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Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957

überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"

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Teil II - KAPITEL 11
"DIE HARTE WIRKLICHKEIT"

Vom makabren Reiz der Trümmerwelt / Von einer Blütezeit italienischer Filmkunst / Vom „besten Film in dreißig Jahren" / Von Darstellern, die keine Schauspieler sind / Von Filmkunst in Indien / Von der Kunstform des Dokumentarfilms / Von einem
unvergeßlichen Einzelgänger.


Carol Reed und Billy Wilder in den Ruinen Berlins

Als man aus der materiellen Not in den ersten deutschen Nachkriegsfilmen die künstlerische Tugend der „Zeitnähe" machte, haben auch ausländische Regisseure sich von dem erregend „bildhaften" Hintergrund der Ruinenkulisse reizen lassen, wie etwa Carol Reed in "Gefährlicher Urlaub"; einige Jahre vorher auch Billy Wilder, der mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle ebenfalls einen Kriminalfilm drehte, der im Milieu der Berliner Trümmerwelt und der nicht minder gespenstischen Nachtlokale jener Zeit spielte.

Es war einer der schwächeren Filme dieses sonst so treffsicheren und mit feinem Gefühl für das „Atmosphärische", begabten Regisseurs; das gleiche gilt auch für "Berlin im Jahre 0", einen der schwächsten Filme Roberto Rosselinis, der sich zu jener Zeit schon mit "Paisa" und mit "Rom, offene Stadt" Weltruhm erworben hatte.

"Paisa" war Rosselinis Meisterstück

"Paisa" ist zwar chronologisch ein späterer Film, aber ich habe ihn an erster Stelle genannt, weil er nicht nur Rosselinis Meisterstück ist, sondern auch bei aller (beabsichtigten) Episodenhaftigkeit wohl die erschütterndste filmische Gestaltung des italienischen Zusammenbruchs; stärker noch und gewiß inniger, als der kurz vorher (1945) gedrehte Film, der schon im Titel die Absicht ankündigte, die offene Stadt Rom nicht nur zum Hintergrund, sondern gewissermaßen zum Helden der Handlung zu machen.

Dem Italiener fehlte die innere Beziehung zu Berlin

Wegen seiner fast dokumentarisch nüchternen Realistik wurde dieser Film ein Welterfolg. Danach konnte sich Rosselini seine Stoffe selbstherrlich auswählen und kam auf den naheliegenden Gedanken, den großen Erfolg seines „Rom"-Films mit dem bildhaft ungleich wirkungsvolleren Hintergrund der Berliner Trümmerwelt wiederholen zu wollen.

In den Mittelpunkt der Handlung stellte er einen kleinen Jungen, der in seiner chaotischen Umwelt zum Verbrecher wird und zugrunde geht. Aber die Handlung war für den Regisseur nicht so wichtig, wie der Hintergrund und die Atmosphäre; und daß er dabei versagte, dürfte sehr einfach dadurch zu erklären sein, daß er zu Berlin nicht die natürliche innere Beziehung hatte, die ihn mit Rom verknüpfte. Es fehlte also die gefühlsmäßige Komponente, denn gerade bei einem solchen Stoff muß ein Unterton gefühlsmäßiger Teilnahme mitschwingen, um das aus eigenem Erlebnis beteiligte Publikum anzusprechen.

Vorsicht mit „neue Richtung" und „Neoverismus"

Immerhin wird durch die Parallelität von "Rom offene Stadt" und "Berlin im Jahre 0" der bereits offensichtliche Anschluß der deutschen Nachkriegsproduktion an die „neue Richtung" besonders sinnfällig dokumentiert; eine nicht gerade erstaunliche Erscheinung, da ja in Italien und in Deutschland die politischen und wirtschaftlichen Umstände jener Zeit nicht unähnlich waren.

Trotzdem sollte man Schlagworte wie „neue Richtung" und „Neoverismus" mit Vorsicht gebrauchen und den Versuch einer Verallgemeinerung unterlassen.

Von Luchino Viscontis „Obsessione" zu Rosselinis „Roma citta operta"

Schon die in zahlreichen Büchern festgelegte Behauptung, der italienische „Neoverismus" habe mit Rosselinis „Roma citta operta" begonnen, ist zweifellos unrichtig.

Zum Aufspüren der Anfänge muß man schon ein paar Jahre weiter, bis zu Luchino Viscontis „Obsessione" (Besessenheit) zurückgehen, einem sehr beachtlichen Film mit dem Handlungskern einer „besessenen" Frau, die den ihr hörigen Mann zum Verbrecher macht.

Wäre Visconti nicht ein wirtschaftlich unabhängiger Mann gewesen, dann hätte er diesen Film nicht in den Jahren 1942/43 schaffen können. Trotz Zensurschwierigkeiten ist diese dritte Verfilmung des berühmten amerikanischen Romans die bei weitem beste geworden. (James Cains „The Postman always knocks twice" wurde vorher schon in Hollywood und in Paris verfilmt.)

Viscontis „La terra trema" (Die Erde bebt)

Viscontis nächste Filmschöpfung ließ fast fünf Jahre auf sich warten; teils wegen seiner Bühnenverpflichtungen, vor allem aber, weil er zur Vorbereitung eines Stoffs stets viel Zeit verlangt.

Sein Film „La terra trema" (Die Erde bebt) ist eines der beachtlichsten Werke der neueren Filmgeschichte. In kühn und konsequent gestalteter Thematik wird das harte Los des Fischervolkes in die sizilianische Landschaft gestellt.

Unvergeßlich bleibt die Szene der Fischerfrauen, die auf den Klippen kauern, die bangen Blicke unverwandt auf das stürmische Meer gerichtet, wo die Männer ihren gefährlichen Lebenskampf bestehen; oder die regnerische und unsäglich bedrückende Atmosphäre, als der „Held" des Films, ein rebellischer Fischer, atemlos auf das kleine Haus zurennt, sein einziges Eigentum, das er nun verlieren soll. Vergeblich hatte er Geld aufgenommen, um sich von jenen Mittelsmännern unabhängig zu machen, die ihn und seinesgleichen immer um den Ertrag harter Arbeit geprellt hatten.

Es wurde nur ein Film von dreien

Dieser Film - größtenteils nicht mit Schauspielern, sondern mit echten Fischern an der sizilianischen Küste gedreht - sollte eigentlich der erste einer Trilogie sein, die das Thema der Ausbeutung der Armen durch die Reichen gestalten wollte. Aber die beiden anderen Filme sind nie über das Stadium der Planung hinausgediehen.

Mussolinis vergebliche Versuche mit dem "Hollywood am Tiber"

Gelegentlich eines Gesprächs mit Roberto Rosselini über die zwei wirklichen Blütezeiten des italienischen Films (die erste zur Zeit der großen Stummfilme vor dem Ersten Weltkrieg, und die erheblich bedeutendere Periode, der „NeoVerismus" in den vierziger und fünfziger Jahren), kamen wir auch auf den Faschismus zu sprechen.

Als wir dabei an Mussolinis zwar sehr großzügige, aber doch vergebliche Versuche dachten, aus der Cinecitta ein „Hollywood am Tiber" zu machen, erklärte der Regisseur, daß der Faschismus zwar - wie jede Form des Polizeistaats - keine wirklich große, also unabhängige künstlerische Entwicklung aufkommen ließ, daß aber die unmittelbare Einflußnahme des Regimes auf die Stoffwahl und die Gestaltung verhältnismäßig geringfügig war.

Sonst hätte sich kaum schon in den dreißiger Jahren ein so hervorragender Regisseur wie Emilio Cecchi entwickeln können, der mit Walter Ruttmann als Mitarbeiter den ausgezeichneten Dokumentarfilm "Stahl" schuf, oder Alessandro Blasetti, der seine so bezaubernde Komödie "Vier Schritt in die Wolken" noch 1943 fertigstellte. Denn während des Regimes waren es mehr die negativen Hintergründe des Polizeistaates, als die tatsächlichen Verordnungen, die eine gedeihliche künstlerische Entwicklung fast unmöglich machten.

Die Cinecitta und die neue Blütezeit des italienischen Films

Immerhin stand in der neuen Blütezeit des italienischen Films die in den vorhergehenden Jahrzehnten mit so großen Mitteln erbaute Cinecitta zur Verfügung, und es liegt eine gewisse ironische Pointe darin, daß gerade in den besten neuen Filmen die Atelieranlagen so gut wie gar nicht gebraucht wurden.

Die besten italienischen Regisseure trieb es immer wieder „auf die Straße", da sie eben in der Realität der italienischen Landschaft die zeitnahen Stoffe gestalten konnten, die ihnen am Herzen lagen.

Die Stadt Rom und ihre Menschen spielen die Hauptpersonen

Dazu kam natürlich die Liebe zu den Städten, vor allem zu Rom. Man könnte wohl das bedeutendste Werk jener fruchtbaren Epoche, de Sicas "Fahrraddiebe" gewissermaßen als eine Liebeserklärung an Rom bezeichnen, die den ganzen Film durchpulst, ohne seine straffe Handlungsführung und seine nachdrückliche soziale Aussage zu beeinträchtigen. Die Stadt Rom und ihre Menschen spielen gewissermaßen als anonyme Hauptpersonen mit.

Vittorio de Sica als Schauspieler ?

Selbst wenn er nie einen Film inszeniert hätte, wäre Vittorio de Sica als Schauspieler seines Weltruhms sicher. Man hat ihn zwar auf das Rollenfach des liebenswürdig hochstapelnden Schwerenöters festgelegt, den er meisterhaft und mit viel echtem Charme zu spielen weiß, aber die größte Leistung seiner Laufbahn ist zweifellos seine Regieführung in "Fahrraddiebe", und wenn Rene Clair, sicherlich ein guter Kenner und strenger Kritiker, diesen Film für den besten erklärt hat, den er seit 30 Jahren gesehen habe, so ist das ein Werturteil, dem ich nicht widerspreche.

Die Story von "Fahrraddiebe"

Die „Story" ist denkbar einfach und gradlinig. Einem armen Teufel wird das für seinen Broterwerb unentbehrliche Fahrrad gestohlen, und mit Hilfe seines kleinen Jungen versucht er vergeblich, es zurückzubekommen. Das ist alles.

Aber wie das gemacht ist, gibt uns wieder einmal ein paar positive Antworten auf unsere mehrfach wiederholte Frage, ob und wie die echten künstlerischen Impulse des Stummfilms lebensfähig erhalten und in unsere Zeit herübergerettet werden konnten, und es sei erlaubt, gerade bei diesem Beispiel etwas länger zu verweilen.

Schon der Anfang von Fahrraddiebe ist so „visuell", wie auch ein Tonfilm sein darf (und soll), ohne seine akustischen Möglichkeiten zu vernachlässigen. Wir sehen Arbeitslose zu Dutzenden, zu Hunderten herumlungern, denn sie haben ja alle viel Zeit, sie haben leider nichts als Zeit.

Aber dann zeigt sich plötzlich bei einem von ihnen ein deutlicher Tempowechsel, denn er bekommt Arbeit zugewiesen, und sofort setzt er sich in Trab; er hat nicht viel zu sagen, aber er hat plötzlich viel zu tun. Der Schicksalswandel packt uns durch eben diesen erregenden Tempowechsel: Aus Lungern wird Trab und Dauerlauf.

Als dann das Fahrrad geklaut wird . . .

Warum die Eile? Nun, Ricci muß seiner Frau und seinem Jungen die große Nachricht bringen. Er ist als Plakatkleber eingestellt, dazu braucht er unbedingt sein Fahrrad, und das ist im Leihhaus.

Man hat zwar auch schon fast allen Hausrat versetzt, aber noch nicht die Bettwäsche. Und man kann eher auf unbezogener Matraze schlafen als ohne Fahrrad auf Arbeit gehen.

In der Pfandleihe wird das sorgsam verschnürte Paket auf dem allerobersten Regal verstaut; darunter liegen Hunderte solch sauber verschnürter Pakete, es gibt offenbar viele Familien, die in unbezogenen Betten schlafen. Aber unser Mann ist guter Dinge, denn als er mit dem „Erlös" der Bettwäsche unter Hunderten von versetzten Fahrrädern sein eigenes auslöst, bleiben sogar noch ein paar Geldscheine übrig.

Er fährt auf Arbeit. Aber während er, auf der obersten Leitersprosse stehend, ein Plakat anpappt, wird das an die Hauswand gelehnte Rad gestohlen, und der Dieb entkommt im Gewühl der Stadt.

Auf der Suche nach dem Fahrrad - aber das Kind ??

Der Bestohlene rennt heim, um es der Frau zu sagen, aber gleich macht er sich wieder auf die Suche, und sein kleiner Junge kommt mit. Auf der Polizei füllt man pflichtgemäß ein Formular aus und zuckt die Achseln. Allenfalls könne er sich einmal auf dem bekannten Platz umsehen, wo Diebesgut gehandelt wird.

Ricci geht hin und glaubt, den Rahmen seines Rades zu erkennen, der gerade frisch gestrichen wird. Er holt die Polizei, aber die Nummer stimmt nicht, der Gauner triumphiert, und der Bestohlene muß verhöhnt abziehen.

Er rennt weiter, immer den schon sehr erschöpften Jungen neben oder hinter sich. Plötzlich bleibt Ricci stehen. Wo ist der Junge? An der Tiberbrücke ist ein Menschenauflauf. Sollte etwa das Kind . . . ?

Auf einmal - wir sehen den ernsten Mann lächeln

Aber dann löst sich der verzweifelte Blick des Mannes in einem befreienden Lächeln. Wir folgen dem Blick und sehen den Kleinen, brav und todmüde, auf einer Steinstufe sitzen. Und jetzt kommt in dieser meisterhaft gebauten Geschichte die dramaturgisch haargenau sitzende Entspannung.

Zum erstenmal sehen wir den ernsten Mann lächeln. Er streichelt den übermüdeten Jungen, und jetzt kommt eine Art Galgenhumor über den unglücklichen Mann. Er nimmt das ausgehungerte Kind in ein richtiges Restaurant und bestellt etwas zu essen.

Seine Tischmanieren sind nicht die besten, aber der Mann glaubt jetzt fest daran, daß sich alles zum Guten wenden wird, sieht mit freudigem Vaterstolz, wie der glücklich gesättigte Knirps das ihm diktierte Familienbudget der nächsten Wochen auf die Speisekarte kritzelt. Es wird alles gut werden, wenn nur erst das Rad gefunden ist.

Die Suche geht weiter . . . .

Gestärkt und guten Muts gehen Vater und Sohn wieder auf die Suche, und wirklich: das Glück scheint ihnen zu lächeln. Sie treffen und erkennen den Burschen, der das Rad gestohlen hat, folgen ihm und alarmieren die Polizei.

Natürlich ist das Rad nirgends zu finden. Die Hausgenossen nehmen gegen den „Verleumder" des Burschen Partei. Der Polizist zuckt die Achseln; er ist zwar überzeugt, daß der Bursche lügt, aber was nützt das, wenn man ihm nichts beweisen kann?

Rechtlos, ohne Hoffnung geht Ricci weiter, den kleinen Jungen an der Hand. Und jetzt kommen wir zu der erschütternden Schlußszene, die uns wieder die Frage nach den künstlerischen Impulsen des Stummfilms in den Mund legt. Als nämlich nun Vater und Sohn an einer Menge geparkter und unbeaufsichtigter Fahrräder vorbeikommen; als man im Gesicht des Mannes den Verzweiflungsgedanken lesen kann; als er dem Jungen Geld gibt und die Weisung sofort mit der Tram heimzufahren - das alles ist beste Stummfilmdramaturgie.

Auch als der kleine Junge mit der überfüllten Trambahn nicht mitkommt, sich zum Vater auf der anderen Straßenseite umdreht und Zeuge der Schande wird, daß der Vater ein Rad stiehlt und sehr bald erwischt und verprügelt wird; daß man nach der Polizei ruft, bis schließlich ein besonnener Mann eingreift: man solle den armen Teufel laufen lassen, er sei bestraft genug durch die unauslöschliche Schande vor seinem Sohn.

Das ist das Ende der Geschichte. Verzweifelt geht der Mann weiter, merkt kaum, daß der Kleine ängstlich nach seiner Hand greift und schon wieder vertrauensvoll zu ihm aufblickt; geht weiter durch die Straßen Roms, weiter in ein Leben, das auch ohne Fahrrad und Bettwäsche, ohne Recht und Broterwerb irgendwie weitergehen wird.

Aus hunderten den "richigen" Typ zu finden

Der kleine Junge war mit Enzo Staiola unbeschreiblich „echt" besetzt, und es war nicht leicht gewesen, für diese Rolle ein geeignetes Kind zu finden. De Sica hatte inseriert, und natürlich waren Hunderte von Vätern und Müttern mit ihren hoffnungsvollen Sprößlingen erschienen, auch ein großgewachsener Bauarbeiter mit einem ausdrucksvoll-ernsten Gesicht. Er hieß Lamberto Maggioiani, und er brachte seinen Jungen zur Vorstellung, er sei sicher begabt.

Der Junge bekam die Rolle nicht, aber den Vater behielt de Sica gleich da. Er war genau der Typ, den er suchte, er spielte nicht den Mann, er war es. Immerhin gehörte einiger Mut dazu, eine so entscheidende Rolle mit einem Amateur zu besetzen, der noch nie vor einer Kamera gestanden hatte. Aber der Bauarbeiter Maggiorani hat die Rolle besser „gespielt", als es ein Filmstar gekonnt hätte.

Über die sehr seltenen Glücksfälle

Es ist in diesem Buche und auch in meiner vorausgegangenen „Chronik des Stummfilms" hier und da die Rede von jenen leider nur seltenen Glücksfällen, in denen die Synthese eines kompromißlos reinen Kunstwerks und eines kommerziellen Erfolges gelungen ist.

"Fahrraddiebe" war ein solcher Glücksfall, denn der Film war in der Herstellung geradezu spottbillig, und er hat in der ganzen Welt ein Vermögen eingespielt. Dieser Film gehört zu den wenigen, die man als richtunggebend bezeichnen kann, denn es haben viele Regisseure in vielen Ländern viel davon gelernt.

Besonders interessant ist der Einfluß, den der „Neoverismus" im allgemeinen und Fahrraddiebe im besonderen auf die indische Film-Produktion ausgeübt hat.

Blicken wir nach Indien

Wenn man von den jüngeren indischen Filmschaffenden sprechen will, wie etwa von Chetan Anand und Dilib Kumar (beide auch hervorragende Schauspieler), und vor allem von dem sehr fähigen Regisseur Bimal Roy, dann muß man erst etwas zurücksenden:

Ungeachtet des im Verhältnis zur riesigen Größe des Landes noch minimalen Marktes („Kinodichte" etwa 2.000 kleine Theater), ist die indische Filmproduktion schon seit etwa drei Jahrzehnten erstaunlich lebhaft und hat in den letzten Jahren je etwa 250 Spielfilme hervorgebracht.

Besonders interessant ist eine schon 1939 von Mohan Bhavnani inszenierte Verfilmung von Henrik Ibsens Bühnenstück "Gespenster", mit dem Schauspieler Navine als Oswald. Das Drehbuch schrieb ein deutscher Schriftsteller, Willy Haas, der schon in der Stummfilmzeit einige wesentliche Filme verfaßt hatte. Kurz darauf schrieb Haas auch das Drehbuch für eine indische Dorflegende, die ebenfalls von Mohan Bhavnani inszeniert wurde.

In Indien - viel Musik und Tanz

Das indische Publikum verlangt in seinen Filmen viel Musik und Tanz, aber nicht etwa in der Art, in der wir das in Operettenfilmen und musikalischen Lustspielen erwarten, sondern in einer religiös betonten Art. Solche außerordentlich lange Szenen findet man in fast jedem indischen Film, auch an Stelen, an die sie stofflich kaum hineinpassen.

Entbehrlich waren solche Szenen in jenem Film, der von de Sicas "Fahrraddiebe" beeinflußt ist. Obschon der Film "Zwei Morgen Land" nicht nur thematisch dem Meisterwerk de Sicas, sowie auch Viscontis "Die Erde bebt" sehr viel verdankt; obschon aus sehr vielen dramaturgischen Einzelheiten ersichtlich ist, daß Bimal Roy auch bei vielen anderen Meistern des europäischen und amerikanischen Films in die Schule gegangen ist, hat er doch ein durchaus indisches Werk geschaffen.

Der indische Held - ein Kleinbauer

Der Held ist ein Kleinbauer, der auch im Typ dem „Fahrraddieb" ähnelt; ein ernster Mensch, der den Geldmann fassungslos anstarrt, als der ihm den Vorschlag macht, seine Schulden zu streichen und ihm noch etwas dazuzuzahlen. Er braucht nämlich das kleine Anwesen zur Arrondierung eines Fabrikgeländes, und er gibt dem Bauern die Zusicherung, daß er in der Fabrik regelmäßige Arbeit haben würde.

Die Story geht weiter

Sein Land verkaufen? Niemals! Aber jetzt erwirkt der Gläubiger ein Gerichtsurteil. Wenn der Bauer nicht in einer bestimmten Frist zahlt, verliert er sein Grundstück. Er muß also verdienen und macht sich auf nach Kalkutta, begleitet von seinem zehnjährigen Jungen.

Der Mann verdingt sich als Rikschakuli, und der Kleine sieht es den älteren Straßenjungen ab, wie man als Schuhputzer etwas Geld verdienen kann. Fleißig legen sie Rupie auf Rupie, aber da trifft sie das Unglück. Von übermütigen Fahrgästen zum Wettrennen mit anderen Rikschas angespornt, holt der Mann die letzte Kraftanstrengung aus dem geschwächten Körper, stolpert und stürzt.

Mit einem Beinbruch liegt er darnieder, erlaubt dem Jungen nicht, vom mühsam ersparten Geld etwas für Doktor und Medizin zu „verschwenden", bangt auf seinem Krankenlager, ob er rechtzeitig aufstehen kann, um in der verbleibenden Frist das noch fehlende Geld zu verdienen.

Inzwischen ist der Junge in schlechte Gesellschaft geraten. Er stiehlt zwar nicht selbst, aber er nimmt von dem Jungen, für den er „Schmiere gestanden" hat, einen Anteil der Diebesbeute und bringt das Geld dem noch immer ans Krankenlager gefesselten Vater. Der ist über die Ehrlosigkeit seines Sohnes fast noch verzweifelter als über den kaum mehr abwendbaren Verlust seines Hofes.

Er zwingt den Jungen, das Geld zurückzubringen und setzt sich mit dem kaum verheilten Bein in Trab, im hoffnungslosen Versuch, in der verbleibenden kurzen Frist den Rest des Geldes zu verdienen. Auch die Schlußszene ähnelt in ihrer erschütternden Resignation der stummen Fahraufnahme, mit welcher Vittorio de Sica seinen Fahrraddiebe ausklingen läßt. Der Bauer und seine Familie müssen den Hof verlassen, und wir sehen sie langsam weiterwandern, weiter und weiter ins Ungewisse.

Der farbenprächtige Hintergrund von Indien

. . . war für Filmregisseure immer sehr reizvoll. Kein Wunder also, daß von dem Münchener Filmpionier Franz Osten (Ostermayer), der schon in den zwanziger Jahren den Anfang machte, über Robert Fiahertys „Elephant Boy", Wilhelm Dieterles „Elephant Walk" bis zu Roberto Rosselinis und Fritz Langs Indienfilmen viele Filmregisseure sich immer wieder von dem so ungemein bildhaften Hintergrund anreizen ließen.

Für Jean Renoir, der in seiner Vorliebe für den Farbfilm das Erbteil seines Vaters, des großen Malers Auguste Renoir, bekundet, war es eben die Farbenpracht der indischen Landschaft, die ihn zu dem Film "Der Fluß, einem seiner bedeutendsten Werke inspirierte.

Was diesen in der sonnendurchfluteten Landschaft am Ganges spielende Farbfilm so reizvoll macht, ist nicht nur die ungemein zartfühlend geschilderte Liebesgeschichte, es ist vor allem der von einem echten Künstler gesehene harmonische Einklang dieser Landschaft und des seiner Reife entgegenschwellenden Flusses mit der mählich zum Weibtum wachsenden Gestalt eines Mädchenkindes.

"Der Fluß" entstand im Jahre 1951

. . . . also schon jenseits der diesem Kapitel gesetzten chronologischen Grenze, und es bleibt noch zu untersuchen, ob die in den ersten fünf Nachkriegsjahren in Deutschland und Frankreich und ganz besonders in Italien entwickelte „Richtung" des Neoverismus auch in der englischsprechenden Welt eingeschlagen
wurde.

Amerika war damals auf den fernöstlichen Kriegsschauplatz fixiert

Die Antwort ist, daß für eine ähnliche „Richtung" in der anglo-amerikanischen Welt die Gründe nicht so sehr in dem Einfluß einiger kontinentaler Filme zu suchen sind als vielmehr in den Zeitumständen selbst, die letzten Endes für jede kulturelle Entwicklung den entscheidenden Antrieb geben.

Daß man in Hollywood, von unmittelbarer Kriegseinwirkung oder gar vom Trümmererlebnis unberührt, keine solchen Filme machte, wie Rosselinis "Rom, offene Stadt" oder Käutners "In jenen Tagen", ist begreiflich, denn der dem amerikanischen Volke in jeder Hinsicht „näherliegende" fernöstliche Kriegsschauplatz und die Inselwelt des Stillen Ozeans lieferte den Hintergrund für zahlreiche „zeitnahe" Filme.

Über die Entwicklung des Zeichentrickfilms

Aber daß auch jenseits des Kriegserlebnisses und sogar schon mehrere Jahre vor dem Krieg eine „realistische" Richtung eingeschlagen wurde, dafür zeugt bezeichnenderweise auch die Entwicklung des Zeichentrickfilms, einer filmischen Kunstgattung, die naturgemäß eher in der Märchenwelt wurzelt als im Bannkreis sozialer Fragen.

Wenn man etwa einige Walt Disney-Filme der neueren Zeit mit denen vergleicht, die dieser große Künstler in der Frühzeit des Tonfilms, oder gar in der Stummfilmzeit geschaffen hat, dann läßt sich in der betont realistischen Art der Charakterisierung eine deutliche Entwicklung vom Märchenhaften und von der stilisiert „surrealistischen" Groteske zu einer bei aller Komik realistischeren Gestaltung erkennen.

Persönlichkeiten vor dem Hintergrund ihrer Zeit gestalten

Nicht minder bezeichnend ist es, daß gerade Walt Disney, der große Märchendichter des Films, sich in der Nachkriegszeit nicht mehr mit seinen weltberühmten Fabelwesen begnügt, sondern groß angelegte Werke naturwissenschaftlicher, völkerkundlicher oder sonstwie „dokumentarisch" betonter Art geschaffen hat.

Auch das liegt gewissermaßen „im Zuge der Zeit" und hat schon Ende der dreißiger Jahre begonnen, als Wilhelm Dieterle eine ganze Serie von Filmen einleitete, in welchen historische Vorgänge (wie die Dreyfus-Affäre) oder historische Persönlichkeiten (der Arzt Pasteur oder der Forscher Ehrlich) von dem Hintergrund ihrer Zeit gestaltet wurden.

In USA auf die Millionen von Zuschauern angewiesen

Das Publikum, auf dessen Millionenmassen man für die Auswertung eines mit teueren Stars besetzten Spielfilms angewiesen ist, zeigte wachsendes Interesse für eben solche Filme, die sich in einer spielfilmhaft-dramatisierten Art doch ziemlich genau an den "Vorwurf" (??) hielten, der etwa in der Lebensgeschichte einer großen Persönlichkeit oder in einem historisch wesentlichen und zugleich mit eigener dramatischer Spannung erfüllten Vorgang zu finden war.

Es war unvermeidlich, daß ein stetig wachsendes Interesse des großen Publikums an der Realität historischer und gegenwärtiger Vorgänge und Persönlichkeiten auch dem reinen Dokumentarfilm einen starken Auftrieb geben mußte. Der „Lehrfilm" und „Kulturfilm" - schon durch solche Benennung für das große Publikum etwas abschreckend - hatte jahrzehntelang die Rolle eines Mauerblümchens im prunkvollen Ballsaal der Filmindustrie gespielt.

Da war in Deutschland die UFA-Kulturabteilung Vorreiter

Da Geld mit dem „Beiprogramm" nicht zu verdienen war, durften nur sehr bescheidene Mittel investiert werden, und wenn z. B. in Deutschland die UFA-Kulturabteilung etwas großzügiger arbeiten durfte, dann war das eine Prestige-Angelegenheit, die sich eben nur die UFA leisten konnte.

In den größten Kinopalästen zum Hauptfilm avanciert

Es lag in der Natur der Sache, daß gerade für den Kulturfilm und den Dokumentarfilm die Sprache und der Ton einen gewaltigen Vorteil und Gewinn brachten, zumal eine einfache Übersetzung des erläuternden Textes die internationale Auswertung leicht ermöglichte.

Man konnte also schon aus Export-Gründen größere Mittel in solche Filme investieren, und Spitzenleistungen deutscher Dokumentarfilme, wie etwa Leni Riefenstahls zweiteiliger "Olympia-Film" konnten in den größten Kinopalästen zum Hauptfilm avancieren und ein begeistertes Massenpublikum an die Kinokasse locken.

John Grierson - der Vater des Dokumentarfilms

Ihren größten Auftrieb hat die Kunstform des Dokumentarfilms freilich in England erlebt, und es ist gewiß keine unziemliche Übertreibung, das anspruchsvolle Wort „Kunstform" in diesem Zusammenhang zu gebrauchen.

John Grierson (dessen Anfänge in die Zeit des Stummfilms zurückgehen) gilt als der Vater des Dokumentarfilms. Mit seinem erheblichen Einfluß auf andere Regisseure dieses Fachs hat er einen Stil geschaffen, der von Paul Rotha, von Basil Wright und manchem anderen seiner Schüler weiterentwickelt wurde.

Daß ich für die Leistungen dieser neuen „Schule" des Dokumentarfilms das anspruchsvolle Wort Kunstform benutzte, sei dadurch zu rechtfertigen, daß - um nur ein Beispiel herauszugreifen - in dem berühmt gewordenen Film „Night-Mail" eben nicht nur die sachliche Aufgabe gelöst ist, den allnächtlichen Postverkehr zwischen London und Schottland zu schildern.

Zwar wird die Sortierung der Post, der Abwurf und Auffang der Säcke auf Durchgangsstationen und das sonstige komplizierte Räderwerk anschaulich gemacht, das nun einmal zur Organisation eines modernen Postverkehrs gehört; aber es wird darüber hinaus aus dem scheinbar so nüchternen Material eine veritable „Dichtung" gemacht, indem nicht nur der äußere Rythmus des durch die Nacht stampfenden Expreßzuges lebendig wird, sondern der ordnende Rhythmus, der das Tempo unserer Zeit bändigt und lenkt. Es ist bezeichnend, daß man für die Texte den Dichter W.H.Auden und für die Musik Benjamin Britten zuzog.

Robert Flaherty wollte keine Berufsschauspieler

Von den großen Regisseuren der Filmgeschichte hat Robert Flaherty mehr als irgend ein anderer die Brücke vom Stumm- zum Tonfilm und vom Dokumentär- zum Spielfilm gefunden. Daß Flaherty es sich leisten konnte, jahrelang an einem Film zu arbeiten, lag nicht nur an seiner Persönlichkeit, sondern wurde durch die Eigenart seiner Arbeitsweise bestimmt: Flaherty blieb auch in seinen großen Tonfilmen bei dem, von seinen Dokumentarfilmen der Stummfilmzeit übernommenen Grundsatz, nach Möglichkeit keine Berufsschauspieler zu benutzen.

Flaherty - der Einzelgänger

Ob es sich um "Die Männer von Aran" handelte, den unvergeßlichen Film vom harten Lebenskampf des Fischervolkes auf einer einsamen Insel; oder um „Elephant Boy", den Film, für den er nach jahrelanger Motiv- und Menschensuche den jungen Inder Sabu entdeckte und zu einem berühmten Filmstar machte; oder um "Tabu", jenen bezaubernden Südseefilm, den er gemeinsam mit dem großen deutschen Regisseur F. W. Murnau herstellte - immer nahm sich Flaherty Zeit, um sich zunächst mit Land und Leuten vertraut zu machen, und erst dann sein Drehbuch zu schreiben.

Solche Methoden sind natürlich im Rahmen einer für die Spielfilmherstellung eines Großkonzerns nötigen Planung unmöglich; sie wären auch unerwünscht, denn die Arbeit eines ausgesprochenen Einzelgängers wie Flaherty kann nicht der Maßstab für die organisatorischen, und stofflichen Richtlinien sein, die man für die Durchschnittsproduktion und auch für die meisten Spitzenwerke eines Filmbetriebs benötigt.

Spielfilme und Dokumentarfilm ohne Handlungsfaden

Im Stofflichen freilich ist die Spielfilmproduktion der letzten beiden Jahrzehnte nicht unerheblich von eigenwilligen Künstlern wie Flaherty, sowie auch von der „reinen", also auf einen erfundenen Handlungsfaden verzichtenden Dokumentarfilmproduktion beeinflußt worden.

Die Richtung zum Realismus machte sich also im anglo-amerikanischen Sprachbereich schon gegen Ende der dreißiger Jahre bemerkbar, also einige Jahre bevor in Italien und auch in Deutschland die Nachkriegsnöte dazu beitrugen, der „neorealistischen" Richtung nicht nur die Form, sondern auch den Stoff zu bieten.

Filme über die Kriegserlebnisse im und nach dem Krieg

Es war selbstverständlich, daß man während des Krieges in England sowie in Amerika Filme machte, die das Kriegserlebnis zum Thema hatten. Man machte solche Filme auch nach dem Kriege, denn man stand auch außerhalb des Kontinents unter jenem mitteleuropäischen Trümmererlebnis, das für die unmittelbar davon Betroffenen auch in künstlerischer Hinsicht richtunggebend wurde.

Es bleibt nun zu untersuchen, wie eine aus Not und Trümmern nicht minder wie aus dem positiven Gefühl einer neuen Zeitwende geborene „Richtung", wie eine aus den Zeitumständen erwachsene Entwicklung weiter ging.

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