Sie sind hier : Startseite →  Film-Historie 1→  Will Tremper - mein Leben→  Tremper - Meine wilden Jahre - 22

Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

.

Der 23. Juni 1948 - Vandale der »protestierenden Werktätigen«

Am 23. Juni 1948 hatte Dr. Otto Suhr, der Stadtverordnetenvorsteher, eine außerordentliche Parlamentssitzung einberufen, die zum erstenmal von Schlägertrupps der SED-Kader, die als »protestierende Werktätige« auftraten, mit Gewalt verhindert werden sollte.

Schon in der Eingangshalle des Stadthauses wurden die gewählten Volksvertreter von Hunderten dieser merkwürdigen »Besucher« bedrängt und als »Spalter« beschimpft. Ich stand mit meiner Leica "im" Ärmel dicht hinter dem SED-Stadtrat Waldemar Schmidt, als er von einem kräftigen »Besucher« am Kragen gepackt wurde, und hörte ihn zischen: »Bist du verrückt! Ich komme aus dem Jonas-Haus, Mensch!«

Sofort ließ der »Besucher« den Genossen los. So erfuhr ich, daß unser altes Jonas-Haus, in dem ich zuletzt allein im Keller der Reichsbildstelle gehaust hatte, jetzt dem Zentralkomitee der SED als Unterkunft diente. Ich kam mir mit meinen 19 Jahren ziemlich alt vor.

Kajo Reutlinger, der Polizeireporter, saß gegenüber am Fenster

Mein Freund und Kollege Kajo Reutlinger, der Polizeireporter des britisch lizenzierten »Telegraf«, saß zur selben Minute auf der gegenüberliegenden Seite der Parochialstraße am Fenster eines FDJ-Büros, das dem gewissen Erich Honecker gehörte, und schilderte seiner Redaktion »live« die Vorgänge vor dem Neuen Stadthaus.

Der Bursche war von einer unglaublichen Frechheit, was noch verstärkt wurde durch die Tatsache, daß er sich als »Opfer des Faschismus« fühlen dufte, im Gegensatz zu mir. Im Krieg war er wegen mangelnder »Rassereinheit« von einem zum anderen Tag als Unteroffizier der Luftwaffe entlassen worden, als er gerade Offiziersanwärter werden sollte - genau wie Egon Bahr übrigens.

Weil dem damals Dreiundzwanzigjährigen die Zivilklamotten nicht mehr paßten, machte er sich einen Spaß daraus, weiter in der Unteroffiziersuniform herumzulaufen, grüßte aber auf der Straße die Offiziere nicht mehr.

Wurde er deswegen zur Rede gestellt, erklärte er, dem »Verein« nicht länger anzugehören, aber keine passende Kleidung zu besitzen. Den roten Kopf holten sich dabei die Herren Offiziere, und Kajo bekam notgedrungen eine Kleiderkarte.
.

Zum ersten male fällt der Name Erich Honecker

Auch Erich Honecker dürfte sich verarscht gefühlt haben, als der »Telegraf-Reporter mit der Frage hereinstürzte, ob er mal telefonieren könnte, und dann auf dem Fensterbrett mit seiner antikommunistischen Berichterstattung begann.

Doch Honecker konnte schlecht dagegen einschreiten, da die FDJ sich offiziell ja als eine überparteiliche Jugendorganisation gebärdete; die Kommunisten tarnten sich noch, wo sie konnten.

Kajo erzählte übrigens, an einem zweiten Schreibtisch hätte Heinz Kessler gesessen, der ehemalige Gefreite der Wehrmacht, aus dem später ein Generaloberst und Verteidigungsminister der DDR wurde.

»Jetzt«, sagt Kajo, »sitzen sie wieder zusammen, wa? Aber in 'ner Zelle in Moabit!« Ich liebe meinen Kajo, der inzwischen die siebzig überschritten hat und krekel wie eh und je ist.
.

Es wurde eng mit den Lebensmitteln

Amerikaner und Briten hatten am 26. Juni 1948 damit begonnen, Nachschub für ihre Berliner Garnisonen einzufliegen, die nur Vorräte für eine Woche besaßen, während für die Bevölkerung der Westsektoren immerhin Vorräte für dreißig oder vierzig Tage lagerten.

Um die Bewohner ihrer Sektoren zu beruhigen, hatten die westlichen Kommandanten für den 1. Juli sogar eine Erhöhung der Lebensmittel-Zuteilungen angeordnet, was ihnen bald leid tat.

Doch die Unsicherheit in der Stadt beschäftigte die meisten Berliner noch mehr als die Gefahr einer Hungersnot: Daß wir alle verhungern könnten, erschien uns absurd -bevor es dazu käme, konnten wir uns ja immer noch zum Kommunismus bekennen.

Aber die Gefahr, beim Überqueren der Straße einfach verhaftet und nach Sibirien verfrachtet zu werden, war real. Es war schon schwierig, unbelästigt durch die Innenstadt zu kommen.
.

Der Ritterkreuzträger Markgraf regierte die Ost-Polizei

Markgrafs Polizei führte Kontrollen an den Sektorengrenzen ein, angeblich um das Einsickern der neuen westlichen Währung zu verhindern, die von den Russen für ihren Herrschaftsbereich streng verboten wurde, aber natürlich gleich hochbegehrt war.

Und zwar nicht nur, weil jeder dem »amerikanischen« Geld mehr zutraute - es sah auch neu aus und fühlte sich gut an, während es den Sowjets in der Eile gar nicht
möglich gewesen war, genügend neues Geld zu drucken.

Die neue Ostmark war die alte Reichsmark, beklebt mit einem sofort schmutzig werdenden Zettelchen und darum »Klebemark« genannt. Ich habe russische Offiziere gesehen, die höchst eigenhändig deutsche Arbeiter auf dem S-Bahnhof Potsdamer Platz filzten und neue Westmarkscheine nicht nur beschlagnahmten, sondern vor aller Augen zerrissen - und russische Soldaten, die sie einfach einsteckten.

Täglich fanden Verhaftungen statt, Menschen verschwanden zu Hunderten auf Nimmerwiedersehen. Das war kein kalter, das war für die Betroffenen ein heißer Krieg.

Und der arme Magistrat von Groß-Berlin saß immer noch in der Parochialstraße, war jeder russischen Willkür schutzlos ausgeliefert und verfügte nicht mal über eine Polizei, die er nach seinen verhafteten Bürgern fragen konnte.

Rückblickend erscheint mir die Entschlossenheit unserer Lokalpolitiker, einfach durchzuhalten, wie ein Wunder.
.

Dr. jur. Ferdinand Friedensburg

Aber das Wunder hatte einen Namen, es hieß Dr. jur. Ferdinand Friedensburg. Bevor mir der Name des zweiten Bürgermeisters von der CDU zum Begriff wurde, war er mir durch Anschuldigungen bekannt geworden, wie sie widersprüchlicher nicht sein konnten:

Fritz Prengel, der Chefredakteur der »sie«, hatte zu Karl-Heinz Hagen gesagt: »Möchte wissen, was der Friedensburg im Sinne hat. Der treibt doch ein ganz gewagtes Spielchen da im Stadthaus! Glaubt der wirklich, mit den Russen gegen die Amerikaner kungeln zu können?«

Das war, als Friedensburg in einem Brief an den Alliierten Kontrollrat dringend vor zwei verschiedenen Währungen in der Stadt gewarnt hatte und Marschall Sokolowskij sich ausdrücklich auf diesen CDU-Bürgermeister berief, als er gegen die westliche Währungsreform Front machte.

Das zweite Friedensburg-Erlebnis hatte ich im Vorzimmer des Verkehrsstadtrats Ernst Reuter, der für uns der gewählte, von den Kommandanten aber nicht anerkannte Oberbürgermeister war.

Da hörte ich durch die geschlossene Tür den amerikanischen Verbindungsoffizier, Lt Col. Karl Mautner, auf deutsch mit österreichischem Akzent brüllen: »Der Friedensburg kocht doch sein eigenes Supperl! Was will er denn? Will er uns in einen neuen Krieg hetzen?«

Und das klang gar nicht nach Kungelei mit den Russen.
.

Ernst Reuter sprach ein Machtwort

Reuter erhob denn auch seine Stimme und wies den Neu-Ami grob zurecht, worauf der Mautner kreischte: »Ein CDU-Mann als Einpeitscher der SPD-Fraktion!«

Tatsächlich oblag es immer mehr dem gelernten Verwaltungsfachmann und früheren ostpreußischen Landrat von der CDU, der doppelt so großen SPD-Fraktion »Korsettstangen einzuziehen«, wie sein Parteifreund Ernst Lemmer sich ausdrückte.

Weil Ernst Reuter nicht Oberbürgermeister sein durfte - und wahrscheinlich beim geringsten Versuch, eine der OB-Funktionen auszuüben, von den Russen verhaftet worden wäre, darauf warteten die nur -, und weil Reuters Platzhalterin Louise Schroeder schon nicht mehr die jüngste war, überdies auch kränkelte, lief alles Unangenehme auf Friedensburgs Schreibtisch zjusammen.

Und das war in diesen kritischsten Tagen Berlins eigentlich alles! Es war ein Glück für Berlin.

Ein einsamer Held

Dieser Friedensburg sah ein bißchen aus wie der große französische Komiker Bourvil, hatte auch eine etwas schiefe Nase und gehörte einer CDU an, die im Stadtverordnetenhaus nicht sehr viel stärker vertreten war als die SED - ein Drittel nur der SPD.

Aber im ganzen 130köpfigen Parlament und im ganzen Magistrat gab es keinen, der so kalt und präzise die komplizierten Zusammenhänge der Besatzungspolitik nach allgemein-juristischen und verwaltungsrechtlichen Gesichtspunkten auseinandernehmen konnte wie F.F.

An seinem brillanten, immer die Form wahrenden Beamtenstil scheiterten alle Versuche der Sowjets, den ungeliebten Magistrat legal auszuhebeln.

Eine Woche nach der verunglückten Stadtverordnetenversammlung vom 23. Juni riskierte dieser Friedensburg Kopf und Kragen, als er in einer schlaflosen Nacht sich hinsetzte und einen Appell an die Vereinten Nationen zu Papier brachte, in dem zum erstenmal seit dem Nürnberger Prozeß wieder von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« die Rede war - im Zusammenhang mit der sowjetischen Hungerblockade Berlins.
.

Die Wogen der Entrüstung schlugen »durch das Dach«

Im Alliierten Kontrollrat, dem höchsten Verwaltungsorgan Deutschlands, schlugen die Wogen der Entrüstung »durch das Dach«, wie Maggie Higgins in der »NY Herald Tribüne« schrieb, denn der Rat war übergangen worden.

Die vier auf einmal wieder Alliierten setzten das französische Außenministerium unter Druck, dem Friedensburg den Appell mit der Bitte um Weiterleitung, über die militärischen Köpfe hinweg, direkt hatte zukommen lassen - und die Franzosen reichten das Dokument mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.

Die Mitunterzeichner Louise Schroeder und Otto Suhr beschuldigten Friedensburg bereits, sie »und ganz Berlin« vor der Welt lächerlich gemacht zu haben, aber der Zweite Bürgermeister verließ sich voll auf die Meinung dieser Weltöffentlichkeit und gab seinen Appell nun an die dänische Regierung weiter.

Natürlich kam auch dabei nichts heraus, die Dänen waren noch leichter unter Druck zu setzen.
.

Das neue Bannmeilengesetz mit 104 gegen 26 SED-Stimmen

Gleichzeitig hatte Friedensburg ein Bannmeilengesetz vor das Stadtparlament gebracht, das jede künftige Demonstration um das Neue Stadthaus verbot; auch dies wurde von der Stadtverordnetenversammlung mit 104 gegen 26 SED-Stimmen bestätigt - aber nicht vom sowjetischen Kommandanten Kotikow.

Als der berüchtigte Polizeipräsident Markgraf seine Schergen angewiesen hatte, den SED-Störtrupps freie Hand zu lassen, war es bereits zu Auseinandersetzungen innerhalb der Polizeiführung gekommen. Und als Markgraf nun das Bannmeilengesetz, noch bevor es der Alliierten Kommandantur zur Genehmigung vorlag, im Namen des sowjetischen Stadtkommandanten sogleich für »ungültig« erklärte, kam es zu Befehlsverweigerungen innerhalb der Polizei, und Markgraf sah sich gezwungen, über 600 höhere Polizeibeamte fristlos zu entlassen.

Daraufhin suspendierte ihn Friedensburg »auf Grund meiner Befugnisse nach Artikel 11 Ziffer 4 der Vorläufigen Verfassung von Groß-Berlin«.

Entlassen worden war dieser Polizeipräsident mit dem Ritterkreuz bereits am 3. März 1948, aber die Zustimmung der Alliierten Kommandantur war von den Russen wieder einmal blockiert worden.
.

Der sowjetische Stadtkommandant Kotikow explodierte

Nach der Suspendierung explodierte der sowjetische Stadtkommandant geradezu und erließ noch am selben Tag den »Befehl«, sie wieder rückgängig zu machen.

Gleichzeitig verlangte er die sofortige »Verhaftung« des Leiters der Markgrafschen Präsidialkanzlei, Dr. Johannes Stumm, den Friedensburg »für die Dauer der Suspendierung« als kommissarischen Polizeipräsidenten eingesetzt hatte.

Das Ganze war ein Spiel mit dem immer noch gültigen, den Russen aber unverständlichen preußischen Beamtengesetz, das es Friedensburg erlaubte, den General Kotikow über den Unterschied zwischen einer »Entlassung« und einer »Suspendierung« aufzuklären.

Letzteres sei eine »interne« Angelegenheit, die nicht der Zustimmung durch die Kommandantura bedürfe - »genehmigen Sie, Herr General, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung«, blablabla. Kotikow schäumte.

Mein Schlüsselerlebnis mit Ferdinand Friedensburg

Mein Schlüsselerlebnis mit Ferdinand Friedensburg hatte ich an jenem 23. Juni gehabt, als der Mob ins Stadthaus eindrang und Abgeordnete verprügelte. Ich war hinter Otto Suhr her ins Vorzimmer Friedensburgs gerannt.

Von draußen drang wildes »Spalter! Spalter!«-Gebrüll herein und unterstrich nur Friedensburgs scharfe Stimme aus seinem Büro: »Wenn Sie immer noch nicht sehen wollen, daß es sich um gezielte Störmanöver handelt, tun Sie mir leid!«

Verbindungsoffizier Mautner kam mit rotem Kopf herausgeschossen und verschwand auf den Gängen Otto Suhr wollte die Außerordentliche Sitzung absagen, doch Friedensburg fuhr ihm über den Mund: »Ach was! Neumann macht das schon! Sie eröffnen die Sitzung, koste es, was es wolle! Sonst haben die doch erreicht, was sie beabsichtigen!«

Beide Herren kämpften sich durch das Vorzimmer, in dem sich immer mehr Menschen versammelten, und trafen in der Tür zum Gang mit Franz Neumann zusammen, dem bulligen Vorsitzenden der Berliner SPD.

»Ich habe jetzt zwanzig beieinander!« rief Neumann, und Friedensburg trat auf den Gang hinaus, wo sich 20 treue Saalordner versammelt hatten. Zu meinem Erstaunen hörte ich ihn militärisch klingende Kommandos geben: »Also, in Sechs-Mann-Gruppen vorstoßen! Immer eng zusammen - und dann hinein wie ein Rammbock! Und Rücken an Rücken nach beiden Seiten hin aufrollen!«

Dann Neumanns Stimme: »Ihr habt gehört, was der Doktor gesagt hat. - Los!« Den Saalordnern ist es damals tatsächlich gelungen, die fünfmal so starken SED-Kader mit der Friedensburg-Methode zu vertreiben, die Stadtverordnetensitzung konnte mit zwei Stunden Verspätung beginnen.
.

Friedensburg war die zentrale Figur im Magistrat

Am meisten freilich hat mir imponiert, wie Friedensburg mit den alliierten Verbindungsoffizieren umsprang. Mitten im heftigsten Gewühl sah ich ihn dem Liaison-Chief Lake einen Stoß in den Rücken geben und ihn anherrschen: »Halten Sie mir Otschkin vom Leib!« Major Otschkin war einer der russischen Verbindungsoffiziere im Stadthaus, dem dann von Lake und Mautner so zugesetzt wurde, daß er schließlich selbst »Ruhä! Ruhä!« brüllte.

Friedensburg war die zentrale Figur im Magistrat, ein Diplomat und ein Kämpfer, ein erfahrener Berufsbeamter und ein Deutschnationaler im besten Sinne. Ich war ihm mindestens dreimal vorgestellt worden, bevor er mich überhaupt wahrnahm, aber als er endlich begriffen hatte, was ein »Stringer« im amerikanischen Pressesprachgebrauch ist - ein offizieller Zuträger nämlich -, benutzte er mich sofort und hemmungslos.

Den Brief mit der Suspendierung Markgrafs, zum Beispiel, trug ich schon zu Curt Riess, bevor ihn General Kotikow zu sehen bekam. Er enthielt einen letzten Satz, den die stets besorgte Louise Schroeder gestrichen haben wollte (»Was nutzt es denn, wenn ich auch noch verhaftet werde?«).

Friedensburg hatte ihr in seinem Vorzimmer den Arm um den krummen Rücken gelegt und versprochen: »Also, gut. Lassen wir den weg!« Und dann stand er doch am Ende des Briefes und lautete: »Meine Entscheidung ergeht im ausdrücklichen Einvernehmen mit dem amtierenden Oberbürgermeister, Frau Bürgermeister Schroeder.« Jede Liebe hat ihre Grenzen.
.

Undank ist der Parteien Lohn

Ich hatte nie viel übrig für Politiker, aber Friedensburg nötigte mir Hochachtung ab. Auch Dr. Otto Suhr, Franz Neumann, der Wirtschaftsstadtrat Gustav Klingelhöfer, Otto Theuner und ganz besonders Ernst Reuter schlugen sich wacker mit den Sowjets und ihrer SED herum, doch Ferdinand Friedensburg überragte sie alle, was Entschlossenheit und persönlichen Mut betraf.

Im Spätsommer 1948 zählte das doppelt: Es war das Jahr, in dem in Prag ein Außenminister aus dem Fenster stürzte und damit den Weg für eine rein kommunistische Regierung ebnete.

Aber eigentlich erzähle ich von Friedensburg nur, weil Undank der Parteien Lohn ist. Alle Berliner Politiker haben sich nach den Krisenjahren ganz groß feiern lassen, Straßen, Plätze und U-Bahnhöfe wurden nach ihnen benannt, sogar einen Walther-Schreiber-Platz hat die Berliner CDU sich nach ihrem farblosen ersten Vorsitzenden geleistet, aber Namen wie Ferdinand Friedensburg oder Franz Neumann suche ich auf dem Berliner Stadtplan vergebens. Der Ostpreuße Ferdinand Friedensburg ist im Tod geblieben, was er auch im Leben war: ein einsamer Held.
.

Jack, der Erste

Mein Freund Jack Ölen Bennett ist ein neugieriger Mensch. Sein Interesse an der Welt und ihren Lebewesen hat ihn schon in die verhängnisvollsten Situationen gebracht.

Er dürfte der erste Amerikaner gewesen sein, dem Hermann Göring ins Gesicht sagte, er sei ein Spion. Er war der erste Amerikaner, der eine Messerschmitt 109 fliegen konnte, damals das schnellste Jagdflugzeug der Welt (der zweite war Charles Lindbergh auf Deutschlandbesuch 1938).

Der damals 24 Jahre alte Maschinenbaustudent aus Ebensburg in Pennsylvania hatte als einer der Jahrgangsbesten des Massachusetts Institute of Technology 1937 ein Rockefellerstipendium an die Technische Hochschule in Berlin erhalten, die - neben Tokio - als einzige Universität der Welt bereits in einer Disziplin für Aerodynamik unterrichtete.

Jack O. Bennett war der geborene »Erstling« - der erste, der im Krieg ein Flugboot über den Atlantik nach Irland steuerte, und der erste natürlich auch, der am 2. Mai 1945 mit einer DC 4 voll amerikanischen Stabsoffizieren wieder auf dem Tempelhofer Feld landete - unter russischem Beschuß!

»Die Russkis hatten die Alkoholvorräte im Flughafengebäude entdeckt«, sagte Jack dazu nur. Und natürlich war er auch der erste Pilot, der am 23. Juni 1948 die Luftbrücke nach Berlin eröffnete, drei Tage vor dem offiziellen Termin, der die Geschichtsbücher ziert.

Jack Ölen Bennett sinniert über die Luftbrücke

Ich zitiere meinen Freund Jack an dieser Stelle, weil seine Meinung über die Luftbrücke sich doch ziemlich von der offiziellen Lesart unterscheidet. »Das Ganze war ein Fehler«, sagte er, »der den amerikanischen Steuerzahler dreihundertfünfzig Millionen gute amerikanische Dollar gekostet hat, den britischen gute siebzehn Millionen Pfund und den deutschen fünfhundertfünfzig Millionen gute neue Mark - von den achtundsiebzig Toten, die das Wahnsinnsunternehmen forderte, ganz zu schweigen!

Eine Millionenbevölkerung aus der Luft zu versorgen, das konnte nur einem Strategen wie General Clay einfallen, der schon den ganzen Nachschub für unsere Invasion des europäischen Festlandes organisiert hatte - und in den entscheidenden Stunden mit dem zufällig durch Europa reisenden ehrgeizigen Stabschef der Air Force zusammentraf.

Die U.S. Air Force ist von der Aufgabe völlig überrascht worden, hatte in ganz Europa nur ein paar Hundert DC-3-Maschinen zur Verfügung, zweimotorige, die höchstens fünf Tonnen transportieren konnten. Darum bin ich mit meinen viermotorigen DC-4 auch von der Air Force ersucht worden, die Sitze herauszureißen und Kohlen und Kartoffeln nach Berlin zu fliegen!« Die DC-4 konnten zehn Tonnen transportieren.
.

Die deutschen Mädels hatten es ihm angetan

Capt. Bennett war in seiner Lieblingsstadt Berlin gleich 1945 hängengeblieben, die Mädchen hatten es ihm angetan - auch in dieser Beziehung wieder mal der erste Amerikaner, den die Verlierer schwach machten.

Im Juni 1948 war er Europa-Direktor der AOA - »American Overseas Airways«, die später mit der Pan American fusionierten - und transportierte ausschließlich Passagiere.

»Die Air Force hat uns alle dienstverpflichtet, und ich bin vierhundert Tage lang den verrückten Airlift geflogen, über tausendmal gestartet und gelandet. Es war blanker Mord ...

Stundenlanges Fliegen nach Instrumenten verlangt Jahre des Trainings

Die aus der ganzen Welt zusammengeholten Piloten wurden in einen immer enger werdenden Zeittakt gepreßt, landeten zuletzt im Anderhalb-Minuten-Rhythmus. Was das heißt, kann sich heute überhaupt kein Pilot mehr vorstellen.

Ich hielt es für kriminell, die im Blindflug meistens unerfahrenen Piloten in einer solchen Rund-um-die-Uhr-Aktion einzusetzen - stundenlanges Fliegen nach Instrumenten verlangt Jahre des Trainings, schon um das Gefühl der Platzangst loszuwerden, das dich beschleicht, wenn du gezwungen bist, auch bei Sonnenschein mit verhängten Fenstern zu fliegen, vollkommen dieser Stimme im Ohr ausgeliefert zu sein, die dir bei der Landung in Tempelhof zuflüstert: Too much, man, too much, a little bit to the left - too much! More to the right, for Christ's sake! - Und du weißt, daß du nur um Handbreiten über Häuserdächer schrammst!

Und ich kannte Tempelhof! Aber wie war den Jungs aus Hawaii oder Alaska zumute? Tempelhof war nicht nur seiner Lage wegen - mitten im Häusermeer - für einen solchen Massenverkehr wie die Luftbrücke denkbar ungeeignet. Gestartet wurde vom Gras, gelandet auf einer einzigen provisorischen Stahllandebahn, zu der später noch zwei richtige, aus Asphalt und Zement, hinzu kamen.

Ich habe damals dem Chef der ganzen Operation, dem unbeliebten General William H Tunner, den die Piloten schon >the Killer< nannten, prophezeit, daß er ein Flugzeug-Massengrab zwischen Westdeutschland und Berlin anlegen würde.
.

Hier beschreibt er, wie es funktioniert hatte

Ich wundere mich noch heute darüber, daß ich mich getäuscht habe. Die Burschen vor den Radargeräten haben Unmenschliches geleistet, um uns sicher durch die nur dreißig Kilometer breiten Korridore zu leiten. Die Radarüberwachung war so präzise, wie ich sie nie wieder erlebt habe. Wenn wir nur geringfügig schneller oder langsamer flogen, wurden wir sofort aufgefordert, unsere Geschwindigkeit anzugleichen...«

In seinem Erinnerungsbuch »40.000 Stunden am Himmel«, das besser »Fliegen für Berlin« geheißen hätte - aber ein Buch mit dem Wort »Berlin« im Titel hielt das Sortiment in den siebziger Jahren angeblich für unverkäuflich -, hat Jack Bennett die ganze Luftbrückenschlacht ausführlich beschrieben, so die der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt gebliebene Koordinierungsproblematik:

»Es schien anfangs unmöglich«, schrieb er, »die langsame DC-3 und die gut fünfzig Prozent schnellere DC-4 in ein gemeinsames Flugplan-Korsett zu zwingen.

Schließlich kam man auf die Idee, nach Stundenplänen zu fliegen: Die Korridore standen jeweils eine Stunde den DC-3 und dann 45 Minuten den DC-4 offen...

Von Wiesbaden oder Frankfurt aus wurden siebzig Maschinen en bloc ausgesandt: Ein Block belegte die Zeit von sechs bis zwölf Uhr, der nächste von zwölf bis achtzehn Uhr, der nächste bis vierundzwanzig Uhr, dann wieder bis sechs Uhr früh, und so weiter. Von Frankfurt oder Wiesbaden aus ging es zunächst in tausend Meter Höhe Richtung Darmstadt.

Dann folgte eine Linkskurve nach Aschaffenburg mit gleichzeitigem Anstieg auf siebzehnhundert bis zweitausenddreihundert Meter. Über Aschaffenburg noch einmal eine 33-Grad-Drehung Richtung Fulda, das etwa siebzig Kilometer entfernt liegt...

Wie eine unendliche Perlenkette hingen die Flugzeuge am Himmel, Tag und Nacht, bei Sonne und Schnee, Nebel und Regen...«
.

8.500 Tonnen jeden Tag nach Berlin

Natürlich war Jack beeindruckt von dem Ganzen, von den 1.500 Tonnen, die vier Wochen nach Beginn der Luftbrücke täglich in Berlin eintrafen. Aber die mehr als zwei Millionen Menschen brauchten eine ohnehin schon knappe Tagesration von 4.500 Tonnen, zu denen noch verschwenderische 500 Tonnen für die 30.000 Mann starken Garnisonen der Alliierten kamen.

Mitte August waren's schon 4.000, und am Ende brachten Amerikaner und Briten nicht weniger als 8.500 Tonnen jeden Tag nach Berlin.

»Trotzdem«, sagte Jack, »es war Peanuts. Es blieb eine saudumme Geschichte. Weißt du, wieviel ein Moloch wie Berlin, einschließlich seiner Industrie, in normalen Zeiten täglich im Durchschnitt umsetzt? Ich habe mich erkundigt: Es sind, auf das Nötigste beschränkt, zweihunderttausend Tonnen! Du kannst dir also vorstellen, wie es wirtschaftlich, von der blanken Ernährung mal abgesehen, in Berlin aussah! Fast die Hälfte aller Industriebetriebe war schlicht geschlossen worden, aus Rohstoffmangel.

Wir mußten ja selbst das Zeitungspapier nach Tempelhof einfliegen! Einer unserer Piloten, Colonel Wuest, war dauernd damit beschäftigt, sich Verbesserungen beim Ein-und Ausladen in Tempelhof auszudenken. Er suchte nach einer Stelle irgendwo in West-Berlin, wo er im Tiefflug die Kohlensäcke für die Kraftwerke einfach abwerfen könnte, und fand den Truppenübungsplatz unserer Army im Grunewald - aber die Kohlen zerplatzten zu Staub beim Abwurf...«
.

Wieso konnten diese erfindungsreichen Deutschen jemals den Krieg verlieren

Ich unterbrach ihn: »An einem Tag, an dem Colonel Howley so deprimiert war, daß er als Stadtkommandant zurücktreten und in Pension gehen wollte, führte ihm ein Beamter des Ernährungsamtes vor, wie man weitere Tonnen einsparen könnte, indem man das eingeflogene Fleisch in Frankfurt zuerst seiner Knochen entledigte ... Er hat sich, wie er mir gestand, damals gefragt, wieso diese erfindungsreichen Deutschen jemals den Krieg verlieren konnten!«

Jack winkte ab: »Das Ganze war eine reine Gefühlsduselei, die in kurzer Zeit aus den Besatzungsmächten zwar Schutzmächte und schließlich Bundesgenossen werden ließ, aber auch einen gefährlichen Präzedenzfall gegenüber den Russen schuf... Sieh mal«, sagte der erfahrene Mann, »die Russen hätten, wenn Clay sich die Durchfahrt nach Berlin mit Panzern erzwungen hätte, niemals geschossen. Sie haben in dem ganzen Luftbrückenjahr ja auch nicht ein einziges Mal versucht, eines unserer Flugzeuge abzuschießen! Aber sie hätten uns vollkommen ausbluten und West-Berlin - immerhin ein Gebiet so groß wie München und der Starnberger See und das ganze Gebiet zwischen München und dem Starnberger See! - zur absoluten Geisterstadt machen können. Aus lauter dummer Angst vor einem dritten Weltkrieg haben unsere beschissenen Politiker sich darauf eingelassen, wie das Wirtschaftsmagazin >Fortune< damals schrieb, >das größte Armenhaus der Welt" per Rolls-Royce-Service am Leben zu erhalten.

Wenn wir unsere Stärke gezeigt hätten, da bin ich vollkommen sicher, wäre es weder zur Luftbrücke noch zum Koreakrieg oder zu Vietnam gekommen!«

Ich glaubte meinem Jack Ölen Bennett aufs Wort. Darum waren wir beide bei den »liberalen Scheißern« früh schon als »reaktionäre Kalte Krieger« verschrien.
.

Gottes Mühlen mahlen langsam

Am 25. Juli 1948 befand ich mich abends bei Mark White, dem Programmdirektor des so unglaublich populären AFN - American Forces Network für die Jüngeren - in der Podbielskiallee, um ihn wieder einmal zu interviewen. Da rief die Tempelhof Air Base an:

»Vor ein paar Minuten ist eine DC 3 am S-Bahnhof Wilmersdorf abgestürzt!« Mark schickte sofort zwei Reporter los, die mich in ihrem Jeep mitnahmen. Wir rasten die Schorlemerallee und den Südwestkorso hinunter, und als wir vor der S-Bahn-Unterführung an der Kaiserallee ankamen, sahen wir bereits den Widerschein einer Feuersbrunst ein paar hundert Meter weiter, direkt neben der S-Bahn-Böschung.

Ich fürchtete schon um eines meiner Lieblingskinos, das »Cosima«, aber die DC-3 war auf die Handjerystraße gefallen, direkt vor das Haus Nr. 2, war offenbar gleich explodiert und hatte nicht nur einen Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sondern auch die ganze Fassade des Hauses Nr. 2 in Brand gesetzt.

Und die ganze Straßenecke sah aus, als ob Schnee gefallen wäre - die Maschine hatte fünf Tonnen Mehl an Bord gehabt. Wir waren inmitten von Löschfahrzeugen der Feuerwehr am Absturzort angekommen, ließen den Jeep ein paar Meter weiter stehen.

Und während die AFN-Reporter sofort ihre deutschen Uher-Tonbandgeräte


einschalteten und in die Mikrofone sprachen, vergaß ich meine Leica und stürzte mich todesmutig in die Flammen.
.

Hier hatte ich mal gewohnt und meine Remington wiedergesehen

Denn, wie das Leben so spielt, in ebendiesem Haus in der Handjerystraße hatte ich schon einmal quasi gewohnt, ein möbliertes Zimmer gemietet, kurz bevor ich bei der lieben Frau General Reuthe ein besseres fand.

Der nette Vermieter - wieder ein alleinstehender Herr und wieder mit dem Namen Bruno, wie ich zu spät bemerkte - hatte anstandslos die Mietvorauszahlung zurückgegeben, und nun stand sein Haus, seine Wohnung im ersten Stock in Brand.

Ich zog den Kopf ein und stürmte in einem Funkenregen in den Eingang, sprang die Treppe hinauf, auf der mir halb angezogene Hausbewohner mit den Armen voller Habseligkeiten entgegenkamen, und fand die Wohnungstür schon sperrangelweit offen, dahinter den Herrn Bruno, nur mit einem schwarzen Slip bekleidet, der seine Wertsachen, Unmengen von Silber, aufgeregt in mehrere offene Koffer schmiß.

»Kann ich helfen?« schrie ich. Er starrte mich an wie ein Gespenst, wußte offenbar nicht sofort, wo er mich hintun sollte, schloß dann aber einen der Koffer und drückte ihn mir in die Hand. Ich stellte ihn erst mal vor die Wohnungstür, bemerkte mehr Hausbewohner aus den oberen Stockwerken die Treppe herabspringen und Feuerwehrleute mit einem Schlauch die Treppe heraufkommen, drehte mich um - und sah sie: meine Schreibmaschine!

Sie stand schon abmarschbereit neben den herumliegenden Koffern und sah in ihrer glänzenden, metallischen Hülle immer noch wie neu aus - meine Remington Portable!

Gute fünfviertel Jahre war es her, daß ich, im März 1947, mit Jef Heidenreich von INS übers Wochenende nach Altenburg in Sachsen gefahren war, um für amerikanische Freunde von ihm Skatkarten zu kaufen.

Wir hatten die Reichsbahn benutzt, weil Jef, der Ehrpusselige, seinen Dienstwagen für private Unternehmungen nicht beanspruchen wollte. Auf der Rückfahrt hatten wir, beim Umsteigen in Leipzig, einen Mann kennengelernt, der eine fast neue amerikanische Reiseschreibmaschine bei sich hatte und sie Jef für 100 Dollar verkaufen wollte.

Jef hatte sie für 3000 Reichsmark erworben und mir spontan geschenkt; so einer war der kleine, ich glaube nur 155 Zentimeter große Korrespondent. Der Verkäufer machte uns allerdings darauf aufmerksam, daß wir bei der Einfahrt nach Berlin im Zug kontrolliert würden und die Schreibmaschine beschlagnahmt werden könnte; das sicherste sei wohl, sie als Postpaket nach Berlin zu schicken.

Heidenreich hätte sich einer Kontrolle und Beschlagnahmung durch deutsche Polizei natürlich widersetzen können, doch er wollte auf gar keinen Fall Aufsehen erregen.

Da wir bis zum Anschlußzug nach Berlin noch reichlich Zeit hatten, besorgten wir uns Bindfäden und Kartons und gaben die hübsche Remington Portable und die Altenburger Spielkartensammlung auf dem Postamt im Leipziger Hauptbahnhof auf, ich an meine neue Adresse Handjerystraße 2 in Wilmersdorf, Jef an die Adresse seiner deutschen Sekretärin.

Seine Skatkarten kamen an, meine Remington nicht. Bis zu meiner Verhaftung Ende Juni 1947 hatte ich Bruno in der Handjerystraße immer wieder angerufen, auch gleich nach meiner Freilassung am Jahresende wieder. »Leider«, sagte er jedesmal freundlich, »kein Paket für Sie aus Leipzig!«

Und jetzt sah ich sie vor mir. Ich ergriff sie und trug sie, dem feinen Bruno einen möglichst verächtlichen Blick zuwerfend, aus der Wohnung. Der Dieb traute sich kein Wort mehr zu sagen.

Heidenreich, den ich ein paar Minuten später unter den von allen Seiten herbeigeeilten Reportern entdeckte, wollte es nicht glauben. Er schrieb im Anschluß an seine Dienstmeldungen ein Feature über die Geschichte, dessen Anfang ich bis heute nicht vergessen habe:

»Gottes Mühlen mahlen langsam. Aber daß gleich zwei junge amerikanische Piloten sterben mußten, damit ein junger deutscher Journalist seine amerikanische Remington Portable wiederbekommen konnte, nenne ich ein verdammt hartes Stück Gerechtigkeit...«

»Wenn wir aus dem Stadthaus gehen...«

Im November 1948 war's dann endgültig aus mit der Einheit Berlins. Nach einer ganzen Serie von Gewalttätigkeiten gegen den gewählten Magistrat, die durch Franz Neumanns Ordner und Friedensburgs Rammbock-Taktik immer wieder gebrochen werden konnte, hatten die Sowjets die Schraube mit einem kräftigen Ruck noch einmal angezogen und wahllos Beamte und Angestellte verhaften lassen.

Von »rechtlicher Handhabe« keine Spur. »Das hätten sich ja nicht einmal die Nazis getraut!« hörte ich, zu meiner Überraschung, die kleine Maggie Higgins einen Sowjetoffizier ankeifen.

Ich sah einen Mann, der mir durch Spudich bekannt geworden war, am 26. August mit einem abgerissenen Stuhlbein brutal von hinten auf einen Stadtverordneten einschlagen und gleich darauf weinend in einer dunklen Ecke des Sitzungssaales kauern.

Er heiß Wieczorek - ein polnischer Name, der mir in Erinnerung geblieben ist, weil die Tante von der SPD aus dem Südhessen-Bezirk genauso heißt - und war mit einer Gruppe von Betriebsräten aus dem Kabelwerk Oberspree schon morgens um neun auf sowjetischen Militärlastwagen amerikanischer Bauart zum Stadthaus gebracht worden.

»Ich kann nicht mehr!« schluchzte Wieczorek in sich hinein. »Das geht jetzt schon den dritten Tag so ...« Er schämte sich ganz offensichtlich, war ein schmächtiger Kerl so um die fünfzig und hatte den ganzen Krieg bei einem Ersatzhaufen in Wünstorf unbeschadet überstanden.

Ich weiß das, weil ich ihn mit in eine Kneipe in der Stralauer Straße nahm, übrigens mit Jim O'Donnell zusammen, und mir erzählen ließ, wieviel neue Ostmark sie für ihre Einsätze gegen die gewählte Volksvertretung bekamen (es war nicht viel, so um zwanzig Mark herum).
.

Die Russen, das sind doch Tiere!

»Die Russen«, sagte Wieczorek, »das sind doch Tiere! Das sind doch keine Menschen! Vor meinen Augen hat der« - er nannte einen russischen Namen - »einem Kollegen von uns vor versammelter Mannschaft ins Gesicht geschossen!«

Der Kollege hatte mit dem Russenoffizier debattieren wollen, von wegen »Das fällt doch auf!« und »Können wir das nicht ein bißchen eleganter machen?« In der Kneipe hat Wieczorek wieder zu heulen angefangen, er war fix und fertig.

Jim und ich, wir gerieten damals in eine so ohnmächtige Wut, daß wir, hätten wir etwas zum Schießen dagehabt, es wahrscheinlich auch benutzt hätten. Auf dem Rückweg ins Stadthaus reagierten wir uns durch eine heftige Diskussion ab, Jim war süchtig nach Debattieren.

Was er sagte, ist mir unvergeßlich geblieben, denn es lehrte mich zum erstenmal, die andere Seite zu sehen, die der Russen, aber auch die der Amerikaner.

»Stell dir bloß vor«, sagte er, »du bist Stalin und hast gesehen, wie dich die deutsche Kriegsmaschine fast bis hinter den Ural getrieben hat! Und du hast zähneknirschend eine halbe Million amerikanischer Lastwagen und zusätzliche Riesenmengen an Waffen und Ausrüstung erhalten (ANmerkung : auf zu bezahlender Leihbasis), mit deren Hilfe es dir möglich wurde, das Rad umzudrehen und die Deutschen unter wahnsinnigen Opfern wieder aus dem Land zu drängen ...«

Die Amerikaner sind bis heute überzeugt davon, daß ihre Hilfe entscheidend war für den russischen Sieg, was die Sowjets bis zuletzt stur leugneten. »Und jetzt«, sagte Jim, immer wieder stehenbleibend und mich am Wams packend, wie das so seine Art war, »jetzt gelingt es diesen deutschen Teufeln, sich mit dem amerikanischen Industriegiganten zu verbünden! Auf dem Höhepunkt seines Sieges sieht Stalin, wie diese beiden - Amerikaner und Deutsche - zusammengehen!«
.

Klare Ansichten über die Praktiken der Kommunisten

Damals, auf dem Weg zurück zum Stadthaus, habe ich Jim noch ausgelacht. Ich kannte ja seine Vorliebe für das »Deutschland Goethes«, wie er immer sagte.

Vor dem Krieg hatte er in Berlin ein paar Semester deutsche Literatur studiert. Aber der Zustand, in dem sich Deutschland 1948 befand, schien mir doch zu grotesk, um nachempfinden zu können, daß Stalin sich Sorgen um ein künftiges deutsch-amerikanisches Bündnis machte.

»Sieh dir bloß diese verschissenen Verbindungsoffiziere von euch an!« provozierte ich ihn. »Die glauben doch immer noch, mit den Russen befreundet zu sein!«

Auch das, sagte er, möge ich bitte differenziert sehen: »Die armen Kerle, meistens deutsche Juden, sehen schon langsam, wohin der Hase läuft. Es dreht ihnen den Magen um, erkennen zu müssen, daß sie den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben haben, mit einem noch schrecklicheren Hitler verbündet zu sein!«

Jim hatte klare Ansichten über die Praktiken der Kommunisten und galt natürlich als Kalter Krieger.

Das Datum des 26. August

An das Datum des 26. August erinnere ich mich deshalb so genau, weil ich einen kräftigen Kinnhaken bekam, als wir beim Neuen Stadthaus wieder eintrafen.

Dort hatte sich gegen elf Uhr die bisher größte Demonstration von SED-Kadern und Helfershelfern a la Wieczorek zusammengefunden, nachdem es Friedensburgs Ordnern gelungen war, sie erst mal wieder aus dem Innern des Hauses zu vertreiben.

Ich schätzte die Menschenmasse in der Parochialstraße auf zehntausend, Jim auf die Hälfte; der ganze Molkenmarkt stand voll russischer Lastwagen, es war überhaupt kein Durchkommen mehr.

Jemand wußte, daß ein SED-Stadtrat die Hintertür geöffnet und früh um neun Uhr schon einige hundert Radaubrüder ins Stadthaus gelassen hatte, die um zehn Uhr, als Otto Suhr die 80. Sitzung eröffnete, mit dem Krawall angefangen hatten.

Dabei hatte ich Wieczorek mit dem Stuhlbein hantieren sehen. Ich machte den Fehler, mich auf eine Diskussion einzulassen, und bekam den Schlag aufs Kinn, wurde von Jim weggezerrt und lief mit ihm zur U-Bahn Klosterstraße hinüber. Die Kader zuckten zurück, sowie sich ein Amerikaner als Pressemensch vorstellte; offenbar hatten sie genaue Anweisungen.

Auf dem Bahnsteig Klosterstraße entspannen sich neue Auseinandersetzungen. Nachdem wir uns die Treppen wieder hinaufgedrängt hatten, sagte uns ein Mensch vom Magistrat, daß Otto Suhr die Sitzung inzwischen vertagt und für den nächsten Vormittag neu angesetzt habe.

Ein Gespräch mit Dr. Friedensburg

Wir gingen zu Fuß bis zum Adlon am Brandenburger Tor, an dem Jim seinen VW geparkt hatte. Aber gegen Abend gelang es mir dann doch noch mal, ins Neue Stadthaus zu fahren, vor dem jetzt Markgrafs Polizei stand, die am Vormittag unsichtbar geblieben war, und ein paar Worte mit Friedensburg zu wechseln.

Er sah blaß und übernächtigt aus, hatte ein Feldbett in der Ecke seines Dienstzimmers stehen und war pessimistisch: »Wir haben für morgen weitere hundert Ordner aus der Angestelltenschaft rekrutiert, lauter Freiwillige, die schon im Haus sind und in ihren Büros schlafen ...

Die alliierten Verbindungsoffiziere haben schärfsten Protest wegen der heutigen Vorkommnisse eingelegt, aber ich fürchte, die Russen gehen jetzt aufs Ganze ...

Colonel Howley und Brigadier Ganeval wollen eine Abteilung Militärpolizei aufmarschieren lassen, doch die Briten glauben nicht daran. Sie wollen, daß wir unsere nächste Sitzung einfach in ihrem Sektor abhalten. Ein Wahnsinn ist das! Wir können doch Berlin nicht in zwei Hälften teilen!«

Er war überzeugt: »Wenn wir aus dem Stadthaus gehen, kommen wir nie wieder rein!«
.

Friedensburg sollte recht behalten

Er sollte recht behalten: Zehn Tage später, am 6. September 1948, entwickelte sich eine neue Massenschlägerei im Neuen Stadthaus zwischen eindringenden Demonstranten und Ordnern, es floß viel Blut, und zuletzt flüchteten die Ordner in die Räume der westlichen Verbindungsoffiziere.

Die Abgeordneten versammelten sich am Abend im Studentenhaus am Steinplatz, neben der Hochschule für Bildende Künste. Während Otto Suhr nun schon zum x-ten Male die »unerhörten Vorkommnisse« in der Parochialstraße beklagte, drangen dort russische Militärpolizei und Markgrafs Schergen in die Zimmer der drei westlichen Verbindungsoffiziere ein und verhafteten 22 Ordner und sechs Tribünenbesucher, die sich seit dem Vormittag nicht mehr aus dem Haus trauen konnten.

Die Amerikaner hatten, wieder einmal, bis zuletzt versucht, beruhigend auf die »deutschen Kampfhähne« einzuwirken, wie der sagenhafte LtCol. Mautner sich ausdrückte.

Sie hatten Friedensburg und Suhr ausgerechnet durch die SED-Fraktion wissen lassen, daß die Stadtverordnetensitzung um 16 Uhr »ungestört beginnen« könne, aber Suhr hatte die Nerven nicht mehr und die 104 Abgeordneten der SPD, CDU und LDP für 19.00 Uhr schon in den britischen Sektor eingeladen, wo natürlich auch die Verbindungsoffiziere auftraten.

Als die Nachricht im Studentenhaus eintraf, daß die Russen in die verwaisten Räume der Verbindungsoffiziere im Stadthaus eingedrungen wären und die Ordner verhaftet hätten, schrie auch Karl Mautner »Unerhört!« und telefonierte mit Col. Howley. Der jagte ihn zurück ins Stadthaus, aus dem die Russen samt ihren Häftlingen allerdings längst verschwunden waren.
.

General Kotikow war ein typischer Russe ohne Skrupel

Der französische Verbindungsoffizier, Capitaine Ziegelmeyer, war als einziger Alliierter noch im Stadthaus geblieben. Bei ihm versammelten sich weitere 26 Ordner und Tribünenbesucher, die sich vor den Russen versteckt hatten, doch er machte nun den Fehler, mit seinem sowjetischen Kollegen um freies Geleit für die Schutzsuchenden zu verhandeln.

General Kotikow ließ den Franzosen die ganze Nacht und auch den ganzen nächsten Tag schmoren, und als er ihm am 8. September schließlich gestattete, mit seinen Schutzbefohlenen aus dem Stadthaus zu verschwinden, warteten an der nächsten Ecke wieder Markgraf-Polizei und sowjetische MP und nahmen alle fest.

Zur Ehre Ziegelmeyers ist zu sagen, daß er seine Pistole ziehen wollte, von seinem Fahrer mit den Worten »Für die Boches?« aber am Schießen gehindert wurde. Insgesamt schmorten jetzt 48 Ordner und zehn Tribünenbesucher, die, wie Friedensburg an Kotikow schrieb, »in gutem Glauben« gehandelt hätten, in einem Untersuchungsgefängnis.
.

- Werbung Dezent -
Zur Startseite - © 2006 / 2024 - Deutsches Fernsehmuseum Filzbaden - Copyright by Dipl. Ing. Gert Redlich - DSGVO - Privatsphäre - Redaktions-Telefon - zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - kostenlos natürlich.