Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil I - KAPITEL 04
"DIE GEBURT VON HOLLYWOOD"
Von fremden Federn und unverdientem Weltruhm / Von der „Königin der Engel" nebst Kneipen, Spielhöllen und Bordellen / Von einem Krüppel, den die kalifornische Sonne gesund machte / Vom Glück und Leid eines Ehepaares /Vom allheilenden Segen der Arbeit / Von Bäumchen, die nicht wachsen wollten / Von einer Filmkamera, an die man nicht gedacht hatte
Die Geschichte von Hollywood
Hollywood bekam seinen Namen durch einen Zufall, behielt ihn durch einen Irrtum und verdankt seine Existenz dem Leid und Kummer eines Ehepaares namens Wilcox; und das ist eine Geschichte, die spannender und rührender ist, als manch eine, die später in den Filmateliers von Hollywood ausgeheckt wurde.
Filmateliers von Hollywood ? Das stimmt auch nicht mehr ganz, denn, genaugenommen, schmückt Hollywood sich mit fremden Federn und genießt einen Weltruhm, der ihm nicht mehr zukommt.
Mit wenigen Ausnahmen sind nämlich die berühmten Filmateliers gar nicht mehr in Hollywood; sondern die meisten und größten sind schon seit Jahrzehnten in Culver City, Burbank, Westwood und anderen Vororten, von denen die meisten europäischen Filmfreunde nie etwas gehört haben.
Hollywood die Stadt ihrer Träume
Für sie ist nun einmal Hollywood die Stadt ihrer Träume und wird es ewig bleiben, obschon auch die meisten Filmstars längst nicht mehr dort ansässig sind. Sie haben ihre Villen und ihre Parks mit dem unvermeidlichen Schwimmbassin in Beverly Hills, in Bel Air, in Santa Monica, in Malibu oder in irgendeinem anderen der etwas abseits gelegenen Vororte von Los Angeles.
Aber „Hollywood-Stars" sind sie nun einmal und werden sie ewig bleiben (zumindest solange sie noch „Stars" sind und bis sie in Vergessenheit geraten).
Hollywood - ein Vorort von Los Angeles
Hollywood ist natürlich nur einer von sehr vielen Vororten der großen Stadt Los Angeles, die heute an Umfang schon eine der größten Städte der Welt ist und gewiß den Ehrgeiz hat, auch an Einwohnerzahl New York und London zu überflügeln.
Um das zu erreichen, braucht sie nur brav weiterzumachen wie bisher, also jedes Jahrzehnt ihre Bevölkerung zu verdoppeln oder zu verdreifachen. Das hat sie unentwegt seit der Jahrhundertwende getan, als die Stadt noch bescheidene 100.000 Einwohner zählte.
Aber was geht uns schließlich die Bevölkerungsstatistik von Südkalifornien an? Ich wollte ja erzählen, wie Leid und Kummer eines Ehepaares zur Geburt von Hollywood führte, und das - um im Filmjargon zu bleiben - erfordert eine „Rückblendung" jenseits der Jahrhundertwende.
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Die „Rückblendung" jenseits der Jahrhundertwende
Sehr weit ins vorige Jahrhundert brauchen wir freilich nicht zurückzublenden, denn unsere Geschichte beginnt anfangs der 1890ziger Jahre, also zu einer Zeit, als die Herren Edison, Lumiere, Messter, Skladanowsky, Friese-Greene und viele andere kurz vor dem Ziel waren und als die Stadt Los Angeles noch nicht annähernd jene stolze Bevölkerungsziffer von hunderttausend erreicht hatte.
Damals waren noch keine fünfzig Jahre vergangen, seit die Stadt von Mexiko abgetreten und das Sternenbanner über dem Rathaus gehißt wurde, und damals gab es noch kaum etwas, worauf die Stadt besonders stolz sein konnte, außer allenfalls ihren ursprünglichen mexikanischen Namen "Nuestra Senora la Reina de los Angeles"; ein pompöser, aber etwas unpassender Name, wenn man bedenkt, daß die „Königin der Engel" eigentlich nur dafür bemerkenswert war, daß sie in der Kriminalstatistik an der Spitze marschierte und daß sie pro Kopf der Bevölkerung mehr Kneipen, Bordelle und Spielhöllen zählte, als irgendeine andere Stadt der Vereinigten Staaten.
1880 - Ende des Goldrausches
Gegen Ende der achtziger Jahre war der Goldrausch versiegt, der allerhand zweifelhafte Existenzen angelockt hatte, und anfangs der neunziger Jahre konnte man sich nachts schon ziemlich unbesorgt aus dem Haus wagen, ohne sich eine Pistole einzustecken oder sich von einem kräftigen Wachmann durch die berüchtigteren Stadtviertel geleiten zu lassen.
In jenen Jahren begann es sich in den Vereinigten Staaten herumzusprechen, daß Sonne gesundheitsfördernd ist, und immer mehr Amerikaner verwirklichten den schönen Traum, sich zum Genuß ihres Lebensabends in das sonnige Kalifornien zurückzuziehen.
Es waren pensionierte Beamte, Witwer oder alte Pärchen, die ihren Laden zugemacht hatten; also „Sechser-Rentiers", die gerade genug beiseite gelegt hatten, um ihren Lebensabend in bescheidener Behaglichkeit zu verbringen und in einer der vielen preiswerten Hotelpensionen abzusteigen, die es nunmehr in Los Angeles gab, um dem wachsenden Zuzug Rechnung zu tragen.
Mr. Wilcox "fährt vor"
Nicht so unser Mr. Wilcox: als der vor dem besten Hotel der Stadt vorfuhr, hatten die an ihren Neuankömmlingen jederzeit interessierten Angelinos wirklich etwas zum Gaffen und ein Gesprächsthema, das lange vorhielt.
Seiner eleganten Equipage folgte eine Karosse, die schwer mit vielen Lederkoffern und anderem Gepäck beladen war. Während er dem um das Gepäck bemühten Hotelpersonal ruhige und bestimmte Anweisungen gab, blieb Mr. Wilcox im Wagen sitzen, die Hand mit dem am Ringfinger funkelnden Solitär auf dem Silberknauf seines starken Ebenholzstockes.
Er hatte ein feines Gesicht und einen schönen, ausdrucksvollen Kopf mit leicht angegrauten Schläfen. Er konnte höchstens Mitte Vierzig sein, und die schöne Frau an seiner Seite, mit großstädtischer Eleganz gekleidet, war gewiß erst Anfang Dreißig.
Endlich waren die vielen Gepäckstücke abgeladen, und jetzt erst winkte Mr. Wilcox seinem Kammerdiener, der neben dem Kutscher saß.
Mr. Wilcox konnte nicht gehen
Eifrig sprang der Diener vom Bock und half seinem Herrn aus dem Wagen, und jetzt gab es eine weitere Überraschung für die staunenden Einwohner: dieser Mr. Wilcox, der im teuersten Hotel eine ganze Zimmerflucht gemietet hatte, war ein Krüppel.
Er wurde von seinen Dienern ins Hotel getragen, während seine schöne, junge Frau mit unverkennbarer Fürsorge, aber in vollendeter Haltung an seiner Seite schritt.
Genau wie so viele andere Neuankömmlinge war auch Mr. Wilcox des milden Klimas wegen nach Los Angeles gekommen, und genau wie sie hatte auch er sein Schäfchen ins trockene gebracht, bevor er sich nach Kalifornien zurückzog. Ein „Sechser-Rentier" war er freilich nicht, aber er war keineswegs sehr reich, zumindest nicht nach New Yorker Begriffen.
Mr. Wilcox hatte ein Gespür für die Zukunft
Immerhin, Mr. Wilcox war ein recht wohlhabender Herr, und nachdem er sich in einer von seiner Frau sehr geschmackvoll eingerichteten Villa niedergelassen hatte, begann er sein Geld mit Umsicht und Verstand anzulegen: vorwiegend in Grundbesitz in dem noch völlig unbebauten Brachland zwischen der Stadt und der Westküste.
Er wußte, daß große Städte in westlicher Richtung zu wachsen pflegen, und da es einige 20 bis 30km westlich einen sehr hübschen Strand des Stillen Ozeans gab, sagte sich Mr. Wilcox, daß er kaum fehlgehen könnte, wenn er für wenig Geld große Streifen des dazwischenliegenden Brachlandes aufkaufte. Keine schlechte Spekulation, wenn man bedenkt, daß es noch zwanzig Jahre dauern würde, bis Los Angeles durch den Bau des Hafens von San Pedro auch eine der großen und bald eine der allergrößten Hafenstädte der Welt werden sollte.
Der Glaube an die glorreiche Zukunft dieses Landes
Aber es war nicht nur der Scharfblick des weitsichtigen und großzügigen Kaufmannes, der für diese langfristigen Grundstücksspekulationen des Mr. Wilcox den Ausschlag gab: eher war es sein Stolz auf das Neuland, das er sich selbst zur Heimat gewählt hatte, sein fester Glaube an eine glorreiche Zukunft dieses Landes und seine Dankbarkeit für das ihm segensreiche Klima der neuen Heimat.
Für den Gesundheitszustand des Mr. Wilcox schien das vielgelobte Klima tatsächlich Wunder gewirkt zu haben; er fühlte sich von Tag zu Tag wohler, und da seine geschäftlichen Unternehmungen nicht allzuviel Zeit in Anspruch nahmen, empfand er bald das Bedürfnis, seinem wachsenden Tätigkeitsdrang größere Wirkungsfelder zu eröffnen.
Er nahm mit freudigem Eifer eine Menge ehrenamtlicher Posten an, er saß in vielen Ausschüssen und Aufsichtsräten, er stand der rapide wachsenden Stadtverwaltung mit Rat und Tat zur Verfügung, und die Stadtväter machten gern und dankbar Gebrauch von der gesunden Urteilskraft und geschäftlichen Erfahrung ihres neuen Mitbürgers.
Das Ehepaar Wilcox bekommt Nachwuchs
Das Ehepaar Wilcox hatte also allen Grund, zufrieden zu sein, und nach einigen Jahren eines so angenehm nützlichen und allseitig befriedigenden Lebens sollte ihnen ein noch größeres Glück beschieden sein: für die beiden war es das größte Glück ihres Lebens, ein Glückstraum, dessen Erfüllung sie schon seit vielen Jahren nicht mehr zu erhoffenwagten: ein Kind wurde ihnen geboren, ein kerngesundes Baby, das sich zu einem bezaubernden kleinen Jungen entwickelte.
Man wird es verstehen und in Anbetracht der Umstände begreiflich finden, wenn der schon fünfzigjährige Mr. Wilcox in seinem Vaterglück und Vaterstolz sich noch etwas närrischer benahm, als man es üblicherweise von einem Mann erwartet, dem im fortgeschrittenen Alter unverhoffte Vaterfreuden beschert sind.
Neue Gedanken und die Arbeitssucht
Für das Ehepaar Wilcox bedeutete die Geburt des Kindes eine Umwälzung ihres Lebens, eine Umwertung aller Werte. Behaglich satte Zufriedenheit war in ein Glücksgefühl verwandelt, so verzehrend, daß es bisweilen untragbar schien; der Stolz auf ehrenamtliche Posten gewann ein anderes Gesicht und eine ganz neue Bedeutung für den Vater eines Sohnes.
Gelassene Betätigung wich einem hemmungslosen Arbeitsfieber: denn an gelegentlichen Grundstücksspekulationen mochte wohl ein kinderloser Rentier Genüge finden, nicht aber ein Familienvater, der an seinen Sohn und Erben zu denken hatte.
Es könnte eine glänzende Zukunft werden.
Wilcox ging also jetzt mit fieberhafter Energie und kluger Methodik daran, seine Liegenschaften zwischen Stadt und Meer erheblich zu erweitern und zu arrondieren.
Schließlich wußte er jetzt, wofür er arbeitete, er hatte einen Sohn, der das vom Vater Ererbte den eigenen Kindern und Kindeskindern hinterlassen würde.
Wilcox wußte, daß man seinen kleinen Jungen in Stadt und Umgebung lächelnd „Kronprinz von Kalifornien" nannte, und er hörte das gar nicht ungern. Sollten die Leute doch getrost ihre kleinen Scherze machen, so sagte er zu seiner Frau; er seinerseits würde schon dafür sorgen, daß der Scherz nicht gar so fern der Wirklichkeit bliebe.
Waren nicht schon heute die Domänen, die der Kleine einst erben würde, mindestens so groß wie manches kleine Fürstentum im fernen Europa, das geruhsam und unvergrößerlich auf die Thronbesteigung des Kronprinzen wartete?
Dann der Schicksalsschlag - der Sohn stirbt
Der Junge starb ganz plötzlich, kurz nach seinem dritten Geburtstag. Für den Vater war der Schlag so fürchterlich, der Schmerz so abgrundtief, daß die Leute glaubten, der Mann würde den Verstand verlieren oder sich umbringen, und ohne die Frau an seiner Seite hätte er das wohl getan.
Das Ehepaar schloß das große, schöne Haus, das in den letzten Jahren die Stätte so vieler festlicher Geselligkeit gewesen war. Wilcox schloß sein Büro und trat von allen seinen Ehrenämtern und Aufsichtsratsposten zurück. Das unglückliche Ehepaar verschloß sich in seinem Schmerz, verriegelte sich jedem Trost der Außenwelt und quälte sich immer und immer wieder mit der einen Frage, auf die es keine Antwort gab.
Kurz vor dem Wahnsinn - die neue Arbeitssucht
Nach einiger Zeit, wiederum dank der Frau an seiner Seite, sah Wilcox ein, daß so anhaltend selbstquälerischer Schmerz zum Wahnsinn führen mußte, und er griff zu dem einzigen Mittel, seinen Verstand zu retten: er stürzte sich in die Arbeit.
Wenn er schon nicht den Sohn zum Leben erwecken konnte, um ihm seinen Besitz zu hinterlassen, so konnte er doch dem toten Besitz den Atem einer lebendigen Gemeinschaft einhauchen, ein stetig wachsendes und unsterbliches Denkmal für den kleinen Knaben, dessen sterbliche Hülle in eben jener zukunftsträchtigen Erde eigenen Neulands gebettet war.
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Dem Knaben ein unsterbliches Denkmal setzen
So wurden die Wilcoxens zu Städteplanern, zu Großgrundstückbesitzern und Bauherren großen Stils. Sie parzellierten ihre Liegenschaften; sie bauten Häuser, Läden und ganze Villenviertel; sie schufen Boulevards, Straßen und Gäßchen; sie pflanzten Parkanlagen und Gärten.
Alles wie im Fieber
Unermüdlich reiste Wilcox durch die anderen siebenundvierzig Staaten der Union, um das gesegnete Klima und die reichen Bodenschätze Kaliforniens anzupreisen. Er setzte alle Beziehungen ein, spannte seinen Kredit aufs äußerste. Er finanzierte Siedler und Orangenzüchter, Unternehmer und Kaufleute, Fabrikanlagen und Ladentische. Er kaufte mehr und mehr Land, verkaufte mehr und mehr parzellierte Liegenschaften, Grundstücke, Häuserblocks und Villen.
Er tat das alles wie im Fieber. Er gönnte sich keine Ruhe, wenig Schlaf und gar keine Freizeit. Er arbeitete wie ein Gehetzter, wie ein Gezeichneter, als ob er wüßte, daß seine Jahre gezählt waren, auch die seiner Frau, die ihn nicht lange überlebte.
Die quasi amtliche Krönung ihres Werkes
Immerhin lebten die beiden lange genug, um die gewissermaßen amtliche Krönung ihres Werkes zu sehen. Sie erlebten den Tag, da ihre ureigenen Domänen, sauber abgerundet, zur Stadt erklärt und im feierlichen Amtsakt in die Großstadt Los Angeles eingemeindet wurden.
Dem Ehepaar Wilcox überließ man das Vorrecht, ihrer eigenen Stadt einen Namen zu geben. Die beiden dachten lange und ernsthaft darüber nach und verwarfen viele Vorschläge und eigene Ideen; es wollte ihnen durchaus nichts Passendes einfallen, und als nicht mehr länger gezögert werden konnte, einigten sie sich auf den Namen eines Landhauses in der Nähe von Chikago, das ihnen in angenehmer Erinnerung war.
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Dieses Landhaus hieß „Hollywood".
Ein paar Wochen später fiel es Wilcox ein, daß jenes Landhaus seinen Namen der Tatsache verdankte, daß im Garten eine ganze Menge „Holly-Trees" gepflanzt waren, jene kleinen Stechpalmen, die man besonders häufig in England und Schottland findet, wo die Zweige nach alter Überlieferung zum Weihnachtsschmuck gehören.
Da nun Mr. Wilcox ein gewissenhafter und methodisch denkender Mann war, beschloß er, nachträglich den Namen seiner Stadt zu rechtfertigen, und er gab eine Menge Geld dafür aus, viele Hunderte von „Holly-Trees" aus England und Schottland zu importieren und sie nach einem sorglich durchdachten Plan an verschiedenen Stellen seiner neuen Stadt anzupflanzen. Aber die Bäumchen wollten in dem ungeeigneten Boden und subtropischen Klima nicht gedeihen.
Hier versagte die gesundheitsfördernde Wirkung jenes gesegneten und vielgerühmten Klimas. Die Bäumchen gingen alle ein. Es gibt also keine „Holly-Trees" mehr in Hollywood und wird dort nie welche geben. Aber der Name war nun einmal da; er blieb und wird wohl ewig bleiben.
Für Mr. Wilcox dürfte das Versagen seiner Bäumchen eine der minderen Enttäuschungen seines Lebens gewesen sein; er ist ohnehin ein paar Monate später gestorben, fast genau ein Jahr bevor die erste Filmkamera in Hollywood aufgestellt wurde.
Das war wohl die einzige Propagierungsmöglichkeit seiner Stadt, an die der sonst so rührige und einfallsreiche Mann nie gedacht hat.