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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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September 1944 - auf einmal bei der Waffen-SS

Wie ich mich, kurz nach meinem 16. Geburtstag im September 1944, auf einmal bei der Waffen-SS wiederfand, das ist fürwahr ein Kapitel für sich.

Auf der Schule in Oberlahnstein war damals morgens um acht statt des Biologielehrers der Direktor mit einem blutjungen Untersturmführer der Waffen-SS erschienen, dessen Hals ein Ritterkreuz schmückte.

Das war ein Ereignis! Es muß 1940 gewesen sein, nach dem Frankreichfeldzug und der junge Held erzählte frisch fröhlich, wie er ganz allein einen Bunker der Maginot-Linie geknackt hatte. So schnell war noch nie eine Biologiestunde vergangen.

Als die Glocke läutete, sagte der höchstens 21 oder 22 Jahre alte Ritterkreuzträger im Leutnantsrang: »... und wer sich zu unserer stolzen Truppe melden will, der trete vor und trage sich in meine Liste ein!«

Und schon rannten wir 12-oder 13jährigen alle - oder fast alle - zum Katheder, wo der Untersturmführer ein paar Bogen Papier entrollt hatte, und schrieben unsere Namen und Adressen nieder.
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Vier Jahre später

Vier Jahre später, nach meiner Rückkehr aus Rußland, drückte mir mein Chef Hanns Spudich einen Brief von meiner Mutter in die Hand, dem ein Schreiben der Waffen-SS/Ersatzkommando Soundso beigelegt war:

»Sie haben sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Am Soundsovielten haben Sie sich da und da zur Musterung einzufinden« - wie auch, was meine Mutter geantwortet hatte: »Mein Sohn ist nach Berlin verzogen, ich habe keine Adresse, und sowieso ist er erst fünfzehn Jahre alt!« -
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Zu der Zeit war ich vermißt - in Rußland

Erstaunlicherweise hatte der sonst so zurückhaltende Spudich den Brief meiner Mutter schon beantwortet: »Ihr Sohn ist seit dem 22. Juni in Rußland vermißt.«

Das brachte meine arme Mutter zwar um den Verstand, beruhigte offenbar aber die Ersatzbeschaffer der Waffen-SS - jedenfalls für eine Weile.

Im August traf ein zweiter Brief der Waffen-SS in Braubach ein: »Ihr Sohn ist polizeilich am Friedrichshain in Berlin gemeldet und hat sich beim Wirtschaftsamt des Bezirks mit Textilien für Luftkriegsgeschädigte ausstatten lassen. Sie werden aufgefordert, der obengenannten Dienststelle unverzüglich seinen Aufenthaltsort mitzuteilen, andernfalls ... «
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Noch ein Brief - ich war 15 Jahre alt

Meine Mutter, tapfer: »Weiß von nix, ist doch erst 15 Jahre alt!« Spudich erzählte mir, daß ein ihm bekannter Polizeibeamter vom Revier Rykestraße angerufen habe: »Ich mußte ihm die Jugendwohnheim-Adresse in der Wehlauer Straße geben, habe aber gesagt, du wärest auf kriegswichtiger Dienstreise für das Ostministerium...«

In Alfred Rosenbergs Ministerium hatte er offensichtlich Freunde sitzen. Im Jugendwohnheim hatte ich hingegen meinen Heinz Krüger, der dem Heimleiter mitteilte, ich sei schon seit Wochen nicht mehr erschienen, was ihm ohne weiteres geglaubt wurde: Wir beide nahmen ja an keinem der morgendlichen Zählappelle teil.

Um die Verwirrung komplett zu machen, berichtete mir Frau Spudich kurz danach, daß die alte Frau aus der Chodowieckistraße, bei der ich mein erstes Untermieterzimmer gefunden hatte, das dann abbrannte, bei ihr gewesen sei, weil die Polizei nach mir gefragt habe. Wie die wohl auf diese Adresse gekommen waren, wo ich mich dort doch noch gar nicht angemeldet hatte?
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Weil ich mit 15 ein wundervolles Leben führte

Ich drückte mich vor dem Dienst bei der Waffen-SS, nicht weil ich etwas gegen die stolze Elitetruppe gehabt hätte, sondern weil ich das Leben, das ich als Bildberichterstatter i. A in Berlin führte, einfach wundervoll fand.

Ich hatte keine geregelte Arbeitszeit, ich konnte kommen und gehen, wie ich wollte. Ich hatte eine feste Freundin und genügend zu essen. Spudich beschäftigte mich zwei-, dreimal die Woche mit lächerlichen Aufgaben: »Ich brauche ein Hochformatbild von der Wache am Ehrenmal vor dem Zeughaus« oder »Auf den Invalidenfriedhof sind Bomben gefallen, machen Sie davon mal ein paar Bilder und fotografieren Sie so viele prominente Grabstellen wie möglich!« oder »Auf der Liebesinsel im Rummelsburger See soll es toll zugehen - fahren Sie am Sonntag mal raus und versuchen Sie, ein paar romantische Fotos von Pärchen zu machen!« oder auch nur: »Auf der Trabrennbahn in Mariendorf ist ein Umschlag für mich hinterlegt worden, holen Sie mir den ganz schnell!«
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Keine größeren Reisen mehr - aber Erlebnisse gab es schon

Größere Reisen durfte ich nach meiner Rückkehr aus Rußland nicht mehr unternehmen. Nur einmal noch schickte Spudich mich nach Stolp in Pommern, um eine Reportage von der dortigen Adolf-Hitler-Schule, zu machen, auf der besonders begabte Schüler wie in einem Internat lebten.

Dabei wurde ich von einem übereifrigen Landjäger, der auf einem Fahrrad daherkam, als »Spion« verhaftet, weil ich ein Straßenschild fotografiert hatte, hinter dem sich - in vier Kilometer Entfernung! - ein Munitionslager in einem Wäldchen befand, wie ich nach meiner Freilassung vier Stunden später erfuhr.

Das geschah übrigens in den Tagen nach dem 20. Juli, an dem das Attentat auf Hitler passiert war und die Polizei überall nach dem flüchtigen Leipziger Oberbürgermeister Dr. Goerdeler suchte, auf den die sensationelle Belohnung von einer Million Reichsmark ausgesetzt war.

Nie eine jener Polizeiaktionen aus Hollywood- Filmen erlebt

Sonst habe ich in all den Jahren des Dritten Reiches nie eine jener Polizeiaktionen erlebt, die später in Hollywood-Filmen den Widerstandskämpfern das Leben schwermachten.

Wäre ich ein Spion a la Hollywood gewesen, ich hätte nie ängstlich an Hauswänden entlangschleichen müssen. Ich sah auch nie einen dieser vielen Widerstandskämpfer, obwohl ich das ganze letzte Kriegsjahr in unmittelbarer Nähe von einem lebte, ja, ihm offenbar auch dauernd noch behilflich war.

Eine englische 5-Zentner-Bombe

Es war schließlich eine englische 5-Zentner-Bombe, gekoppelt mit einer Luftmine, die mich dann doch noch in die Arme der Waffen-SS trieb.

Ich kam mit Heinz Krüger aus dem UFA-Farbfilm »Die Frau meiner Träume« mit Marika Rökk, und wir kehrten auf eine Faßbrause in eine kleine Kneipe in der Elbinger Straße ein, wo ich »sofort und aus dem Kopf >In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine< und >Schau nicht hin, schau nicht her< auf dem Klavier gespielt« hätte, wie Krüger mich nach dem Krieg erinnerte.

Ichmußte zweimal in der Woche Klavierunterricht nehmen

Habe ich noch nicht erzählt, daß mein Vater mich als Fünfjährigen schon zwang, zweimal in der Woche Klavierunterricht zu nehmen? Meine Händchen konnten noch keine Oktave greifen, als ich schon endlos Mozart-Etüden lernen mußte. Ich habe es gehaßt und vielleicht deswegen verdrängt.

Jedenfalls, Krüger war schon nach Hause gehumpelt, in die Wehlauer Straße, und ich schmuste noch mit der jungen polnischen Kellnerin herum, als es wieder einmal Luftalarm gab und alles in die Keller stürzte. Ich rannte hinter Krüger her, und als ich an der Ecke Greifswalder Straße war, fielen die ersten Bomben, aber hageldicht.

Ab in den nächsten Hausflur und dann

Ich lief noch ein paar Meter weiter, sah mich nach Schutz um, und als es ganz in meiner Nähe fürchterlich krachte und eine heiße Druckwelle mich traf, hechtete ich in den nächsten Hausflur, sah neben dem Treppenaufgang eine Kellertreppe mit einer stählernen Luftschleuse am Kellereingang - und da explodierte diese Bombe, direkt vor dem Haus, und die mit ihr gekoppelte Luftmine legte sämtliche Gebäude im Umkreis von fünfzig Metern flach.

Ich wurde von der Druckwelle, wie auch von der noch halboffenen Haustür, glaube ich, erfaßt und die Kellertreppe hinabgeschleudert und wäre wahrscheinlich schon an der Stahltür zerschmettert worden, wenn sie fest verschlossen gewesen wäre. Das war sie zu meinem Glück nicht, sondern sie flog auf, und ich segelte mit der Haustür im Rücken mitten in den Luftschutzkeller.

Und schon brach das ganze fünfstöckige Mietshaus über mir zusammen. Von da an hatte ich einen echten Blackout, war vielleicht auch mit dem Kopf irgendwo gegengeknallt.
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Im Luftschutzkeller - Man erstickt ganz einfach am Staub.

Als ich wieder zu mir kam, würgte mich ein Klumpen Staub im Mund, und während ich ihn ausspuckte, hörte ich es in meiner Nähe fürchterlich Keuchen und Röcheln und sah im Schein einer herumirrenden Taschenlampe mehrere Menschen, dicht an den Boden gepreßt, nach Luft japsen.

Im Luftschutzkeller stand wie ein dicker Vorhang eine Mordsstaubwolke, und ich wußte plötzlich, woran man bei einem Bombeneinschlag stirbt: am Staub. Man erstickt ganz einfach.

Ich habe auch noch eine deutliche Erinnerung an den tosenden Lärm, den das über uns zusammenstürzende Gebäude verursachte, ganz besonders deutlich an ein Scheppern und Krachen, mit dem, als alles schon vorbei zu sein schien, das Treppenhaus so dicht über unseren Köpfen noch nach unten gerutscht kam, als ob es durch die Kellerdecke stieße.

Ich kann es heute noch in meine Erinnerung zurückrufen und kriege immer noch eine Gänsehaut dabei. Dann heulten und schrien Frauen und Kinder, ich arbeitete mich unter der massiven Haustür hervor, die auf mich draufgefallen war, und kroch tiefer in den Schutzraum, wo inzwischen mehrere Taschenlampen aufgeblitzt waren.

Wir waren verschüttet, begraben unter den Trümmern

Ich habe diese Nacht noch im Krieg mal beschrieben, besitze das Manuskript auch noch und lege es jedesmal, wenn ich es anfange zu lesen, wieder beiseite. Wir waren verschüttet, begraben unter den Trümmern eines fünfstöckigen Mietshauses, und das elf Stunden lang.

Und das ist eine Erinnerung so voll ohnmächtiger Wut, so voll übermächtiger Ohnmacht, daß sich alles in mir sträubt, mich auch nur daran zu erinnern.

Zweierlei halte ich dennoch für erwähnenswert: Einmal, daß ich der einzige Mann unter sechzehn Frauen und Kindern war, die sich stundenlang an mich klammerten und würgten und kotzten, denn die dichte Staubwand, die das Zusammenfallen des Hauses aufgewirbelt hatte, wollte sich nicht legen.

Und dann der Blick an die Kellerdecke, in der sich ein Riß zeigte, der vor aller Augen immer größer, immer breiter wurde. Ich weiß noch, daß ich, wie alle anderen, dicht an die Kellerwand gepreßt stand, in jedem Arm einen Haufen wimmernder, hustender Kinder, daß ich mit krächzender Stimme immer wieder »Die holen uns raus! Die holen uns raus!« rief und dabei von einer Frau mit Kartoffelsalat gefüttert wurde, von einer anderen mit staubiger Blutwurst, von einer dritten mit Eßlöffeln voll Honig, einer Gurke, was weiß ich noch.

»Wenn wir schon sterben müssen«, rief eine, »dann nicht mit hungrigem Magen!« Das schlimmste aber war dieser Riß in der Decke, besonders am Morgen, als die ersten Geräusche von Ausgrabungsarbeiten zu uns drangen: Da sahen wir alle, wie der Riß noch einmal breiter wurde, wie die Kellerdecke sich senkte, und wir wußten, daß der ganze Schutt auf uns drauffallen würde, bevor sie uns freigeschaufelt hatten. Wir wußten es einfach!
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Elf Stunden verschüttet

Als wir um zehn Uhr morgens, einer nach dem anderen, durch einen schmalen Spalt ans Tageslicht zurückbefördert wurden, deutete ich auf den Riß in der Decke, aber der Luftschutzwart des Hauses, der im Nachbarkeller überlebt hatte, schüttelte den Kopf und sagte: »Quatsch! Der Riß im Verputz war schon immer da, und er ist auch nicht einen Zentimeter größer geworden. Ich bin der Hauswart, ich muß es doch wissen!« Soviel über Psychosen.

Bei der Waffen-SS

Am selben Tag führten mich gleich zwei Polizeibeamte zur Musterung vor, die im Gesundheitsamt in der Fischerstraße bei einem munteren alten Arzt mit Schnapsfahne stattfand, der zufrieden konstatierte, daß ich mit 1,68 Meter die Mindestgröße der Waffen-SS erreicht hätte, sich aber über meine »grauen Haare« wunderte: »Du bist doch erst sechzehn!«

Es war der Staub der vergangenen Nacht, der mein dunkelblondes Haar noch grau färbte. Auf den SS-Offizier, der den Papierkram erledigte, muß ich mit meinem nächtlichen Erlebnis mehr Eindruck gemacht haben.
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Ich war Kriegsberichterstatter einer Propaganda-Kompanie

Er ließ sich meine Tätigkeit beim Sportbild-Verlag Spudich beschreiben, mein Rußlandabenteuer erzählen und rief: »Da gehörst du doch zu Maxeiner, Mensch!«

So kam ich am 20. September 1944, einen Tag nach meinem 16. Geburtstag zur Bildberichterkompanie des Hauptsturmführers Maxeiner bei der SS-Standarte »Kurt Eggers« am Teltow-Kanal in Zehlendorf.

Ich war, wovon ich immer geträumt hatte, Kriegsberichterstatter einer Propaganda-Kompanie geworden!
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Zum erstenmal im Leben todunglücklich .......

Doch im realen Leben verblassen Träume schnell. Ich war nicht mehr halb so kriegslüstern wie noch zu Beginn der Minsk-Reise, ich liebte mein ziviles Leben in Berlin, und als ich mit zwei anderen »Kriegsfreiwilligen« von den Baracken am Teltow-Kanal zur Kaserne der »Leibstandarte Adolf Hitler« nach Lichterfelde gefahren wurde, um eine Uniform angepaßt zu bekommen, war ich auf einmal todunglücklich - zum erstenmal im Leben.

Ich sah den ganzen militärischen Drill, das nach Dienstvorschriften eingeteilte Leben mit soundsoviel anderen auf der Bude voraus, und ich - ich, der ich bei halbmilitärischen Übungen und Geländespielen der Hitlerjugend immer vorneweg gewesen war! - nahm mit einer Verdrossenheit, um nicht zu sagen Apathie, den Karabiner 98 in die Hand, die schon an Vaterlandsverrat grenzte.
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Nach zwei Tagen - ich desertierte

Ich erlebte zwei fürchterliche Tage mit einem sadistischen Ausbilder, der mich - vielleicht meiner Brille wegen - ganz allein durch Schlamm und Stacheldraht hetzte, mich so fertigmachte, daß ich um 18 Uhr dieses zweiten Tages bei der Waffen-SS - desertierte.

Ich stellte mein Gewehr in die Ecke, setzte das Käppi auf, fuhr mit dem Lappen über die Stiefel und marschierte einfach durch das Tor, am Wachposten vorbei, der mir nachrief: »Wo willste n hin, Kamerad?« Ich antwortete ihm etwas völlig Blödsinniges: »Schieß doch! Schieß mich doch in den Rücken!« Das muß ihn so verblüfft haben, daß er mir hilflos nachstarrte. Die »Standarte Kurt Eggers« war eben doch kein richtiger SS-Verein, sondern ein halbziviler Künstlerhaufen.
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Versteckspiel - Du bist ein Deserteur, Mensch

An die folgende Nacht habe ich so gut wie überhaupt keine Erinnerung mehr. Krüger sagte, ich sei im Jugendwohnheim aufgetaucht, wegen meiner Uniform bewundert worden und hätte ihm eine Karte von Südosteuropa gezeigt, mit der Bemerkung: »Wir hauen ab in die Türkei!« Als er dann von meinem Abgang in Zehlendorf hörte, reagierte er entsetzt: »Du bringst uns alle in Teufels Küche! Du wirst erschossen! Geh sofort zurück!«

Ich muß auch bei Spudich gewesen sein, der mir den gleichen Rat gab und mich schlicht vor die Tür setzte: »Denkst du, ich lasse mir wegen dir die Rübe abhacken! Du bist ein Deserteur, Mensch!«

Woran ich mich erinnere, ist die endlose Fahrt mit der S-Bahn auf dem Ring. Ich dürfte mehrmals Groß-Berlin umrundet haben in dieser Nacht und wurde, wie durch ein Wunder, niemals von den Wehrmachtstreifen kontrolliert.
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Bille ließ mich auch nicht rein

Einen Fliegeralarm habe ich glatt auf den harten Bänken eines S-Bahnwagens im Bahnbetriebswerk Rummelsburg verschlafen. Ich bin auch noch bei Bille in der Nürnberger Straße gewesen, wurde aber nicht zu ihr gelassen. Sie hatte wieder mal Besuch, an der Garderobe hing eine Offiziersmütze.

Den zweiten Tag nach meiner Flucht oder Desertion verbrachte ich wiederum in einem ganz apathischen, weil hoffnungslosen Zustand auf dem S-Bahnring, und wieder hatte der Allmächtige ein Einsehen und schickte mir einen Rettungsengel.

Irgendwann landete ich am Potsdamer Platz, wanderte zu der bekannten Rotkreuz-Essenausgabe, verschlang zwei Erbensuppen und stieg in die U-Bahn hinab. Dort saß ich, auf meine Verhaftung wartend, mehrere Stationen lang mit hängendem Kopf zwischen aus- und einsteigenden Fahrgästen und bekam plötzlich einen Schlag auf die Schulter:
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Fritz Emde - Mensch, Tremper! Wo kommst du denn her ?

»Mensch, Tremper! Wo kommst du denn her? Bei der SS jetzt? Gratuliere!« Vor mir stand der HJ-Hauptbannführer Fritz Emde aus Minsk in voller Montur und sprach begeistert auf mich ein, wollte wissen, wie ich aus Minsk herausgekommen wäre, seit wann ich das Ehrenkleid der Waffen-SS trage, was die Bildberichterstatter- Zunft mache, usw.

»Hast du Urlaub? Mußt du irgendwohin? Komm doch mit zu uns, wir haben bestimmt ein paar Stullen und ein Bier für dich übrig! Wann mußt du wieder in der Kaserne sein?« Ich folgte ihm willenlos, gab schwache Erklärungen ab, erntete Kopfschütteln und Kommentare wie: »Mann, du bist ja fix und fertig! Ich frage mal lieber nicht, wo du überall im Einsatz warst, wie?«

Wir landeten in der Reichsjugendführung, in dem runden grauen Prachtbau Lothringerstraße 1 (in DDR-Zeiten und lange danach noch: Wilhelm-Pieck-Straße) Ecke Prenzlauer Berg, hinterm Alexanderplatz, von allen nur »das Jonas-Haus« genannt, und zwar in den Kellerräumen, die als »Reichsbildstelle der Reichsjugendführung« beschildert waren.

»Ich bin abgehauen, Fritz...«

Fritz Emde kümmerte sich rührend um mich, ließ eine Sekretärin Eier in die Pfanne schlagen, bestrich eigenhändig ein paar Brote mit richtiger Butter und räumte, als ich immer noch nicht gesprächiger wurde, eine Couch von Aktenbergen leer, holte eine Decke und sprach: »Na, dann ruh dich erst mal aus, Junge! Du mußt ja Fürchterliches erlebt haben!«

Minuten später, so kam's mir vor, weckte er mich mit der Frage, wann ich in der Kaserne sein müßte, aber es war sechs Uhr morgens, am dritten Tag meiner Desertion. Ich hatte sechzehn Stunden geschlafen und fühlte mich schon viel besser, ließ mir Zeit mit der Antwort und gestand schließlich: »Ich bin abgehauen, Fritz...«

Rettende RJF

Ich weiß nicht, wie ich die Geschichte erzählen würde, wenn Fritz Emde mich nicht in den achtziger Jahren in München besucht und sie noch einmal zum besten gegeben hätte.

Ich traue seiner Version mehr als meiner Erinnerung: »Das war eine Riesenohrfeige, die du mir damals verpaßt hast! Ich war außer mir, wußte ja, daß die Waffen-SS unerbittlich gegenüber Deserteuren war«, sagte Fritz. »

Mir blieb nichts anderes übrig, als zum Telefon zu gehen und die Wache anzurufen, wirklich, ich konnte nicht anders handeln - aber dann hast du kleines Arschloch endlich mal das Maul aufgemacht und was gesagt. Und was du zu mir gesagt hast, das war so ungeheuerlich, daß ich am liebsten meine Pistole genommen und dich über den Haufen geschossen hätte! Du hast nämlich seelenruhig gesagt: >Das habe ich dir gestern abend schon anvertraut, Bannführer, und du hast mich heute nacht hier versteckt gehalten! «<
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Fritz Emde schrie und tobte

Oh, ich erinnere mich, wie der arme Kerl aus der Haut gefahren ist und mir ein paar runtergehauen hat, daß mir der Kopf dröhnte. Er schrie und tobte, aber er telefonierte nicht mit der Wache.

Er rief seinen Busenfreund Gustav Memminger an, den für Presse und Propaganda zuständigen Obergebietsführer in der Reichsjugendführung, erzählte ihm die ganze Ungeheuerlichkeit und mußte sich wohl auch noch Vorwürfe für seine Menschlichkeit anhören, denn er verteidigte sich mit den Erlebnissen, die er mit mir in Minsk gehabt hatte, und dem schlechten Gewissen, das er bekommen habe, als ich im Trubel der Ereignisse verschwand.

»Ich dachte doch, der ist draufgegangen durch meine Schuld, und war ja heilfroh, daß ich ihn plötzlich in der U-Bahn wiedertreffe!« So ungefähr redete er mit Memminger.
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Dieser Scheißtremper ist ja noch nicht einmal vereidigt!

Der wollte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben, schickte jedoch einen seiner Unterführer, der mein Soldbuch sehen wollte, sich aber mit meinen mündlichen Angaben begnügen mußte, denn ich hatte noch kein Soldbuch.

Es vergingen zwanzig unheilvolle Minuten, in denen Fritz Emde kein Wort mehr mit mir sprach und ich damit rechnen mußte, doch noch abgeholt zu werden.

Dann klingelte das Telefon wieder, und Emde klang auf einmal wie elektrisiert und schrie: »Ja doch, natürlich! Das issen toller Fotograf!« In seinen eigenen Worten: »Memminger hatte mir versprochen, mit Axmann zu reden, dem Reichs Jugendführer, ob man auf höchster Ebene etwas für dich tun könnte, ohne die Jugendführung in die Affäre hineinzuziehen.

Doch Axmann war nicht da oder ansprechbar, und so hatte Memminger mit Axmanns Bruder telefoniert, der Geldverwalter des Gebiets Berlin der Hitlerjugend war, und dieser Bruder schien sich auszukennen, der rief einfach deinen Kompaniechef Maxeiner bei der Standarte in Zehlendorf an, sprach von Kamerad zu Kamerad zu ihm, und Maxeiner, dem sein verschwundener Freiwilliger auch unangenehm zu sein schien, wußte die Lösung:

Dieser Scheißtremper ist ja noch nicht einmal vereidigt! Dem waren wir gerade dabei, Stillgestanden und Rechtsum-Linksum beizubringen!

Wenn die Reichsbildstelle der Reichsjugendführung ihn aus kriegswichtigen Gründen dringend anfordert, lasse ich den Scheißkerl heute noch zu euch versetzen und schließe die Akte.
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Und ruck zuck habe ich mich ausgezogen

Woraus hervorgeht«, sagte Fritz Emde in München, »daß dein braver Kompanieführer bis zuletzt gezögert hatte, die Desertion weiterzumelden. Ich weiß noch, was er dem Axmann-Bruder zum Schluß des Gesprächs zugeschrien hat. Er schrie: Aber die Uniform kriege ich zurück, verdammt nochmal!<«

Noch nie habe ich mich so schnell bis auf die Unterhose ausgezogen, die Sekretärin wickelte Packpapier um das graue Ehrenkleid und die schwarzen Knobelbecher, und derselbe Kleiderkalfaktor, der mir binnen Minuten eine neue HJ-Uniform mit dem Ärmelstreifen »Reichsjugendführung« brachte, wurde von Hauptbannführer Emde beauftragt, das Uniformpaket »umgehend« und »persönlich« dem Chef der Bildberichter-Kompanie der SS-Standarte »Kurt Eggers« in Zehlendorf zuzustellen, »Hei'tler!«
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Vom HJ Oberrottenführer zum Scharführer

So was war im letzten Kriegsjahr möglich, sogar bei der Waffen-SS. »Wir mußten ja den Krieg verlieren«, schloß Fritz Emde in den achtziger Jahren unsere Erinnerungen an das Jahr 1944.

Er beförderte mich übrigens damals ohne weitere Formalitäten auch noch zum Scharführer (ich war lediglich bestätigter Oberrottenführer, so was wie Obergefreiter, bei der HJ gewesen), weil die neue Uniform dieses Rangabzeichen trug.

Und noch am selben Tag wurde ich, mit vielfach gestempeltem »Marschbefehl« versehen, nach Wasserburg am Inn geschickt, um eine Reportage über ein Berliner Kinderlandverschickungslager zu fotografieren.

»Nur weg mit dem Kerl, bevor die Standarte Eggers sich das noch mal überlegt!« hörte ich Emde zu der Sekretärin sagen.

Damit begann mein eigentlich hübschester Abschnitt im ersten Jahr in Berlin. Ich wurde, als ich aus Wasserburg zurückkehrte, von der gesamten Reichsjugendführung mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung betrachtet und fühlte mich sauwohl dabei.
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Die neuesten Filme im Vorführsaal der Reichsfilmkammer

Fritz Emde war oft auf Dienstreise, ich hatte wenig zu tun, trieb mich in Uniform oder elegantem Zivil überall in der Stadt herum, benutzte die Möglichkeit, als »Vertreter der Reichsjugendführung« die neuesten, noch nicht uraufgeführten Filme im Vorführsaal der Reichsfilmkammer oder der Gauleitung Berlin zu sehen, und wurde von Emdes Sekretärin reichlich mit Essensmarken für die Kantine versorgt.

Manchmal waren da Marken dabei, die nur für die Kantine des riesigen Bürohauses in der Heerstraße gültig waren, in dem auch noch, oder hauptsächlich, wichtige Abteilungen der Reichsjugendführung und Axmann selbst, glaube ich, saßen.

In einer ansehnlichen gelben Villa im Garten des Hauses hatte sich der Obergebietsführer Gustav Memminger, mein Lebensretter, mit seiner Presse- und Propagandaabteilung niedergelassen: Dort war es, vor allem, wo ich mit spitzen Fingern, sozusagen, behandelt wurde. Meine Nächte verbrachte ich, wie immer, entweder im Jugendwohnheim in Weißensee oder bei Bille im Hinterhof der Nürnberger Straße. An beiden Orten erregte mein Ärmelstreifen »Reichsjugendführung« größtes Aufsehen.

Dazu durfte ich zum erstenmal eine Leica II benutzen, die mir lieber war als die klobige Contax, und bekam auch noch 110 Reichsmark Monatsgehalt.
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Wiedersehen mit Otto Heinzelmann

Jeden sonnigen Tag habe ich damals im Strandbad Wannsee verbracht. In diesem Herbst 1944 gab es gleich eine ganze Reihe Sonnentage, und Bille ließ sich überreden, mitzukommen.

Sie trug damals schon zweiteilige Badeanzüge, wie sie allgemein erst zwei Jahre später als »Bikinis« in Mode kamen, nach dem winzigen Atoll im Pazifik benannt, das die Amerikaner 1946 als Atombomben-Testgelände benutzten
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Bille zog mit dem Bikini die Schau ab

Der knappe Zweiteiler führte immer wieder zu Auseinandersetzungen mit anderen weiblichen Badegästen - ins Strandbad Wannsee paßten offiziell 25.000 Besucher, aber selbst im letzten Jahr des Krieges versammelten sich bei jedem Sonnenstrahl viel, viel mehr und spielten »Frieden«.

Das nach dem Krieg an den Eingängen hängende Schild »Wegen Überfüllung geschlossen« hätte uns damals nicht abgehalten, über die Gitter zu klettern.

Bille war wieder einmal von moralisch entrüsteten Nachbarinnen ob ihrer Schamlosigkeit angegiftet worden und hatte sich, gedankenlos, wie Weiber nun mal sein können, mit unserem Badehandtuch irgend-woanders hingetrollt, während ich nach einem Limonadenersatz Schlange stand.

Jedenfalls sah ich sie nicht mehr, als ich durch die wie Heringe zusammenliegenden Sonnenanbeter unserem Platz zustrebte. Eine geschlagene Viertelstunde mit der warmen Limonade herumsuchend, fand ich sie endlich, wie eine Katze schnurrend, neben einem tiefbraungebrannten, drahtigen Mann liegen, der sie andächtig mit einem wunderbar riechenden französischen Sonnenöl vom halb entblößten Busen bis zum Schamhügel einrieb.
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»Will Tremper?« - es war Otto Heinzelmann

Ich wollte schon sauer reagieren, als der Mann den Kopf hob, die Sonnenbrille abnahm und »Will Tremper?« sagte - es war Otto Heinzelmann, mein Otto mit den vier Schaufenstern aus Heidelberg-Handschuhsheim!

Mein SS-Unterscharführer aus Minsk und Sluzk, den ich in Barranowitschi vor drei Monaten verloren hatte! Ich glaube, ich bin ihm überwältigt um den Hals gefallen und hätte ihn am liebsten abgeküßt, wenn die Zeiten schon danach gewesen wären.

Wir hatten uns viel zu erzählen! Die gute Bille mit ihrem aufreizenden Körper war abgemeldet, aber so total, daß sie am Ende aufstand, ihr Badetuch und die Tasche mit dem obligatorischen Kartoffelsalat ergriff und »Ich gehe!« rief. Wir hörten ihr gar nicht zu.
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Das 20. Juli-Attentat - etwas »Unausbleibliches«

Otto war immer noch als Kurier in ganz Europa unterwegs und der erste Waffen-SS-Mann - ach, der erste Mensch! -, der mir ganz kühl und sachlich, in seiner leisen, emotionslosen Art, vom 20. Juli-Attentat auf den Führer als von etwas »Unausbleiblichem« erzählte, »das ja so kommen mußte« - aber da saßen wir bereits in der S-Bahn und fuhren zurück in die Stadt.

Und da hatte ich ihm schon von meinem Kurzaufenthalt bei der Standarte »Kurt Eggers« berichtet und daß ich bei der Reichsjugendführung untergekommen wäre.
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Das Ereignis des 20. Juli 1944 war immer noch Gesprächsthema Nummer eins

Jetzt, bei unserem Wiedersehen, schien er auf einmal ein ganz anderes Zutrauen zu mir zu fassen als noch vor drei Monaten in Rußland. Das Ereignis des 20. Juli war immer noch Gesprächsthema Nummer eins, und ich war, wie wohl die überwiegende Mehrheit der Deutschen, empört, war erschüttert, hatte »eine Stinkwut auf diese Verräter«, die es gewagt hatten, unserem geliebten Führer etwas anzutun, was Gott sei Dank nicht gelungen war - die sich »einbildeten«, so ereiferte ich mich, »daß irgendein deutscher Soldat ihrem Befehl gefolgt wäre! Was die für eine Ahnung haben vom deutschen Volk!«

Mein Otto hörte sich das alles ruhig an und machte mich ebenso ruhig mit ein paar Realitäten bekannt, die ich übersehen hätte in meiner Treue zum Führer: dem Zweifrontenkrieg, den Deutschland immer hätte vermeiden müssen, dem Vormarsch der Alliierten in Frankreich und Belgien - standen sie nicht schon vor Aachen? War nicht Paris kampflos aufgegeben worden? - und der Offensive der Sowjets bis nach Warschau, die ich ja miterlebt hätte.
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Hatten uns nicht auch unsere Verbündeten den Krieg erklärt?

War nicht auch Finnland gerade von uns abgefallen? Hatten uns nicht auch unsere Verbündeten, Rumänien und Bulgarien, gerade den Krieg erklärt?

Noch heute wundere ich mich, wie es Otto Heinzelmann möglich war, mir in nicht mehr als einer Viertelstunde, nämlich auf dem Weg vom Strandbad bis zum S-Bahnhof Nikolassee, den Kopf in eine ganz andere Richtung zu drehen - wie er vor allem den Mut aufbrachte, mir eingefleischtem Hitlerjungen auf die defätistischste Weise die Welt neu zu erklären. In der S-Bahn selbst, überfüllt wie immer, konnte er ja nur in Kürzeln sprechen.
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Bei einer Flasche Rheinwein und Aal auf den Spreeterrassen

Wir sind bis zum Bahnhof Friedrichstraße gefahren an diesem warmen Herbstabend, sind über die Weidendammer Brücke geschlendert und haben die Spreeterrassen betreten, gleich am Ende der Brücke, wo noch immer Betrieb wie zu Friedenszeiten herrschte.

Otto kannte da einen alten Oberkellner, dessen Sohn bei seiner Einheit gewesen und gefallen war, und wir bekamen nach kurzem Warten tatsächlich einen Zweiertisch nur für uns, direkt am Wasser.

Während wir warteten, wurden wir übrigens wieder von einer Streife »Kettenhunden« nach den Ausweisen gefragt, und Otto mußte seinen Marschbefehl, ich meinen RJF-Ausweis vorweisen. Als wir dann bei einer Flasche Rheinwein und Aal grün in die Dämmerung hineinsaßen und uns wie »plutokratische Lebemänner« vorkamen, ließ Otto plötzlich eine Katze aus dem Sack, die mir den Atem raubte und die Sprache verschlug.
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Auch Otto war desertiert

Er hatte die Flasche Wein fast allein getrunken, mir war überhaupt noch nicht nach Alkohol, und sich hinterher auch noch aus einer Thermosflasche aus seinem Brotbeutel bedient, die nach Cognac duftete, sonst hätte er nicht auf einmal »Fraktur geredet« und mir gestanden, daß auch er desertiert war - vor einem Jahr schon!

Nach einem Überfall auf seine Einheit, irgendwo in Jugoslawien, wenn ich mich recht erinnere, hatte er sich selber als »gefallen« gemeldet und mit einem ganzen Block bereits gestempelter Marschbefehle, die er nur noch auszufüllen und zu unterschreiben brauchte, auf eine endlose Reise gemacht:

»Nach Wien zuerst und dann nach Paris, von da nach Mailand und nach Narvik, wieder zurück nach Paris und, als die Invasion kam, dummerweise nach Minsk, wo wir uns kennengelernt haben...«

Er sprach ganz leise und bewegte kaum den Mund dabei, ich mußte mich weit über den Tisch beugen, um jedes Wort zu verstehen, aber zuletzt sprudelte es nur so aus ihm heraus. Als er mir seine Ungeheuerlichkeit anvertraute, war ich nur hingerissen und begann den gelernten Drogisten mit ganz anderen Augen zu sehen, mit denen des Abenteurers in mir, nicht mehr des bedingungslosen Hitlerjungen.
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Eine »Geisterarmee« von mehr als 150 000 Männern

Ich betrachtete überhaupt alle Frontsoldaten von diesem Augenblick an mit ganz anderen Augen, suchte »das Schicksal« in jedem, obwohl ich noch fest davon überzeugt war, in Otto Heinzelmann einen Einzelgänger vom Format eines Old Shatterhand vor mir zu haben.

Erst nach dem Krieg las ich dann von einer »Geisterarmee« von mehr als 150 000 Männern, die sich mit falschen Papieren im besetzten Europa herumgetrieben haben soll.

Der allabendliche Luftalarm beendete unser Beisammensein abrupt. Otto verabschiedete sich hastig, um sich - »man muß den Stier bei den Hörnern packen!« - vorschriftsmäßig auf der Bahnhofskommandantur Friedrichstraße zu melden, während ich zu dem tiefergelegenen S-Bahntunnel hinabstieg, wo sich Tausende schon wieder zum Übernachten versammelten. Ich hatte ihm meine Adresse sowohl bei der Reichsjugendführung als auch bei Bille gegeben, wartete aber vergeblich darauf, wieder von ihm zu hören.
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Otto hatte ein tauriges Schicksal in einem Panzerjagdkommando

Nach dem Krieg telefonierte ich mit seiner Frau in Heidelberg-Handschuhsheim, die Bescheid wußte, mit der er sich sogar heimlich getroffen hatte und die davon schwanger geworden war - nur um zu hören, daß mein Otto im letzten Augenblick noch vom »Heldenklau« aufgegriffen, einem Panzerjagdkommando in Mecklenburg zugeteilt und von einem sowjetischen Panzer überrollt worden war. Er hat seinen Sohn, der bei Kriegsende geboren worden sein muß, nicht mehr gesehen und seine vier Schaufenster auch nicht mehr.
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