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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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Diese verdammten Amis! und einmal Pech

Auf der Mitte der Landstraße westwärts wandernd, die Hände im Nacken verschränkt, schielte ich links und rechts nach den GIs, die unter den Straßenbäumen auf Gummisohlen lautlos nach Osten marschierten.

Mit der Zeit wurden mir die Arme müde; ich nahm die Hände herunter und schob sie wieder in die Riemen meines Rucksacks. Es interessierte die Eroberer nicht. Ich war der einzige deutsche Zivilist, der ihnen entgegenwanderte - keine Gefahr.

So problemlos, ja harmlos hatte ich mir den Übergang vom Nationalsozialismus zur Autokratie, also der »Geldherrschaft«, wie Hitler das angelsächsische Wirtschaftssystem beharrlich nannte, nicht vorgestellt.

Keine Spur von Feindseligkeit. Wahrscheinlich hielten sie mich mit meiner verbundenen Hand für einen Verwundeten, auf jeden Fall für einen Jugendlichen noch. Ein Glück, daß sie nicht in meine Socken schauen konnten, wo der Marschbefehl für den »Werwolf Will Tremper« steckte. Wie konnte ich den bloß unauffällig loswerden?

Irgendwann hörte die Allee auf, hörte auch die endlose Schützenkette der GIs auf, und ich beschloß, neben einem Straßenschild, auf dem »Nach Zeitz 12 Kilometer« stand, den Abhang hinunterzurutschen.
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In den Händen der AMIs wude es ernst

Leider beeilte ich mich dabei so, daß ich nicht mehr stoppen konnte, ohne aufzufallen, als ich fünf Meter tiefer einen amerikanischen Jeep mit drei Offizieren und einem Fahrer stehen sah. Die blickten empor, bemerkten mein Zögern und winkten mich herab.

Ich rutschte ihnen entgegen und muß wie das leibhaftige schlechte Gewissen gewirkt haben, denn sie brüllten mich in einem Englisch an, das ich in der Aufregung nicht verstand, bedrohten mich mit Pistolen, tasteten mich von oben bis unten ab und forderten mich schließlich auf, mich nackt auszuziehen.

Wenn ich nicht von Haus aus so ein Amerika-Enthusiast gewesen wäre, hätte ich in der nächsten halben Stunde meine Sympathie für »die Amis« gründlich verlieren können.

Die drei Offizierstypen - einer sprach Deutsch - nahmen mich in ein Verhör, als hätten sie einen KZ-Kommandanten gefangen. Wo ich herkäme? Wo ich hinwollte? Ob ich SS-Mann sei? Vielleicht ein Werwolf? Ich weiß nicht mehr, was ich ihnen alles erzählt habe, aber ich ritt mich immer tiefer in die Scheiße.

Sie müssen die Todesangst in meinen Augen gesehen haben, denn ihr Fahrer kniete vor meinem Bündel Klamotten und suchte zentimeterweise das Futter meiner Hose ab, tastete am Hemdkragen entlang, hielt die dünne Windjacke gegen das Licht des Himmels - ich konnte mir ausrechnen, wann er sich an die Socken machen und den Werwolf-Marschbefehl finden würde.
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I told you - he's a Nazi swine!

Meine Angst schürte ihren Sadismus, und das war meine Rettung: Der Deutschsprechende fand in meinen Papieren den Hausausweis der Reichsjugendführung mit dem stolzen Hoheitsadler drauf und schrie triumphierend: »I told you - he's a Nazi swine! He's a Nazi leader! A murderous little Nazi gangster!«

Das »Swine« sprach er in der Aufregung schon deutsch aus: »Schwein!« Und bevor noch der Fahrer meine Socken in Augenschein nehmen konnte, sprang er vom Jeep, griff nach seinem Gewehr und schrie mich auf deutsch an: »Du Nazi! Du dreckiger kleiner Nazi! Ich lege dich um! Dreh dich um! Du wirst erschossen! Ich erschieße dich!« Und den anderen schrie er zu: »Let's get rid of him!
Let's shoot the little bastard!«

Worauf auch die beiden anderen Offiziere ihre Gewehre vom Jeep nahmen und mich nackt, wie ich war, aufforderten, ein paar Schritte zur Seite zu gehen und mich umzudrehen. Ich tat ihnen schlotternd den Gefallen, während sie die Schlösser ihrer Gewehre betätigten, die Läufe auf mich richteten und »Turn around!« riefen. Aber umdrehen wollte ich mich nicht, ich wollte ihnen ins Gesicht sehen bei der Erschießung. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen, wie es so unzutreffend heißt.
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Ich wurde dann doch nicht erschossen

Mit nichts hatte ich abgeschlossen, war plötzlich nur von einer entsetzlichen Traurigkeit überwältigt. Ich sah auch nicht in Sekundenschnelle mein ganzes Leben noch einmal an mir vorbeirollen, wie immer behauptet wurde, ich dachte nicht einmal mehr an meine armen Eltern, die nie erfahren würden, wo ihr Altester, irgendwo in Sachsen, zwölf Kilometer vor einem Ort namens Zeitz, verscharrt worden war.

Ich sah sie nur an, meine Mörder, und schrie: »Nein! Nein! Ich dreh' mich nicht um! Ich will euch ins Gesicht sehen dabei!« Ich wehrte mich sogar, schlug um mich, als der Deutschsprechende auf mich zusprang und mich mit dem Gewehrkolben zwingen wollte, mich umzudrehen.

Ich geriet in ein richtiges Handgemenge mit ihm, bekam ein paar kräftige Stöße ab - und dann lachte auf einmal jemand. Einer der beiden anderen Offiziere stellte sein Gewehr in den Jeep zurück und hielt sich den Bauch vor Lachen. Worauf auch der andere und der Fahrer zu lachen begannen und am Ende auch der Deutschsprechende grinsen mußte.

Ich wurde aufgefordert, mein Kleiderbündel und meinen Rucksack zu nehmen, mußte mich nackt auf den Kotflügel des Jeeps setzen, und schon heulte der Motor auf, und es ging in rasender Geschwindigkeit, über Stock und Stein holpernd, zurück auf die Straße und in den nächsten Ort.

Mein Werwolf-Papier hatte ich (zum Glück) immer noch

Dort war auf der grünen Wiese, hinter einem ländlichen Gasthof, mit Stacheldraht ein Quadrat von vielleicht 20 mal 20 Meter als Gefangenensammelplatz hergerichtet worden, in dem höchstens zehn deutsche Soldaten apathisch auf der Erde saßen.

Die Socke mit dem Marschbefehl drin, dachte ich, hatte ich während der Fahrt schon heimlich unter das Vorderrad des Jeeps fallen lassen. Doch ich hatte genau die falsche weggeworfen: Das Werwolf-Papier steckte immer noch in der, die ich jetzt wieder über den Fuß streifte.

Im provisorischen Auffanglager - der Krieg war für mich vorbei

Hier, in diesem provisorischen Auffanglager, hörte ich zum ersten Mal den Namen Truman: Einige Soldaten erzählten sich, daß US-Präsident Roosevelt gestorben war, was ich noch vor meiner Abreise aus Berlin mitbekommen hatte, und rätselten, wie wohl sein Nachfolger sein würde.

Ich fragte den schwarzen Gl, der uns bewachte, mit meinem Schulenglisch: »Who is the next president?« Er antwortete, gummikauend: »Truman.« Und als ich fragte: »How is he?«, hörte er auf zu kauen, starrte mich nur mißtrauisch an und spuckte, sich umdrehend, demonstrativ aus. Diesen schwarzen Ami fand ich nun wieder wundervoll.

Bis zum Abend hatte sich die Wiese mit demoralisierten Gefangenen gefüllt. Wir wurden auf Trucks verladen und nach Naumburg an der Saale gebracht, wo auf einem verwaisten Fabrikgelände schon mehrere tausend deutsche Soldaten stumm im Regen standen.

Der Stolz der 1. Amerikanischen Armee

In dieser Nacht von Sonntag auf Montag schwollen die verletzten Fingerkuppen meiner linken Hand schmerzhaft an, das Blut pochte.

Einer der Landser, neben dem ich frierend auf dem Fabrikhof nächtigte, sah sich die Wunde an und sagte gleichmütig: »Blutvergiftung! Wenn das nicht behandelt wird, kannste die Hand, wenn nicht den ganzen Arm verlieren, Junge!«

Mich notdürftig wieder verbindend, irrte ich stundenlang auf dem Fabrikhof herum und suchte nach Wasser. Wenn ich Wasser drüberlaufen lasse, glaubte ich, kann ich die Vergiftung herausspülen. Aber es gab kein Wasser, es gab auf dem ganzen Fabrikgelände, auf dem sich in der Nacht über 6000 Gefangene versammelt hatten, eine einzige, tröpfelnde Wasserleitung, vor der eine unheimlich lange Kette Soldaten mit der Feldflasche in der Hand Schlange stand.

Blutvergiftung an der Hand - es wurde noch "ernster"

Ein Sanitäter, der nichts an Verbandmaterial mehr besaß, sah sich meine Finger an und kam zu demselben Schluß: Blutvergiftung! »Wenn ich ein Messer hätte«, sagte er, »könnte ich dir die Wunden aufstechen. Diese verdammten Amerikaner wollen ja, daß wir hier alle verrecken!«

Auch zu essen besaß ich nichts mehr, ich hatte nachts im Heuschober die letzte Rindfleischbüchse verfuttert. Den halben Vormittag lang trieb ich mich vor dem Stacheldraht am Fabriktor herum, hielt meine pochende Hand hoch und schrie den Wachtposten zu: »Poison! Poison! Blood poison!« Sie guckten weg, die Mörder!

Auch starb ich vor Durst, als ich erst mal merkte, daß die Riesenschlange vor der einsamen Wasserleitung sich überhaupt nicht vorwärtsbewegen wollte. Als mir der hilfreiche Sanitäter gegen elf Uhr wieder über den Weg lief und meine Finger betrachtete, deutete er auf eine rote Stelle im Handballen und sagte: »Wenn das bis heute abend nicht aufgemacht wird, ist die Hand weg!«

Ich hatte eine Scherbe gefunden, mehr ein Glassplitterchen, und drängte ihn, mir damit die Wunden aufzuschneiden. »Bist du verrückt?« sagte er. »Das muß desinfiziert werden, sonst vergiftest du dich ja noch mehr!«
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Ich griff jetzt zu meiner "Wunderwaffe", dem Marschbefehl

Da griff ich in meiner Verzweiflung zu meiner Wunderwaffe in der Socke, setzte mich direkt vor den nächsten amerikanischen Wachtposten, holte den Marschbefehl heraus, reichte ihn über den Stacheldraht und rief: »Werwolf! Ich - Werwolf!« Und »I am a Werwolf!«

Fünf Minuten später saß ich in einem Jeep und wurde durch Naumburg gefahren, am Steuer ein Neger, der mich mit hervorquellenden Augen von der Seite musterte, hinter mir zwei Militärpolizisten mit angelegten Maschinenpistolen - und hinter uns eine ganze Karawane von weiteren Jeeps.

Meine "Wunderwaffe" scheint gewirkt zu haben

Wir landeten im Amtsgerichtsgefängnis. Ich wurde beinahe hineingetragen, so hielten mich die MPs von allen Seiten fest. Ständig hörte ich Zurufe: »Wääärwuuullfff! Wäärwuullff!«

Mir war längst alles egal, nur meine Hand wollte ich nicht verlieren. Ich hob sie mit dem baumelnden, blutgetränkten Verbandsstreifen senkrecht hoch und rief immer wieder:»A doctor, please! A doctor! I have blood poison, you understand? Blood poison!«

Im Handumdrehen war ein uniformierter Arzt da, gab mir eine Spritze, die mir den ganzen linken Arm lähmte, schnitt die Wunden auf, gab mir wieder eine Spritze, verband mich königlich und steckte mir zum Schluß noch ein Fieberthermometer in den Mund.

Ich bekam herrliches Sprudelwasser aus einer grünen Büchse zu trinken, einen starken Kaffee, wurde von allen Seiten fotografiert und von einem Dolmetscher nach meinem Befinden gefragt.

Der Arzt kündigte an, daß er abends zu einer Generaluntersuchung wiederkommen würde, und dann hatten alle auf einmal einen Fotoapparat in der Hand und blitzten mich. Sogar ein sogenannter Staff Photographer von »Stars & Stripes« erschien mit einer riesigen Plattenkamera und belichtete mich von allen Seiten.
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Ich staunte nur noch über den Überfluß an Material

Was mich faszinierte, war die Unmenge von Blitzlichtlampen, die sie verbrauchten. Diese Amis hatten es wirklich im Überfluß, gegen die mußten wir ja den Krieg verlieren! Zwischendurch wurde ich ins Nebenzimmer geleitet und an einem weißgedeckten Tisch aufgefordert, eine Suppe, ein Steak mit süßen Kartoffeln und zum Nachtisch einen Maiskolben zu mir zu nehmen.

Dauernd stand einer neben mir und goß die Kaffeetasse voll. Ich wußte nicht, wie mir geschah. Wen glaubten sie gefangen zu haben? Wirklich nur einen Werwolf? Für was für ein hohes Tier hielten die mich?

Dann begann das Verhör, wurde aber gleich wieder abgebrochen, weil einer der Offiziere »Not now!« rief und von einem Special Agent der First Army berichtete, der unterwegs nach Naumburg sei. Ich wurde in eine Einzelzelle des Amtsgerichtsgefängnisses geleitet, wo eine uniformierte deutsche Justizbeamtin noch dabei war, ein Bett frisch zu beziehen, wurde wieder fotografiert, der Militärarzt erschien, schickte alle hinaus, wechselte den Verband, horchte mich ab, und dann durfte ich schlafen. Aber das grelle Licht an der Decke ließen sie die ganze Nacht brennen.
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Geniesse jede Sekunden "deiner Werwolf-Sensation"

Ich schlief mit dem Gedanken ein, jede Minute genießen zu müssen, denn irgendwann würden sie genug von der Werwolf-Sensation haben und mich erschießen, das war mir sonnenklar.

Morgens um sechs schon wurde ich ziemlich grob aus dem Schlaf gerissen und, nur in Hemd und Hose, zum großen Verhör ins Büro gebracht. Dort saßen drei höhere Offiziere und mindestens ebenso viele Dolmetscher, bestimmt ehemalige Deutsche.

Mein Rucksack und alle anderen Habseligkeiten waren auf einem langen Tisch ausgebreitet. Einer der Dolmetscher nahm jedes Stück in die Hand, bezeichnete es mit einem englischen Wort, und ein Stenograph am Ende des Tisches schrieb alles nieder. Es war zum Fürchten wichtigtuerisch.

Ich weiß, daß ich nach kurzem Überlegen meine Personalien genau angab, dann aber, wie ich das in zahllosen Kriegsbüchern gelesen hatte, jede Aussage mit Hinweis auf die Genfer Konvention verweigerte.
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Ich war kein Soldat, ich war ein »Guerilla«

Das schien diese Amis nicht zu überraschen, denn genauso selbstverständlich erklärten sie mir, daß ich nicht zur regulären Truppe gehöre und als »Guerilla« in Zivilkleidung sowieso erschossen werden müsste. Der Krieg sei so gut wie zu Ende, und nur meine bedingungslose Bereitschaft, alles zu sagen, was ich über die Werwolf-Organisation wisse, verschaffe mir mildernde Umstände.

Das alles wurde mir in drohendem Ton mitgeteilt, und als ich mich verstockt zeigte, etwas liebenswürdiger. Dann standen sie alle, samt dem Stenographen, auf und gingen »for a cup of coffee« hinaus. Zurück blieb einer der Deutschsprechenden, ein sehr jüdisch aussehender Glatzkopf, der sich ungemein väterlich gab und mir versicherte, sie wüßten ohnehin alles über den Werwolf, seine Organisation, Gliederung Kampfkraft und Bewaffnung auch die Einsatzpläne befänden sich bereits in der Hand des »G5«, was der Geheimdienst der Army wäre.
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Und dann kam ein General

Ich staunte und hätte ihm beinahe geglaubt. Aber da kamen die anderen zurück und brachten ein ganz hohes Tier mit, einen General wahrscheinlich, obwohl die auch nur ganz einfache Uniformen trugen.

Das hohe Tier betrachtete mich wie einen Außerirdischen, würde man heute sagen, ein Fotograf vom Signal Corps kam atemlos an, machte seine unhandliche Kamera bereit, der »General« stellte sich hinter mich, legte seine Hände auf meine Schultern - Blitz! - und verabschiedete sich auch schon wieder. Das Verhör wurde fortgesetzt.

Das Verhör begann

»Was haben Sie bei der Reichsjugendführung gemacht? Wie war Ihr Dienstrang? Wie hießen Ihre Vorgesetzten? Von wem wurden Sie für den Werwolf rekrutiert? Was haben Sie für eine Ausbildung bekommen? Welche Sprengstoffarten wurden benutzt?«

Stundenlang. Und primitiv. Denn dauernd ließen sie sich demonstrativ Speck und Eier und dampfenden Kaffee servieren, und ich bekam nichts. Nicht mal einen Schluck Wasser. Irgendwann muß ich mich geweigert haben, überhaupt noch etwas zu sagen. Meine Verhörer wechselten sich immer öfter ab und wurden ebenfalls müde.

Ich bekam schließlich etwas zu essen - ein Gl schüttete mir aus C-Rationen wunderbar schmeckenden Mais und Corned Beef auf den Teller, und ich schlang mit den Händen alles hinunter, denn Messer und Gabel bekam ich »aus Sicherheitsgründen« nicht.

Ich landete wieder in der Zelle, schlief sofort ein und wurde nach einer Stunde wieder geweckt. Alles begann von vorne: »Sie heißen?« In meiner Erinnerung verwischt sich das alles ein bißchen, die Drohung, mich in einer Viertelstunde erschießen zu lassen, die Aufforderung noch einen Abschiedsbrief an meine Mutter zu schreiben - bis hin zur Einladung in die US-Army einzutreten, eine Uniform zu bekommen, nach USA gebracht zu werden. Ich sei der Stolz der First Army. Ich hörte ihnen schon gar nicht mehr zu.
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Eine ganz Nacht lang habe ich dann alles erzählt ....

Als es soweit war, daß ich lieber wieder auf dem Fabrikhof unter den deutschen Gefangenen gewesen wäre als in meiner hübschen Einzelzelle, brach ich zusammen und versprach »alles« zu verraten - aber nur dem jüdischen Glatzkopf und unter vier Augen.

Eine ganze Nacht lang habe ich dann diesem »Bobby«, der Robert hieß und mit seinen Eltern 1938 aus Aschaffenburg nach Delaware emigriert war, wirklich »alles« erzählt, von der Schule in Oberlahnstein bis zum Sportbildverlag Spudich in Berlin, von der SS-Standarte Kurt Eggers bis zur Reichsjugendführung im ehemaligen Jonas-Haus, vor allem aber: daß ich überhaupt nicht an den Werwolf glaubte, alles für eine Erfindung von Goebbels hielt.

Dieser Bobby war nicht dumm. Ich sah ihm an, daß er anfing, mir zu glauben. Er brachte mich persönlich am Morgen in die Zelle zurück, klopfte mir auf die Schulter und sagte, ich müßte alles noch einmal dem Stenographen erzählen, sollte mich aber erst ausschlafen. Und tatsächlich: Sie ließen mich den ganzen Tag in Ruhe.

Es war der 18. April 1945 - Alles hatte sich geändert ...

Am Nachmittag stand ich auf dem Zellenbett und guckte aus dem Fenster, sah deutschen Arbeitern zu, die einen Granateneinschlag im Amtsgerichtsgebäude gegenüber mit Steinen und Zement flickten, und erfuhr, als sie um 18 Uhr nach Hause gingen, daß es Mittwoch war, der 18. April.

Die Atmosphäre auf der Schreibstube des kleinen Amtsgerichtsgefängnisses war wie umgewandelt. Der Master Sergeant, der immer nur hinter dem Schreibtisch gesessen und Befehle erteilt hatte, begrüßte mich mit einem wohlwollenden Schlag auf den Rücken, es gab Kaffee und Sandwiches en masse, und ich mußte sogar Autogramme geben, auf Fotos wie auf Zeitungsausschnitten, auf denen ich mit den GIs zu sehen war.

Und die Atmosphäre lockerte sich am Donnerstag und Freitag immer mehr, meine Zellentür wurde nicht mehr verriegelt und das Licht ausgeschaltet, wenn ich schlafen ging. Sie gaben mir sogar eine Army-Hose und ein Paar gebrauchte Stiefel, und als am Samstagnachmittag Punkt 18.00 Uhr die deutschen Arbeiter wieder Spachtel und Kelle fallenließen und über den Hof nach Hause schlurften, schlich ich mich durch den Hinterausgang und gesellte mich zu ihnen, schlenderte mit einem von ihnen mehrere Straßen weit, bis er sich verabschiedete, sprang dann in ein kleines Vorgärtchen und versteckte mich, als sich in rasender Fahrt ein Jeep näherte, hinter einem Fliederbusch.

Ich klingelte an der Tür des Hauses, sagte dem öffnenden jungen Mädchen, ich sei aus dem Gefangenenlager in der Fabrik geflüchtet, und wurde ohne weiteres an die Kaffeetafel gebeten. Hier erlebte ich zum erstenmal, was ich in den kommenden Wochen noch oft mit ansehen mußte - zuletzt auch bei meiner Mutter in Braubach: eine weinende Frau, die mich umsorgte, mir ein Päckchen mit Broten machte und dazu sagte: »Mein Sohn ist auch Soldat. Ich helfe jedem, weil ich möchte, daß auch meinem Sohn geholfen wird, wenn er sich auf den Weg nach Hause macht. Glauben Sie, daß er noch lebt?«
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