wagen für das schmutzige Geld!“ Selbst wenn es stimmt, dass der Mann ein IM war, ich glaube das eigentlich, dann ist noch lange nicht bewiesen, dass er auch Geld für seine Tätigkeit bekommen hat. Ich vermute sogar, aus eigener Erfahrung, dass die Norm eher war, dass nichts gezahlt wurde.  

Ich erwische mich jetzt gelegentlich bei dem Wunsch, wenn es schon unausbleiblich ist, dann möge das „Aus“ möglichst bald kommen. Auch aus Neugier, wie ich das Ereignis dann verarbeite. Ich hab zu K. schon einige Male gesagt, ohne dass diese vermutlich die Andeutungen versteht:  „Wenn ich mal arbeitslos werde, mache ich eine Wanderung durch Deutschland, ich freue mich schon darauf.“ Ich spiele für den Fall der Fälle tatsächlich mit diesem Gedanken, und ich hoffe, dass, wenn es passiert, es nicht so spät geschieht, dass ich für solche Unternehmungen vielleicht zu alt bin.  

Aber wahrscheinlich ist das alles Theorie, die ungeheuren emotionalen Abstürze, die dann ins Haus stehen, sind überhaupt nicht vorher zu berechnen.  
Aber schlecht wärs natürlich nicht, Ränzlein schnüren und ab. Neues Leben, zumindest für ein Jahr. Graue Theorie! Graue Theorie?  

Übrigens verhalte ich mich in den endlosen Gesprächen, die in allen möglichen Kreisen über die Stasi und die Akten geführt werden, immer so, dass manch einer mir möglicherweise einen nachdenklichen Blick hinterher wirft. Ich spreche – voll Überzeugung – von der Unruhe, von hunderttausend kleinen Explosionen , welche die Akten in unsere Gesellschaft tragen. Ich rede von dem unterschiedslosen Elend der „Enttarnten“, von der Pogromstimmung, die alle Unzulänglichkeiten der neuen Zeit überdeckt, vermutlich überdecken soll. Ich sage, dass nur die Einzelfallprüfung der jeweiligen Verfehlung wirklich gerecht werden kann – wer hat was geschrieben, wie lange ist das her, aus welchen Gründen hat er mitgemacht, welchen Schaden hat er angerichtet -, dass diese Einzelfallprüfung aber weder gewollt noch möglich ist, dass alles auf eine tödliche Pauschalverurteilung hinausläuft.  

Ich zitiere immer wieder dasselbe Beispiel, K.s Freundin, die uns, es stand im „Stern“,  bespitzelt hat (oder besser: die eine Einschätzung von uns geschrieben hat), die eine über mich Ende der 80er Jahre geschriebene Charakteristik sogar zurückbekam mit der Bemerkung, ich sei als wesentlich kritischer bekannt. Diese Freundin also, IM, ein weiches, unsicheres Mädchen, schwach, schwul, dem Alkohol verfallen, vom schlechten Gewissen schließlich zu einem Suizidversuch getrieben, stelle ich dann neben die Reihe meiner ehemaligen Chefs. Männer und Frauen, die uns tagtäglich mit der Parteilinie geißelten, die Unbequeme mobbten oder für sie Berufsverbot erwirkten (Beispiel K., der ehemalige Regisseur), die jede Wahrheit, wenn gefordert, ins Gegenteil verdrehten, die eilfertig alles taten, was die Partei von Ihnen wünschte, wozu natürlich auch die geheime Zusammenarbeit mit der Stasi gehörte. Diese „Ehemaligen“ stehen jetzt scheinbar untadelig da, während über K.’s  Freundin, das verängstigte Mädchen, der ganze Kübel der gesellschaftlichen Verachtung ausgegossen wird.  

Das postuliere ich dann immer in unseren Gesprächen. Hitzig, erregt. Damit sie wenigstens hinterher nicht behaupten können, ich hätte bis zum Schluß wie ein Weltmeister geheuchelt.  
Wobei das dann sicherlich auch egal ist.  
 
30.3.92    
Keine Änderung. Ich erwarte jeden Tag das „Ereignis“. Wann immer ich den Briefkasten öffne, das Telefon klingelt oder ich einen Zettel an der Wandzeitung entdecke. In der Regel geschieht das ohne Panik, nicht einmal unruhig bin ich im Normalfall, nur wenn die Medien oder ein Mitmensch sich mal wieder hasserfüllt und rachefreudig geben, durchweht mich die Ahnung von künftigen Schrecken. Im Großen und Ganzen aber gehe ich mit rechter Ruhe über die immer dünner werdende Decke.  

Es könnte sein, dass noch niemand von den Leuten, in deren Annalen ich auftauchen könnte, seine Akte bereits hat. Bis jetzt sind wohl nur „dringende Fälle“ bearbeitet worden. Es ist also möglich, dass ich noch gar nicht „enttarnt“ werden könnte, weil alles noch wohlverwahrt in den Schränken der Gauckbehörde ruht.   
Aber dann, wenn es losgeht!  

Selbst wenn der eine sich nicht meldet und der andere mir verzeiht, der Dritte es vielleicht bei Verachtung unter vier Augen belässt und der Vierte akzeptiert, dass ich ihm keinen Schaden zugefügt habe – dann wird es eben der Fünfte sein, der mich öffentlich ans Kreuz schlägt, oder der Zehnte. Denn Charakteristiken habe ich im Verlaufe der Jahre von so manch einem abgeliefert, und es war mir, wenn ich mich recht erinnere, fast eine journalistische Lust, diese Charakterskizzen inhaltlich präzis und in der Form geschliffen anzufertigen. Nur politisch, glaube ich, habe ich kaum jemand schadenverursachend beurteilt, von der Ausnahme vor langer Zeit war hier schon die Rede. Ich hoffe, mein Gedächtnis trügt mich dabei nicht.    

Ich produziere zur Zeit eine Reportage, die mich regelmäßig in ein großes Warenhaus führt. Hunderte von Leuten kennen mich, ich erhalte Sympathiebeweise von allen Seiten. Es wäre interessant, die Kommentare dieser Leute zu hören, wenn die Bombe geplatzt ist. Auf verständnisvolle Gnade kann ich vermutlich gerade in Sachsen, wo die Stasi-Hysterie vielleicht am schlimmsten ist, kaum hoffen.  

Übrigens, wenn ich leicht angetrunken bin, nach ein, zwei Flaschen Bier, fallen mir immer sehr einleuchtende Rechtfertigungen ein. Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm, ich bin erpresst worden, ich hätte meinen Beruf nicht ausüben können, ich habe Haltung gezeigt und mich mit den Stasileuten politisch herumgestritten, ich habe versucht, über meine Berichte eine reale Einschätzung  der verfahrenen politischen und wirtschaftlichen Situation  an die Machthaber zu übermitteln, ich bin selbst observiert worden, und meine Akte enthält sicherlich mehr über mich als von mir. Und ein bisschen oder auch zu großen Teilen stimmt das sogar. Aber wie könnte ich es beweisen, wer wird es wissen wollen.  
Naja, wir werden sehen.  
 
18.8.92    
Die Bomben schlagen immer dichter ein. In Halle wurde eine Liste mit 5000 IM veröffentlicht. Wieder war ich wie gelähmt, aber inzwischen weiß ich, die Liste beginnt erst, bzw. reicht zurück bis Mitte der 80er Jahre.  
Eine Moderatorin vom MDR-Rundfunk wurde im Boulevardblatt „Morgenpost“ enttarnt, alles, was greifbar war, wurde gegen sie verwandt.  

Vorige Woche eine ähnliche Aufmachung, der Moderator einer Wandersendung war an der Reihe.  
Zwischendurch Kati Witt, die Eltern von Franziska van Almsick, einige Fußballer usw.  

Manche geilen sich regelrecht auf an dem Thema. Der CDU-Mensch, von dem hier schon einmal die Rede war, der „rechtwinklig abgebeugte Anpasser“, hat nun erfahren, dass tatsächlich eine Akte von ihm existiert, dass er observiert wurde (kein Wunder, er war ein wichtiger Mann auf Kreisebene). Als er mir das erzählt, glühen seine Augen geradezu begeistert. Ich werde jetzt die freundschaftlichen Beziehungen zu ihm auslaufen lassen. Er ist mir mit seiner selbstgerechten Art unerträglich geworden. Jetzt kann noch ich den Kontakt abbrechen, wenn erst der „Tag X“ gekommen ist, würde er es ohnehin tun.     
Ich hab noch einmal nachgedacht über mich und mein Verhältnis zum MfS.   

Ich bin mein Leben lang ein aufsässiger, zu spontaner Kritik neigender Mann gewesen, am Gymnasium, beim Studium, in der Armeezeit, als Leistungssportler, als Sportreporter, als Parteimitglied – überall und immer habe ich deshalb Ärger bekommen. Und auf der politischen Ebene war ein solcher Charakterzug kreuzgefährlich, im schlimmsten Falle existenzbedrohend. Mein Verhältnis zur Stasi, so zufällig es sich am Anfang ergeben hat, erfüllte eine Art Schutzfunktion, war gewissermaßen mein Sicherheitsnetz. Solange sie sich mit mir noch zu „vertrauensvollen Gesprächen“ gemeinsam an einen Tisch setzten, glaubte ich sicher zu sein, dass sie nichts wirklich Böses mit mir vorhatten. Und sie, denke ich, gingen davon aus, dass sie mich durch solche Zusammenkünfte wenigstens halbwegs unter Kontrolle hatten.  

Innerhalb dieser Spielregeln war erstaunlich viel Offenheit möglich. Ich vertrat die „reine Lehre“ des Sozialismus, ich kritisierte – ungestraft - Staat, Partei, Schleimscheißer, ich nahm mit Freude die Funktionäre aufs Korn, die uns das Leben schwer machten, die im Namen des Sozialismus uns würgten, heuchelten und ihre Macht zum eigenen Wohle missbrauchten (wenn meine Einschätzungen dieser „Hundertprozentigen“ eines Tages auf dem Tisch liegen, ohne dass erkennbar ist,  welch miese Rolle diese Typen vor der Wende gespielt haben, dann wird das Öl sein ins  Feuer der Feme).  

Irgendwann Mitte der 80er, unter dem elektrisierenden Einfluß von Gorbatschow, wurde ich immer offener, immer euphorischer. Bei einem der letzten Kontakte wollte der Stasi-Mensch ohne erkennbaren Grund in unsere Wohnung, wenig später gab es Schlossprobleme und Spuren von Manipulationen am Klingeltrafo. Ich ging dann nicht mehr hin, sie luden mich schließlich nicht mehr ein. Das wars mit der Stasi. Glaubte ich. Ich armer Irrer.    

Ich werde hier im Sender und wohl auch unter wesentlichen Teilen der Bergfreunde – unverdient – als so markante Persönlichkeit gehandelt, dass die beste Art, den Strudel nach dem „Tag X“ zu bestehen, vermutlich wäre, mich einfach finster in meinen Vollbart zurückzuziehen, ein paar wenige Bemerkungen (etwa zur „Schutzfunktion“) zu machen und ansonsten verbissen zu schweigen. Fest, geheimnisvoll, tiefgründig, eben wie ein markanter Typ aus den Bergen. Aber da ich das nicht bin, wird mir diese praktische Haltung wohl auch nicht gelingen. Nur eins sollte Gesetz sein: Keine wortreichen Erklärungen oder Entschuldigungen. Das wird niemand hören wollen.  

In der Zwischenzeit gehen die Enthüllungen in Sachen Stasi munter weiter, am liebsten unter den Prominenten: Heiner Müller, Günther Fischer, Christa Wolf, Ludwig Güttler. Teilweise sind es lächerliche Anlässe, die dennoch in den Medien genüßlich breitgetreten werden, bei anderen gibt es offenbar wirklichen Anlass zur Entrüstung.  

Richtig schlimm hat es wohl der Mann aus dem Dorf getrieben, der mit dem Wohnwagen. Der hat nicht nur alles verraten, was zu verraten war, der hat auch noch hinzugedichtet, nur um Böses zu tun oder um gut dazustehen. Mich muß er, das erfuhr ich von anderen, auch beim Wickel gehabt haben. Allerdings wird mit dem jetzt ganz übel Schlitten gefahren. Ein Freund aus seinen Jugendtagen, jetzt sich langweilender Rentner, verwendet viel Zeit darauf, den Verrat in allen Details publik zu machen.  
 
28.4.93    
Noch ein paar Monate Galgenfrist sind verstrichen. Abermals denke ich, es ist so weit.  
Eine groteske Situation: Ich sitze im Auto, vor der Post, es ist 7.30 Uhr, die Post öffnet erst um 8 Uhr. Ich vertreibe mir die Zeit bis dahin mit diesem Zustandsbericht. Gestern fand ich eine völlig normale Benachrichtigung im Briefkasten. Ich solle am nächsten Tag von der Post ein „Einschreiben“ abholen. Ein Einschreiben. Wer schickt heute, da die Gebühren so hoch sind, noch ein Einschreiben? Eigentlich nur Ämter. Oder Gerichte.  

Ich habe gestern abend gegrübelt, ich habe heute morgen beim Aufwachen gegrübelt, und nun stehe ich hier vor der Post und warte auf den Scharfrichter.  
Vielleicht ist es auch etwas ganz Belangloses. Vielleicht. Aber dann geht das dumpfe Warten, ohne vordergründige Panik zwar, aber doch auf die Dauer nervtötend, weiter.  
Gestern stand ein Artikel in der Zeitung, irgendeine Frau hatte ihre Freunde, die abhauen wollten, verraten. Die Freunde mussten sitzen, sie bekam jetzt 11 Monate auf Bewährung.  
Das wäre das Schlimmste, eine Veröffentlichung in der Zeitung. Alles andere ist böse genug, Arbeit, Freunde, u.U. Familie, alles hin. Aber eine Veröffentlichung in der Presse umgibt den Betroffenen mit verbrannter Erde, da ist nichts mehr zu reparieren, da wächst auf Jahre nicht ein Halm mehr.  

Ein Kollege, ein intelligenter, journalistische begabter, ist jetzt in unserer Redaktion als IM entlarvt worden. Neulich traf ich ihn. Ich will mit ihm reden, mich ihm vielleicht sogar anvertrauen. Als ich ihn um eine Unterredung bitte, rutscht sein offenes, fröhliches, intelligentes Gesicht zusammen, wird hilflos, schuldbewusst, verzerrt.  

Ich beeile mich, ihm zu sagen, dass ich meine eigenen Erfahrungen und Ansichten zum Thema Stasi hätte, und verabschiede mich hastig. Sein Gesicht hat mich tief erschreckt. So soll mich später mal niemand sehen. Ich will die Lebensniederlage wenigstens mit Haltung überstehen. Ob ich die Kraft dazu haben werde, weiß ich allerdings nicht.    

Ich hab noch ein paar Minuten Zeit, da will ich schnell noch den Fall einer Bekannten festhalten, die aus dem Öffentlichen Dienst entlassen wurde, weil ihr – minimale und zeitlich eng begrenzte - Kontakte zur Stasi nachgewiesen wurden, die sie aber damals ihrem Chef und den nächsten Verwandten sofort beichtete. Sie hat gegen die Kündigung geklagt, und nach dem ersten Verhandlungstag vor dem Arbeitsgericht glaubt sie nun, dass sie eine Chance habe. Sie behauptet, dass ihr Stasi-Kontaktmann in seinen Berichten eine Menge hinzugedichtet hat, und zum Beweis sucht sie jetzt diesen Stasi-Mitarbeiter als Zeugen zu finden.  

Wenn ihr das gelingt, wenn sie tatsächlich eine willkürliche Manipulation der Akten nachweisen kann, dann wäre das eigentlich ein Präzedenzfall, der das ganze Stasi-Akten-System erschüttern müsste, denn bisher werden diese Aufzeichnungen als geradezu biblische Wahrheitsgaranten betrachtet.  
So, es ist 8 Uhr, ich gehe jetzt rein in die Post................  Es ist die Lohnsteuerkarte!  
 
1.5.93    
Ich habe meine allerersten Tagebücher durchforstet. Im Mai 1957 verlor ich meine Stasi-Unschuld, noch vor meiner eigentlichen Unschuld.   
Ich bin von dem Gelesenen unangenehm berührt. Ich habe vieles vergessen. Zwar war der Anfang so, wie ich ihn in Erinnerung habe (sie hatten mich wegen einer Bagatelle verhört), auch die ersten Beweggründe stimmen („Spion werden“), aber dann wurde es doch mehr und mehr moralisch anfechtbar. Gleichzeitig aber hatte ich an der Uni riesige politische Probleme, sogar eine von mir geführte „reaktionären Gruppe“ sollte es geben (gab es nicht).  

Ich war eben beides, der unbeherrschte, kritische Brausekopf, und der Mann, der sich mit der Stasi verbandelte. Wenn allerdings der Tag der Abrechnung kommt, wird mein Oppositionsgeist keine Rolle spielen. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin.    

Ich arbeite noch immer fast ausschließlich für das Bergsportmagazin, es macht mir Freude, ich bin weitgehend mein eigener Herr, und den Zuschauern gefällt, was ich ihnen monatlich einmal serviere. Allerdings begleitet mich bei jeder hübschen Idee die Sorge, ich könnte nicht mehr genug Zeit haben, sie umzusetzen und auf den Sender zu bringen.  

Hin und wieder erhalte ich Angebote, als Talkmaster mitzuwirken, bei den MDR-Sendungen „Riverboat“ beispielsweise oder dem „Dresdner Gespräch“. Ich lehne  alles ab, in erster Linie, weil ich Angst habe, mich politisch zu weit hinauszulehnen. Denn ich stehe nach wie vor auf brüchigem Boden, daran wird sich – zumindest zum Guten – nichts ändern.  
 
15.9.94    
Fast anderthalb Jahre sind seit der letzten Eintragung vergangen, ein Zeichen dafür, dass nichts Außergewöhnliches geschehen ist.  
Ich bin nicht mehr täglich, stündlich aufgebracht und in Sorge.  

Vor einiger Zeit habe ich für den Fall des Outings ein mehrseitiges Schriftstück verfasst und vervielfacht. Das will ich, wenn’s los geht, einigen wenigen in die Hand drücken. Meinen Chefs vermutlich und diesem oder jenem Freund. Ich hab es jetzt schon geschrieben, weil ich vermute, dass mich am „Tag X“ Panik befallen wird und ich zu keiner sachlichen Aussage fähig sein werde.  

Allerdings ist in der öffentlichen Stasi-Betrachtung die Hysterie doch schon ein wenig gewichen. Es gibt Musiker, Sportler, Kommunalpolitiker, über die es eine Stasiakte gibt, und mit denen man trotzdem im Einvernehmen lebt. Auch zwei, drei meiner Kollegen können – wenngleich auf Sparflamme und mehr oder weniger anonym – wieder beim MDR arbeiten, obwohl sie stasi-infiziert sind.   
Vielleicht kann ich nun dem Tagebuch doch auch langsam wieder ein anderes Gesicht geben, nicht mehr nur über meine Ängste reden. Wenns losgeht, ist immer noch Zeit genug.  
Am Wochenende waren Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg. Wenig erfreuliches Ergebnis: die CDU erreicht in Sachsen 58 %. In gewisser Weise allerdings ist das  verständlich, denn der Chef Kurt Biedenkopf ist einer von den wenigen führenden Köpfen in der CDU, die man rundherum akzeptieren kann.   

Erfreuliches Ergebnis hingegen in Brandenburg – Manfred Stolpe, obwohl auch mit leichtem Stasi-Geruch, schafft für die SPD mit 54 % ebenfalls die absolute Mehrheit     
Die PDS erreichte in beiden Ländern 18 %, sie wäre damit jeweils fast zweitstärkste Partei geworden. Ich habe dafür wenig Verständnis. Die PDS ist die Nachfolgepartei der SED, sie gibt sich als rundherum geläutert und erneuert, doch es gibt gar keinen Zweifel, dass sie zu einem großen Teil noch aus den alten, verbissenen, zutiefst undemokratischen Würgern besteht, die nur klug genug sind, sich jetzt nicht in den Vordergrund zu drängen.  

Ich habe nie begriffen, dass man das System verurteilt, die Stasi geradezu verteufelt hat, und die Gruppierung, die das alles erfunden , geboren, installiert hat, die SED nämlich, nicht verboten hat. Einer neuen, vom Modergeruch der SED befreiten, der sozialistischen Idee ergebenen Partei hingegen würde ich alle Sympathien entgegenbringen.  

Die PDS-Wähler gehen entweder der Schafspelzverkleidung auf den Leim, oder aber, wenn sie aus Enttäuschung nostalgisch wählen, achten sie all das durch die Wende Erreichte  tragisch gering. Wir haben Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, auch wirtschaftliche Besserstellung gewonnen, zwar viele längst nicht im erhofften Maße, aber eben doch in einem Umfang, wie es das System vorher niemals hätte erreichen können.  
Dem Kanzler Kohl übrigens, der mir sonst herzlich gleichgültig ist, halte ich zugute, dass er, aus welchen Gründen auch immer, 1990 die Einheit Deutschlands so konsequent betrieben hat. Am Anfang hatte ich das anders gesehen, aber wäre den Russen einer ihrer Putschs geglückt, und wir wären noch DDR gewesen, dann hätten wir uns im Handumdrehen wieder hinter dem Eisernen Vorhang befunden. Eine grausige Vorstellung.  

Beruflich geht’s mir blendend. Niemand redet mir rein, die Sendung ist beim Publikum hoch angesehen, und ich bin in Dresden und Umgebung geradezu fatal populär. Mein derzeitiges Einkommen dürfte netto etwa beim Doppelten eines Durchschnittsverdienstes liegen. Ich könnte mich als echter „Wende-Gewinnler“ fühlen, wenn es da nicht diesen Schönheitsfehler gäbe.  
 
2.11.94  
Die gefährliche Ruhe in Sachen Stasi vertieft sich, irgendwie beginne ich, mich sicher zu fühlen. Der, vor dem ich Angst habe, hätte sich längst melden müssen, dass er es nicht tat, muß Gründe haben. Er könnte selbst mit dem MfS verstrickt sein; er könnte erkannt haben, dass ich nicht Ursache seines Debakels war, sondern nur Begleiter; er könnte Sorge haben, die Attacke auf einen Mann, den das Publikum mag, könnte für ihn selbst  Ungemach bringen; er könnte aber auch nach mir suchen und mich vernichten wollen, nur er kann meinen „Klar-Namen“ nicht finden, weil die Akten aus irgendeinem Grunde nicht auffindbar sind. Diese Gründe bastele ich mir zusammen für den eigenartigen Zustand, dass ich bisher von ihm nichts gehört habe.   

Und alle anderen üben Großmut, weil ich ihnen wenig getan habe, und die wenigen anderen, die ich geißelte, waren ausschließlich solche Bösewichte, dass sie sich hüten, heute anklagend das Haupt zu heben.  
So stelle ich mir das vor.   
Und das ist natürlich Illusion.  

Trotzdem – ich bin dabei, mich in meiner unpolitischen Ecke zunehmend sicher zu fühlen.  
Als mein Chef mir neulich erneut die Moderation des „Dresdner Gesprächs“, einer innenpolitischen Sendung, antrug, sagte ich ihm, dass ich politischen Journalismus noch für einige Zeit meiden will, weil ich glaube, mit meiner überkommenen Schuld nicht die moralische Qualifikation dafür zu haben. Er verstand unter meiner Schuld, ich suggerierte es ihm, meine SED-Zugehörigkeit, ich meinte insgeheim etwas anderes.  
Manchmal denke ich sogar, dass die Leitung des MDR längst meine Stasiverstrickung kennt, dass sie mich aber, solange das nicht publik wird, weiterarbeiten lässt, weil ich eines der wenigen „Gesichter des Landesfunkhauses Sachsen“ auf dem Sender bin (es gibt nicht wenige Stimmen, die mein Bergsportmagazin als die beste Sendung des MDR bezeichnen).  

Übrigens, das wollte ich schon immer mal vermerken, hab`s aber jedes Mal vergessen:  
Meine permanente Sorge, meine ständige Angst, zeitigen zumindest ein positives Ergebnis: Obwohl ich erfolgreich, angesehen und beliebt bin wie noch nie, neige ich erstmals in meinem Leben nicht zu ironischer Überheblichkeit. Ich bleibe „hübsch auf dem Teppich“. Wer dankbar ist für jeden Tag, den er überleben darf, neigt nicht zu Höhenflügen. Not lehrt beten, heißt es, Angst lehrt Bescheidenheit.  
 
23.1.95    
Ein neues Jahr hat begonnen. Nach Phasen der Ruhe würgt mich nun wieder die Angst.  
Die Journalisten sind in die Schusslinie geraten. Einer meiner Kollegen wurde im „Focus“, dem neuen „Spiegel“-Konkurrenten, genannt, und seit einer Woche wird ein erheblicher Medien-Aufwand betrieben um die Enttarnung eines blinden (!) Radio-Moderators vom ORB.  

Alle Zeitungen, alle TV-Stationen berichten, am liebsten Details aus der Akte des Mannes.    
Und als der Blinde bereits mit Nervenzusammenbruch im Krankenhaus lag, vorgestern war das, da rückte die Gauck-Behörde den Rest der Akten heraus und blies noch einmal kräftig Wind ins Medienfeuer.  
Es schüttelt mich, wenn ich mir vorstelle, morgen könnte es mir ähnlich gehen. Bis ans Ende der Welt werde ich flüchten wollen, und nun ist es doch so weit – erstmals denke ich, dass Selbstmord die beste Lösung wäre.  

Ich fühle Ohnmacht und Hass gegenüber diesen kalten, überheblichen, unangreifbaren Medien. In dem willkürlichen Gebrauch ihrer Macht erinnern sie an stalinistische Zustände.  
Sie werden mich zertreten wie eine Küchenschabe und sie werden nichts dabei fühlen als befriedigten Jagdinstinkt.  

Eine der Formulierungen, mit der im MDR der mit entzündeten Nerven im Krankenhaus liegende Blinde „demaskiert“ wurde, lautete etwa so (aus dem IM-Bericht): „Der Musiker X ist stark frustriert und behauptet, er werde unterdrückt und könne seine Kreativität nicht entfalten.“  

Ich will dem Blinden gar nichts Positives unterstellen. Aber man kann diesen Satz auch so auffassen, dass hier die berechtigte seelische Not eines Künstlers an die  Adresse weitergeleitet wird, die in der Lage ist, eine Änderung zu bewirken.  

Das ist so weit hergeholt nicht, wie es scheint, denn ich habe beispielsweise beim Regisseur I. und vermutlich auch beim Sportler B. unter genau diesem Vorzeichen die seelische Verfassung geschildert. Habe für Verständnis geworben, die Umstände kritisiert und eine Lösung der Probleme angeregt.  

Was solls, es wird mir mit Sicherheit nur als Schönreden ausgelegt.  
Vielleicht ist Flucht, wenn’s mir geht wie dem Blinden, Flucht für ein, zwei Monate oder gar ein Jahr tatsächlich das Beste. Irgendwo Richtung Süden und dort als Kellner arbeiten.  
Aber halte ich das durch? Und was ist mit K.? Überhaupt, wie wird sie sich verhalten?  
Grauenhaft!  
 
27.1.95    
K. hat mit dem Chef telefoniert. Anschließend sagt sie bedrückt: „Es sind noch vier IM- Namen im Spiel!“  Mir schießt das Blut zu Kopf, es ist klar, darunter kann, darunter muß auch mein Name sein.   
Das war vor zwei Stunden.  

In der Zwischenzeit habe ich einige Dinge erledigt, wie durcheinander ich bin, sieht man daran, dass ich um ein Haar mit unserem Müllsack in der Hand, den ich einwerfen wollte, in Richtung  Sparkasse marschiert wäre, außerdem hätte ich mit dem Auto fast einen Unfall produziert.  

Erstaunlich übrigens – im Augenblick, da K. es sagte, nach dem ersten wilden Schreck, verspürte ich auch so etwas wie Erleichterung, Befreiung. In der Zwischenzeit ist die Angst wieder größer als jedes andere Gefühl.
Es ist Freitag, das Wochenende steht vor der Tür und damit drei Tage fiebriger Ungewissheit.  
Ich bin auf die nächste Eintragung gespannt.  

Aber dieses fette Leben, dieses mühelose Vielgeldverdienen und ohne Sorgen In-den-Tag-Hineinleben, das konnte ja auch nicht so weitergehen.  
Schade, bitterschade, dass ich neben allem anderen wahrscheinlich auch meine neue Heimat, die schöne Stadt Dresden, verlieren werde. Bei meinem Bekanntheitsgrad und der vermutlich öffentlichen Bloßstellung wird mir die Stadt sicherlich verleidet werden.  
Eigentlich wollte ich meine Tage hier beschließen.  
 
30.1.95    
Das Wochenende wurde so qualvoll, wie es zu erwarten war. Je näher der Montag kam, um so wunder wurde ich innerlich. Ich spielte Dutzende erste Reaktionen durch,  
die favorisierte: „Ich habe mit dem System mehr Ärger gehabt und mehr Rückgrat gezeigt als die meisten derer, die nichts mit der Stasi zu tun hatten. Und wenn in diesen verdammten Akten nur eine Spur von Wahrheit ist, dann müsste das darin zu lesen sein!“  

Heute nacht, zum Montag also, bin ich mehrfach mit geradezu brennender Seele aufgewacht und habe alles durchgespielt.  
Vormittag in der Redaktion. Als erstes registriere ich, dass die Pförtner normal-freundlich grüßen, auch alle anderen Kollegen. In der Zeitung scheint also nichts zu stehen.  
Dann gibt’s eine Ressortleitersitzung (ich gehöre nicht zu diesem Kreis). Nach der Sitzung treffe ich einen der Teilnehmer. Ängstliches Forschen. Alles normal. Ich fahre nach Hause. Auf dem Anrufbeantworter ist K., die ich nach der Sitzung nicht gefunden hatte: „Bitte ruf mich an, ich habe Sorgen!“  
Das wars. Das ist es.  
„Es geht los,“ sage ich halblaut.  
Ich rufe K. an.  
Sie hat ein dienstliches Problem und möchte meinen Rat. Ich bin so erleichtert, dass ich eine geradezu erotische Hochstimmung verspüre.  
 
14.2.95    
Wenn psychische Probleme sich in körperlichen Beschwerden niederschlagen, müsste ich demnächst krank werden. Ich kann mich nicht wieder beruhigen. Die Angst würgt mich, seit K. von den „vier Namen“ sprach. Ununterbrochen.  

Dabei mache ich zur selben Zeit fröhlich-lockeres Fernsehen, das sehr gut ankommt. Eigenartig, dass so etwas möglich ist.  
Ich habe mich neulich, eigentlich erstmals, gefragt, ob ich die Stasi-Kontakte bereue.  

Die Sache damals, Ende der 50er Jahre in Halle, die liegt mir im Magen, das ist klar, die würde ich gern ungeschehen machen.   
Aber ansonsten – ich weiß nicht. Ich war Sportreporter mit Leib und Seele, ich konnte mir keine andere Tätigkeit vorstellen, aber nach dem gnadenlosen, jahrelangen, zermürbenden Mobbing – auf Nebengleise abgeschoben, von Auslandsreisen als einziger ausgeschlossen - hätte ich schon Mitte der 70er Jahre meinen Beruf  aufgeben müssen. Weil ich die Situation nervlich einfach nicht mehr verkraftete. Hätte ich mich damals nicht erneut mit der Stasi verbandelt, wären mir die großartigen Erlebnisse Olympischer Spiele in Innsbruck, Montreal und Moskau versagt geblieben, ich hätte nie den Ansporn und die Befriedigung erfahren, Journalismus zu machen für ein wirklich großes Publikum, und ich hätte nie gefühlt, wie man als Ostmensch das Westland erlebt.   

Ich weiß natürlich, dass diese Sicht anfechtbar ist. Dass damals eine gute Portion Charakterschwäche und Verführbarkeit dazu gehörte.  
Aber was solls, ob Reue oder nicht, fest steht, dass ich schon jetzt dafür zahle mit einem nicht enden wollenden Seelenfieber, wobei das vermutlich längst noch nicht der Höhepunkt des Büßerganges ist.  
 
7.7.95    
Ich bekomme seit Monaten nicht richtig Luft, wurde mehrmals geröntgt, jetzt zu einer Computer-Tomografie bestellt.  
Ich habe Angst. Vor Krebs. Und Lungenkrebs soll der Grässlichste sein.  

Ich dachte eigentlich, das „dicke Ende“ in meinem Leben käme aus der Stasi-Ecke. Nun kommt es möglicherweise aus einer ganz anderen Richtung.   
Wenn es zu Ende geht mit mir, will ich vorher alte Rechnungen begleichen. Auf jeden Fall werde ich zu dem gehen, in dessen Schuld ich mich fühle, und mich mit ihm aussprechen. Und wenn ich noch ein, zwei halbwegs gesunde Jahre habe, will ich versuchen, mein Tagebuch doch noch zu einem durchgehenden Manuskript zu stricken.  

In einem Gespräch äußerte ich neulich, dass jetzt zu sterben der richtige Zeitpunkt sei, denn alles, was ich noch erwarten könne vom Leben, sei nirgendwo eine Steigerung, nicht einmal die Erhaltung des status quo, sondern  ein -  bestenfalls langsames - Abgleiten in die Widrigkeiten des Alters. Dass ich bei diesen pessimistischen Ansichten auch noch eine ganz andere Gefahr im Auge habe, verschwieg ich natürlich.      
 
20.2.96    
Es ist schimpflich. Kaum hatte ich die erlösende Nachricht, dass alles in Ordnung sei (ich umarmte spontan die Ärztin, mit Tränen in den Augen), kaum war ich „freigesprochen“, vollzog sich der Wertewandel in umgekehrter Richtung. Keine tiefsinnigen Weltuntergangsstimmungen, nach einer Woche war ich derselbe Mensch wie immer. Nicht einsichtiger, nicht klüger, nicht bedachtsamer. Als wäre nichts gewesen.  

Zur Zeit organisiere ich ein Klassentreffen, wir haben vor 40 Jahren Abitur gemacht. Im Juni, also in vier Monaten, soll es stattfinden. Bange Frage, wie bei allem, was ich etwas längerfristig angehe – wird die Ruhe noch anhalten bis dahin? Ich habe mit allen telefoniert, erstmals nach Jahrzehnten auch mit den „Wessis“, also jenen, die 1956 nach dem Abitur in den Westen gingen. Einige steuerten in diesem ersten Gespräch nach 40 Jahren sofort etwas bei von „Stasi-Verfolgung in der Zone“. Das kann ja heiter werden beim Klassentreffen. Aber wenn selbst unter uns Ossis das Thema Stasi nur mit konsequenter Schwarzmalerei behandelt wird, kann man von denen drüben eine sensiblere Einordnung wohl kaum erwarten.  

Neulich hatte ich per Zufall Kontakt zu jenem Kollegen, der hier in Dresdener Fernsehkreisen als erster IM geoutet wurde. Das ist drei Jahre her. Ich denke, nun könnte doch wohl Gras über die Sache gewachsen sein. Ich frage ihn, was er arbeitet, und er sagt: „Nichts. Ich habe nichts“. Der Mann ist Familienvater, promovierter Literaturwissenschaftler, Verfasser von Büchern, nachweislich auch ein Fernsehtalent.  
Mich hats innerlich geschüttelt. Ich hab ihm ein paar leere Trostworte rübergereicht und bin hastig gegangen.   

Wenn es nicht zu gefährlich wäre, würde ich einen Fernsehbeitrag produzieren über das Schicksal der enttarnten IM´s. Wie es ihnen erging und ergeht. Seelisch, beruflich, familiär, finanziell, gesellschaftlich. Was da für Scherbenhaufen entstanden sind. Vielleicht übertrifft das Leid schon jenes, das die IM angerichtet haben (allein für diese Bemerkung würde man mich in der Öffentlichkeit zerreissen ).   
Ich sehe immer Gauck vor mir, den Mann mit der grauenvoll sanften Stimme, wie er IMs niedermäht, als wären sie Unkraut.   

Wir sollen uns selbst zu erkennen geben, Frieden schließen, indem wir unsere Verfehlungen bekennen. Dass ich nicht lache. Wer klettert  schon freiwillig auf den Scheiterhaufen? Die Begegnung mit dem Bekannten hat mich wieder in tiefstes Grübeln gestürzt.  

Wenn alles ans Tageslicht kommt, vermutlich schreiend laut und im Scheinwerferlicht, werde ich mich ausweglos fühlen, in die Ecke gedrängt, ich werde fiebrig-erregt nach einer Lösung suchen, wo es keine gibt – außer der einen, endgültigen. Ich suche krampfhaft nach einem Fluchtort, einer Nische, in die ich mich verkriechen kann, aber ich finde keine. Ausland? Inland? Deutschsprachig möchte es schon sein, aber dann bin ich im Bereich unserer Medien, und vor denen fürchte ich mich am meisten. Und überhaupt – was dort tun? Und Alleinsein vertrage ich überhaupt nicht, habe ich noch nie vertragen, da werde ich verrückt.   
Ich suche, finde nicht, gebe auf und suche von neuem.  

14.6.96     
Es gibt einen Forschungsauftrag „Zusammenwirken der Stasi mit den Medien“, verkündete kürzlich unser Lokalblatt „Sächsische Zeitung“, und sie verband das mit der Mitteilung, dass man ein halbes Dutzend Redakteure entlassen hätte wegen Stasikontakte und dass andere noch in der Tiefenprüfung wären. Wenn die Leute, die da forschen, ihren Auftrag ernst nehmen, kann ich praktisch gar nicht ungeschoren davonkommen. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass dann nicht Betroffene oder blutlüsterne Medien mein Leben genüsslich zerstören, sondern geschlechtslose und emotionsfreie Wissenschaftstypen.
Nur meine drei abendlichen Bier gestatten mir im Augenblick, halbwegs gelassen darüber zu schreiben. Am Tage würgt mich wieder die Angst. Und immer wieder dieselbe Frage - was tun, was dann tun? Ausland, Inland, unser kleines Dorf, in den Abgrund springen, die große IM-Reportage machen mit dem Titel „Gaucks Rache“ – was wirklich wird, weiß ich nicht, ich bin unfähig zu planen, ich werde spontan entscheiden, und mit Sicherheit unklug oder gar falsch.  

Es ist Mitternacht, P., mein Bruder, hat Geburtstag, ich hab ihm telefonisch gratuliert, erhat sich gefreut, im Großen und Ganzen aber ist unser Verhältnis kühl bis gespannt, die charakterlichen und politischen Unvereinbarkeiten werden ein Leben lang andauern.  

Das wird mich ärgern, das ärgert mich jetzt schon: er war in der DDR einer von den „Hundertprozentigen“, ohne jeden Skrupel, konsequent bis zur Brutalität, hat er das Unrechtsystem gestützt, als Kampfgruppenkommandeur selbst dann noch, als das Ende bereits abzusehen war. Aber wenn ich geoutet werde, wird er mir moralisch überlegen sein, weil er seinen Verrat am Humanismus offen betrieb, ich aber scheinbar dieselbe Schande auf mich lud im Verborgenen, als Spitzel, als das Allerletzte.  

Mit ihm politisch nicht nur gleichgesetzt, sondern vermutlich als noch verächtlicher betrachtet zu werden, das würde mich ankotzen. Vermutlich werde ich nach dem Outing nie wieder Kontakt zu ihm aufnehmen.  
Noch kurz zum Klassentreffen – es sind, mit einer Ausnahme, alle gekommen, in der Regel mit ihren Partnern, so dass sich am Ende 49 Leute versammelt hatten. Es wurde ein gewaltiges, ein schönes Fest, allen hat es gefallen, und am Ende der drei Tage sangen sie gemeinsam „Maker (das bin ich), wir danken Dir!“. Ich war in einem Zustand ruhiger Zufriedenheit, kümmerte mich um alle und alles und genoß das fröhliche Treiben . Es könnte ein, vielleicht der letzte Höhepunkt in meinem Leben gewesen sein. Denn wenn erst der Tag X  kommt, werde ich ausgeschlossen sein aus dem Kreis.  
 
2.7.96    
Ich sollte sagen: „Wer meine Akte bis zum Ende liest, wird sich bei mir entschuldigen müssen,“ und ich sollte auf Wanderschaft gehen, sofort, ohne Rücksicht auf familiäre, berufliche oder finanzielle Folgen. Und um der Sinnlosigkeit des Herumlaufens zu entgehen, sollte ich die IMs aufsuchen, sollte mit ihnen reden und das dann aufschreiben. Und daraus ein Buch zu machen versuchen. DAS SOLLTE ICH TUN, SOFORT AM TAG „X“.  
Das könnte lebensrettend sein.  
 
13.1.97    
Es bohrt, und es bohrt immer mehr. Die nichtigsten Anlässe genügen, manchmal sind es Begebenheiten, die mit dem Stasi-Thema gar nichts zu tun haben. Ich habe Ärger im Betrieb, weil ich eine Entscheidung des Intendanten, mein Magazin betreffend, auf dem Sender dezent kritisierte. Ich wurde dafür zurechtgewiesen, das wärs dann eigentlich gewesen, aber danach grübelte ich: Wird man  mich nun als unliebsame Person betrachten und über eine Stasi-Durchleuchtung loszuwerden versuchen? Ein Beweis, wie mürbe ich innerlich bin. Diese, wie ich inzwischen weiß, völlig unbegründete Befürchtung hat mir das ganze Weihnachtsfest und einen 5-Tage-Urlaub über Silvester in Paris versaut.  

Aber am meisten fürchte ich nach wie vor die Medien. Den „Spiegel“ erwarte ich jeden Montag mit ahnungsvoller Unruhe, heute beispielsweise bin ich extra in eine Tankstelle gegangen, um das Inhaltsverzeichnis zu durchstöbern (und tatsächlich gab es eine Rubrik „Stasi“, zwei Leute wurden genüßlich seziert, einseitig, niederknüppelnd, nichts relativierend).  

In dieser Beziehung ist der Spiegel nichts anderes, wirklich überhaupt nichts anderes als die Bild-Zeitung. Blutrünstig, sensationsgeil, unempfindlich gegen alle Folgen, das Feigenblatt der „Aufklärung im Dienste der Gerechtigkeit“ vor sich her tragend, dabei geht es nur um Leser, um Quote, in letzter Konsequenz um Geld.   
Neulich hatte ich eine bemerkenswerte Begegnung.  

Ein Regisseur der Sportredaktion des DDR-Fernsehens war offenbar ein bevorzugtes Studienobjekt des MfS. Ich weiß, dass die Stasi mich mehrfach gebeten hatte, den Mann  aufzusuchen. Ich habe das unter Ausflüchten immer wieder abgelehnt, bin aber nicht sicher, ob ich nicht eine Charakterisierung des Regisseurs abgegeben habe (zu der ich vermutlich heute noch stehen könnte, nur dass sie die Stasi bekam, ist der Pferdefuß).  

Der Mann tat erfreut, mich zu sehen, ich, nach anfänglichem Schreck, tat nicht nur so, sondern freute mich ebenfalls wirklich, als ich merkte, er schien ohne jede böse Absicht zu sein.  
Wir unterhielten uns über Kollegen, über die Situation des Fernsehens, über Rentenhöhe, und schließlich erzählte er, dass er seine „Akte“ habe, und dass darin eine Menge von Leuten vorkäme, dass er aber nicht darüber reden wolle, nur dass der damals bei uns allen beliebte Kollege T. die schlimmsten Sachen geschrieben hätte, das wäre schon eine rechte Enttäuschung gewesen (T. ist übrigens bereits vor einiger Zeit gestorben).  

Ob mein Gesprächspartner mich zu der „Menge von Leuten“ zählte, über die er nicht reden wolle, war nicht zu erkennen, wir verabschiedeten uns jedenfalls ausgemacht freundschaftlich (er mir immer recht sympathisch, wir haben früher auch häufig gemeinsam Sendungen produziert).  
 
25.5.97    
Seit Wochen weiß ich, dass ich Blut im Stuhl habe, übermorgen findet die Dickdarmspiegelung statt. Und – welch Zufall – fast exakt zum selben Zeitpunkt ist die Enttarnungsmaschinerie so dicht an mich herangerückt, dass es fast an ein Wunder grenzte, wenn ich wieder davon käme. Das Nachrichtenmagazin „Focus“ veröffentlicht morgen, einen Tag vor meiner Darmspiegelung, einen Beitrag über das „Rote MDR-Landesfunkhaus Sachsen“, über SED- und Stasi-Verstrickung usw.  

Heute, Sonntag, den 25.Mai 1997, bin ich noch ein populärer, allseits geschätzter, gutverdienender Mann, dem zudem eine für sein Alter ungewöhnliche Vitalität nachgesagt wird.  
Morgen, übermorgen könnte ich ein krebskranker, von allen verachteter, entlarvter IM sein. Die Fallhöhe ist enorm. Ist das der Preis für das Wohlleben der letzten Jahre? Wir werden sehen.  
 
Ein Tag später (26.5.)     
Der erste Kelch ist wieder einmal an mir vorübergegangen. Es war, im Focus, ein primitiver Beitrag, der nur einen namentlich nannte, der ohnehin längst bekannt war.  
 
Noch ein Tag später (27.5.)    
Im Darm ist alles in Ordnung.  Ich möchte mich bedanken. Aber bei wem? 

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