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Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957

überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"

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Teil I - KAPITEL 08
"NACHKRIEGSTAUMEL UND GRÜNDUNGSFIEBER"

Von der zensurlosen Zeit und ihren Unarten / Vom Reichslichtspielgesetz und seinen Mängeln / Von den Sorgen der Inflation / Von den Devisenträumen der Fabrikanten und der Realität der Kinokasse / Von den Ostermayrs, der Emelka und von Geiselgasteig / Von der Filmstadt Babelsberg und der Decla des Herrn Pommer.

Die Träume der unmittelbaren Nachkriegszeit befriedigen

Große Schinken und sogar noch größere als die, von denen die Rede war, gibt es auch heute und wird es immer geben. Aber die Epoche, in der sie zuerst erschienen und zunächst Selbstzweck waren, war in der Art der Entwicklung des Films begründet, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern wo immer Filme hergestellt wurden.

Daß man freilich gerade in Deutschland auch in der Nachkriegszeit, und zwar ganz besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit, damit fortfuhr, das hatte mindestens einen Grund, der nur aus den damaligen deutschen Verhältnissen zu erklären ist.

Die Inflation bremste alles aus

Es herrschte ja eine Inflation, die zunächst von Monat zu Monat, dann von Woche zu Woche und schließlich von Tag zu Tag schlimmer wurde. Der Deutsche konnte also nicht ins Ausland reisen, weil ihm die böse Valuta Fesseln anlegte.

Da es nun aber in der menschlichen Natur liegt, sich gerade nach dem zu sehnen, was einem momentan unerreichbar ist, so war nichts natürlicher, als daß man auf den Rüdesheimer Kalkbergen und auf dem neuen Babelsberger Filmgelände Indien und andere ferne Länder aufbaute. Je ferner und exotischer, desto lieber.

Auch darauf sollte später die natürliche Reaktion nicht ausbleiben, denn bald wurde dem Publikum das Übermaß an exotischem Pappmache zuwider; man ging also, sobald es devisentechnisch möglich war, auf Weltreisen, um serienweise Abenteuerfilme zu drehen, mit „echten" Außenaufnahmen in aller Herren Ländern.

Zensurfreie Filme im wirtschaftlichen, politischen Chaos

Aber so weit sind wir noch nicht. Wir sind noch „valutagebunden", im Deutschland der ersten beiden Nachkriegsjahre - eine Periode, der die meisten Historiker heute noch stirnrunzelnd eine schlechte Note geben.

„Moralischer Tiefstand", „Verrohung und Verderbnis der Jugend", „Lockerung der Sitten" - das sind einige der Stichworte, die man auf solchen schlechten Zensuren findet.

Wer sich freilich nicht anmaßen möchte, den strengen Sittenrichter zu spielen, wird sich lieber darum bemühen, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ursachen jenes unleugbaren moralischen Tiefstandes zu ergründen, und wenn er dabei auf die Tatsache stößt, daß in jener allzu ungebundenen Zeit auch die Zensur völlig abgeschafft war, braucht er nicht viel Phantasie, um sich das Resultat solcher zensurfreien Filme vorzustellen.

Aufklärungsfilme am laufenden Band

Es gab Aufklärungsfilme am laufenden Band über Prostitution, die gleichgeschlechtliche Liebe und die Gefahr der Geschlechtskrankheiten, und was auch das Thema war, es fehlte nie eine Gelegenheit, Bar- und Bordellszenen zu zeigen nebst entsprechender Fleischbeschau und Reizwäsche.

Davon gab es meistens viel mehr, als das Thema bedingt hätte, und fast immer viel geschmackloser, als man es auf die Dauer selbst einem weder besonders prüden noch besonders anspruchsvollen Publikum zumuten konnte.

Das Reichslichtspielgesetz von 1920

Diese sehr kurze und vielfach stark aufgebauschte Periode der deutschen Filmgeschichte hätte sich auch ohne gesetzlichen Eingriff totgelaufen. Aber sie hatte die Folge, daß der Reichstag - oder vielmehr die Nationalversammlung, wie es damals noch hieß - sich in langen Debatten mit der Filmindustrie beschäftigte und schließlich im Mai 1920 das Reichslichtspielgesetz verabschiedete.

Eine hübsche parlamentarische Stilblüte

Ich habe einige dieser Debatten von der Pressetribüne aus mitangehört und wurde Ohrenzeuge einer hübschen parlamentarischen Stilblüte, die von erheblicher, wenn auch leider negativer Symtomatik war.

Sie wurde von einer Abgeordneten geäußert, deren Namen ich vergessen habe; wohl aber habe ich noch das tönende Pathos im Ohr, mit dem sie dem Hohen Hause den Satz hinschmetterte: „Meine Herren Abgeordneten, die Nationalversammlung darf am Kino nicht vorübergehen!"

Anmerkung : Also auch die Abgeordneten sollten mal einen Pornofilm anschaun.
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Eigentlich gabs gar nicht viel zu lachen

Wir haben damals herzlich gelacht, obschon nicht zu leugnen war, daß die Nationalversammlung leider durchaus „am Kino vorüberging", und obschon es darüber nicht viel zu lachen gab, weder für das deutsche Filmpublikum noch für die junge deutsche Filmindustrie.

Diese wurde zwar über den Gesetzentwurf befragt, aber sie wurde so spät gefragt, daß sie nicht recht zum Zuge kam, außer allenfalls eines Vormittags in einer überfüllten Protestversammlung im Berliner UFA-Palast am Zoo.

Tür und Tor für lokale Gängelung geöffnet

Aber da war das Gesetz schon über eine Woche in Kraft, und die Industrie mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß Kindern unter 12 Jahren der Kinobesuch überhaupt verboten war und daß jede Filmvorführung erst durch eine der beiden Prüfstellen in Berlin und München und durch die Berliner Oberprüfstelle genehmigt werden mußte.

Ein System, gegen das zwar grundsätzlich und theoretisch nichts einzuwenden war, das aber in der Praxis manches zu wünschen übrig ließ und regional sehr unterschiedlich gehandhabt wurde.

Der Schaden war doch recht groß und hinkte hinterher

Was die Industrie wünschte (und leider nicht bekam), war eine Art freiwilliger Selbstzensur, nicht unähnlich derjenigen, die heutzutage in der Bundesrepublik ausgeübt wird.

Und warum war das damals nicht möglich? Vor allem, weil man sich durch die „Aufklärungsfilme" in schlechten Ruf gebracht hatte, und obschon diese Periode einer allzu unbedenklichen Hemmungslosigkeit eigentlich schon ein Jahr nach dem Kriege, spätestens um die Wende 1919/20 ausgelitten hatte, war der Schaden nun einmal geschehen.

Regisseur Richard Oswald und seine Aufklärungsfilme

Immerhin gab es im Jahre 1919 in Preußen ernsthafte Bemühungen der Industrieverbände, eine freiwillige Selbstzensur zu erreichen, und es gab auch schon in einzelnen Ländern regionale Zensurvorschriften; aber all das wurde ja bald überholt, als es durch das Reichslichtspielgesetz zu einer einheitlichen Regelung kam.

Da diese Gesetzgebung mittelbar oder unmittelbar durch die Flut der „Aufklärungsfilme" veranlaßt wurde und da in diesem Zusammenhang Richard Oswald von fast jedem Filmhistoriker als einziger Sündenbock genannt wird, so sei dieser immerhin geschichtliche Vorgang hier erwähnt.

Richtig ist zweifellos die Tatsache, daß der Regisseur Richard Oswald sehr viele Aufklärungsfilme hergestellt hat; richtig ist aber auch, daß die Oswaldschen keineswegs die einzigen Filme dieser Art waren und bei weitem nicht die geschmacklosesten, daß sie aber die einzigen waren, deren „ Aufklärungs"-Tendenz von amtlichen Stellen und von renommierten Wissenschaftlern bestätigt wurde.

Entschuldigung oder mildernder Umstand

Ob ich das als Entschuldigung gelten lassen will ? Keineswegs; allenfalls als mildernden Umstand. Man darf aber auch nicht übersehen, daß Oswald nicht nur nach seinem Anteil an jener kurzen und unerfreulichen Epoche beurteilt werden kann, sondern auch nach seiner späteren Leistung, die aus der Geschichte des deutschen Stummfilms nicht wegzudenken ist.

"Das Haus in der Dragonergasse"

So ist etwa sein Film "Das Haus in der Dragonergasse" bemerkenswert nicht nur durch die große schauspielerische Leistung von Werner Krauß, sondern auch durch die Tatsache, daß dieser spannende Kriminalfilm in drei oder vier Tagen gedreht wurde nach einem auf der Fahrt ins Atelier improvisierten Manuskript.

Nicht minder „filmhistorisch" ist die Tatsache, daß fast unmittelbar nach jenem Schnelligkeitsrekord derselbe Regisseur den umgekehrten Rekord brach, indem er mit "Lady Hamilton" 120 Drehtage im Atelier blieb.

In England boykottiert - weil er den Held frisiert hatte

Also wieder einer der großen Schinken? Ja, das war er gewiß; aber erwähnenswert ist er, weil es der erste deutsche Film war, der zu einer internationalen Kontroverse führte.

Der Film wurde nämlich in England boykottiert und heftig angegriffen, weil Oswald sich die „dichterische Freiheit" erlaubt hatte, die Geschichte und die Persönlichkeit des englischen Nationalhelden Admiral Nelson etwas zu „frisieren".

Auch daß er ihn von Conrad Veidt spielen ließ, nahm man ihm übel, denn der Sieger von Trafalgar war bekanntlich klein und untersetzt, was man von Connie beim besten Willen nicht behaupten konnte.

Der Hauptgrund war eine alte englische Schateke

Der Hauptgrund der englischen Verärgerung war wohl aber in der Besetzung der Titelrolle zu finden, und da das seinerzeit nie veröffentlicht wurde, will ich im Interesse der Wahrheit feststellen, was mir Richard Oswald aus Hollywood mitteilte.

Er hatte für die Rolle der Lady Hamilton eine sehr berühmte englische Schauspielerin vorgesehen und ließ sie nach Berlin kommen. Als er sie im Adlon aufsuchte - er hatte sie vorher nie gesehen -, empfing sie ihn in einem halbverdunkelten Zimmer, und die Probeaufnahmen des nächsten Tages bestätigten seine Befürchtung, daß die Dame zu alt sei, um Nelsons jugendliche Geliebte zu spielen.

Er schickte sie mit einer beträchtlichen Abfindung nach London zurück, aber die in ihrem Stolz gekränkte Diva mobilisierte sofort ihre einflußreichen Freunde, um den noch ungeborenen Film in England unmöglich zu machen.

Liane Haid bekam die Rolle über Nacht

Inzwischen, wenige Tage vor Drehbeginn, hatte Oswald noch immer keine Lady Hamilton. Es wurden schleunigst Probeaufnahmen von allen verfügbaren Schauspielerinnen gemacht, die für die Rolle in Frage kamen, aber keine gefiel dem Regisseur.

Plötzlich fiel ihm die noch sehr junge und sehr schöne Liane Haid ein (eine der vielen Entdeckungen des Grafen Sascha Kolowrat). Man stellte fest, daß sie in Berlin sei, aber noch am Tage vor Drehbeginn war sie nirgends zu finden. Am nächsten Morgen um sieben Uhr rief Oswald in der Pension an, wo sie abgestiegen war, ließ sie wecken und engagierte die völlig verschlafene junge Künstlerin telephonisch für die größte Rolle ihres Lebens.

Eine halbe Stunde später holte er sie ab und schleppte sie ohne Frühstück zur ersten Kostümprobe. Zwei Stunden später stand sie, fix und fertig geschminkt, im Atelier für die erste Aufnahme.

Wie wurde das alles finanziert ?

Denn es war schon die Zeit der lawinenartig anwachsenden Inflation. Nun, es wurde finanziert mit Ach und (besonders) mit Krach und jedenfalls mit all den nach normalen kaufmännischen Begriffen recht unseriösen Erscheinungen, die in einer so hektischen und wirtschaftlich unstabilen Zeit unvermeidlich waren, gerade weil die Kreditbeschaffung oft zu leicht war und manche Filmaktien viel mehr haussierten, als es ihrem wahren Werte entsprach.

Kein Verhältnis zur wirklichen Mark-Entwertung

Im Jahre 1921 betrug das Aktienkapital der deutschen Filmindustrie M. 98.751.000, ein Jahr später M. 291.118.000 und im Jahre 1923 nicht weniger als M. 722.164.000.

Aber selbst wenn man bedenkt, daß die UFA (die 1920 ihr Kapital von 15 auf 125, und 1921 auf 200 Millionen erhöhte) bei diesen Gesamtziffern der kleineren Firmen nicht berücksichtigt ist, stehen auch diese erheblichen Erhöhungen in keinem Verhältnis zu der wirklichen Mark-Entwertung.

Die Ziffern sind also ziemlich unreal, denn im Jahre 1922, als die Inflation anfing, immer rapider zu steigen, betrug zwar der Kapitalzuwachs für Aktiengesellschaften M. 431.040.000 und für G.m.b.H.s M. 60.156.600.

Im Sommer 1922 - 50 Millionen für einen Film

Aber da im Sommer jenes Jahres die Herstellung eines größeren Films schon zirka 50 Millionen kostete (und bald sehr viel mehr), kann man die erwähnten Nominalbeträge getrost vervielfachen, wenn man den wirklichen Kapitalbedarf der Industrie ermessen will.

Dieser Bedarf wurde natürlich vorwiegend durch Kredite befriedigt, die um so größer wurden, als die Industrie gerade in jener Zeit von einem wahren Gründungsfieber geschüttelt war.

Ein Vergleich mit 1911 und 1915

Die ungesunde Virulenz dieses Fiebers kann man am besten ermessen, wenn man damit die Normalentwicklung etwa zwischen 1911 und 1915 vergleicht. In dieser Zeit haben sich die Fabrikationsbetriebe der deutschen Filmindustrie sehr stetig von 11 bis 36 vermehrt.

Dann begann der kriegsbedingte Bedarf nach einer schleunigen Ankurbelung der Eigenproduktion sich sehr schnell auszuwirken, und im Jahre 1916 war die Gesamtzahl der Betriebe schon fast verdoppelt, um bis zum Jahre 1918 auf 131 anzuwachsen.

Bis dahin war das noch eine halbwegs gesunde Entwicklung, eben weil sie durch den plötzlich anwachsenden Bedarf einer Eigenproduktion bedingt war; aber schon 1919, also im ersten Nachkriegsjahr, begann die Fieberkurve steil anzusteigen, denn die Zahl der Fabrikationsbetriebe stieg auf 245.

Im nächsten Jahr gab es zwar einen kleineu Rückschlag bis zu 230, weil sich die wildesten dieser vielen kleinen Treibhauspflanzen nur ein paar Monate halten konnten, aber in den Jahren 1921/22, als die Inflation immer schlimmer und die Buchführung immer undurchsichtiger wurde, stieg die Zahl der Betriebe in dieser Scheinblüte bis auf 270 und 360.

Die Pleiten vorprogrammiert

Natürlich handelte es sich bei den meisten dieser vielen „Fabrikationsbetriebe" um Pinscherfirmen, die ein paar Jahre später, nach der Stabilisierung der Mark, entweder eingingen oder von den lebensfähigen Konzernen verschluckt wurden.

Aber um einen wirklichen Begriff von den Schwierigkeiten der Nachkriegsperiode zu bekommen, muß man sich die Entwicklung des Kinogewerbes anschauen, denn da gibt es ja keine „Scheinblüte", keine vage Hoffnung auf Millionengewinne, die sich einige Monate später als ein schäbiges Debetsaldo eines geplatzten Produktionsunternehmens entpuppen.

Die harte Realität der Tageskasse

Da gibt es nur die harte Realität der Tageskasse, und wenn man an die sprunghafte Mark- Entwertung in den späteren Stadien der Inflation zurückdenkt, kann man sich heute noch einen Begriff davon machen, wie schwer es damals war, die jeweils nötige Erhöhung der Eintrittspreise den wirtschaftlichen Gegebenheiten und der realen Kaufkraft des Publikums anzupassen.

Die folgende Aufstellung gibt einen guten Begriff davon; sie stammt aus der Berliner „Schauburg", also einem Kino, das zwar ziemlich groß war (1272 Plätze !!), aber doch kein „Luxuskino" des Westens.
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Beispiel : Eintrittkarten der Schauburg Berlin 1922

Datum Parkett Rang Rangloge Sep.-Loge
  Mark Mark Mark Mark
18.8.1922 21 30 37.50 45
2.9.1922 27 36 45 60
15.9.1922 36 42 60 75
29.9.1922 39 54 70 87
30.9.1922 38 53 67 80
1.11.1922 60 80 100 120
12.11.1922 80 90 110 130
28.11.1922 90 120 150 180
3.12.1922 100 120 150 200
18.12.1922 150 150 200 300
25.12.1922 150 200 300 400
3.1.1923 200 300 400 500
19.1.1923 300 400 500 650
27.1.1923 350 450 600 750
28.1.1923 400 500 650 800
11.2.1923 500 600 800 1000
18.2.1923 600 700 900 1200
23.2.1923 700 800 1000 1500
3.3.1923 700 800 1200 1800
17.3.1923 1000 1200 1500 2000
20.4.1923 1300 1500 2000 2200
30.4.1923 1500 2000 2500 3000
1.6.1923 2000 3000 4000 5000
15.6.1923 2500 3500 5000 6000
16.6.1923 3300 4000 5000 7000
22.6.1923 4000 5000 7000 10000
29.6.1923 5000 7000 9000 12000
6.7.1923 6000 7000 10000 15000
13.7.1923 8000 10000 15000 20000
20.7.1923 10000 15000 20000 25000

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Es entsprach nicht der tatsächlichen Teuerung

In weniger als einem Jahr hatte sich also der Preis des billigsten Parkettplatzes von 21 auf 10.000 Mark erhöht; aber wenn man die Mark-Entwertung in jenem Zeitraum berücksichtigt, kann man feststellen, daß die Eintrittspreise immer noch der tatsächlichen Teuerung nachhinkten.

Und um die Wirkung dieser Tatsache auf das Realeinkommen der (Film-) Industrie zu ermessen, muß man bedenken, daß deren wahre Prosperität einzig und allein von der Kinokasse abhängt.

Die Groschen und Markstücke in der Kinokasse

Es ist gewiß ein leichtverständliches Faktum und wird doch oft übersehen, daß die ach so riesigen und so viel gerühmten (oder geschmähten) Kosten eines Films - von dem für die Filmrechte eines „Bestsellers" bezahlten Rekordpreis über die Rohfilmkosten, die teure Stargage, die noch teurere Ateliermiete und die Spesen des Sektfrühstücks, mit dem zum guten Ende die Pressevorstellung gewürzt wird -, daß all das sich aus den Groschen und Markstücken zusammenläppern muß, die in der Kinokasse klimpern.

Der Theaterbesitzer, der allabendlich seinen Kassensturz macht, hat also einen viel realeren Begriff von den Finanzen als der Film-Fabrikant, der Verleiher und der Vertriebsmann - optimistische Herrschaften, die von überfüllten Häusern und sagenhaften Devisenschecks träumen können, bis sie nach einigen Monaten unsanft erwachen und den schönen Traum erst beim nächsten Film weiterträumen. Zwischen ihnen und dem Kinobesitzer gibt es, grob gesagt, einen wesentlichen Unterschied: der Kinobesitzer merkt die Pleite etwas früher, hat also weniger Illusionen.

Das Gründungsfieber war abgeebbt

Kein Wunder, daß in den wilden Nachkriegsjahren die Theaterbesitzer vom Gründungsfieber weniger gepackt wurden als die Fabrikanten und Verleiher.

Die Anzahl der deutschen Kinotheater stieg zwar zwischen 1918 und 1920 von 2.299 bis 3.731 - also von 12 bis zu 20 Kinositzen pro 1.000 Köpfe (oder vielmehr Hinterteile) der Bevölkerung -, aber als dann die Inflation wirklich schlimm wurde, wußten die Kinobesitzer ihren Gründungseifer sehr zu zügeln.

Denn fünf Jahre später (1925), also ein Jahr nach der endgültigen Stabilisierung der Mark, gab es erst 3.878 Kinotheater (22 Sitze pro 1.000); dann stieg die Ziffer rapide auf 4.462 im Jahre 1927 (26 Sitze pro 1.000) und 5.078 in Jahre 1929 (30 Sitze pro 1.000). Womit man dem Saturierungspunkt schon ziemlich nahe war.

Sehr interessant und bezeichnend ist übrigens auch die Entwicklungskurve der Kinotheater in München:

Kalenderjahr Anzahl Kinos
1906 1
1907 11
1908 16
1909 20
1910 21
1911 22
1912 35
1913 45
1914 46
1915 47
1916 49
1917 49
1918 53
1919 61
1920 62
1921 62
1922 56

Erklärung zu den Zahlen

Auch hier sieht man die Zurückhaltung (und sogar den Rückgang) in den Inflationsjahren. Der überraschend schnelle Fortschritt in den Jahren 1912 und 1913 ist übrigens dadurch zu erklären, daß damals endlich eine Polizeiverordnung abgeschafft wurde, welche die Gewerbefreiheit außerordentlich beschränkt hatte.

Ab 1898 im Panoptikum in der Neuhauser Straße

Wenn man freilich die allerersten Münchner Anfänge aufspüren will, muß man erheblich weiter zurückgehen als jene (im Jahrbuch der „Lichtbildbühne" veröffentlichte) Statistik; denn die ersten Filmvorführungen - also die damals üblichen Minutenfilmchen - bekamen die Münchner schon Ende der neunziger Jahre im Panoptikum in der Neuhauser Straße zu sehen. Auch für Münchens späteren Ruhm als die zweite (und zeitweise sogar die erste) Filmstadt des Landes wurde schon frühzeitig, nämlich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, eine recht solide Grundlage geschaffen; denn sie basierte auf einem unveräußerlichen, unversiegbaren und unzerstörbaren Aktivposten, den München in höherem Maße als jede andere Großstadt des Reiches zu bieten hat: schöne Umgebung und schöne Aussichten.

Die Vorteile des Films schon früh erkannt

Die Feriengäste pflegten ja Hunderte von Kilometern zu reisen, um die im Winterschnee und Hochsommer gleichermaßen schöne Landschaft der bayerischen Berge und der bayerischen Seen zu genießen.

Kein Wunder, daß München sich sehr bald zum Produktionszentrum von Landschaftsaufnahmen entwickelte, die sich besonderer Beliebtheit erfreuten. Es war die Zeit, in der man gerade anfing, die noch unerschöpften Möglichkeiten der Filmkamera zu erkennen, und man merkte bald, daß kein Bilderbuch und keine noch so reichhaltige illustrierte Reisebroschüre die Schönheit und die Eigenart einer Landschaft so anschaulich vermitteln kann wie der Film.

Müchner Landschaftsfilme von 1908

Schon im Jahre 1908 begann Martin Kopp von München aus mit der regelmäßigen Herstellung von Landschaftsfilmen. Im Kriege wurde er dann der erste Filmberichter der Bayerischen Armee, und in einer Geschichte des deutschen Films verdient sein Name schon deshalb Erwähnung, weil er bald nach Oskar Messter die erste deutsche Wochenschau herausgab (die „Kinokop-Woche", die vom November 1914 bis Mitte 1915 erschien).

1907 - Das Münchener Filmatelier am Karlsplatz

Aber schon ein Jahr vor Martin Kopp findet man unter den Münchner Filmgründern einen Namen, der sehr bald für die Entwicklung der bayerischen Filmindustrie die gleiche überragende Bedeutung gewinnen sollte wie der Name Sascha Kolowrat in der Geschichte des österreichischen Films.

Im Jahre 1907 eröffnete nämlich Peter Ostermayr am Karlsplatz das erste Münchener Filmatelier. Sein Bruder Franz (der sich unter dem Namen Franz Osten als Regisseur bekannt machte) war daran beteiligt, und zuerst produzierte auch diese Firma fast ausschließlich Landschaftsaufnahmen, die immerhin gut genug waren, um von Gaumont in Vertrieb genommen zu werden: ein ganz hübsches Kompliment, wenn man die damals überragende Marktbeherrschung dieser Firmen bedenkt, die ihrerseits etwa 90% des deutschen Filmbedarfs befriedigten.

Kurz darauf kam auch der dritte Bruder, Ottmar, in die Firma, und im Jahre 1909 gründeten die Ostermayrs die Münchner Kunstfilm, die auch schon Spielfilme herstellte, ohne daß sie der ursprünglichen Domäne der Landschaftsfilme untreu wurde.

Die Münchner Kunstfilm war der Vorläufer der Emelka

Diese Firma war der Vorläufer der Emelka, die jahrzehntelang vom Filmpublikum mit dem Begriff des bayerischen Films verbunden wurde, auch als man sich über die Herkunft des berühmt gewordenen Namens keineswegs mehr klar war.

Es war einfach die sprachbequemere Form der Abkürzung M.L.K., der Münchner Lichtspielkunst, die von den Ostermayrs im Jahre 1918 als G.m.b.H. (mit M. 300.000 Kapital) gegründet und am 1.1.1919 in eine A.G. mit 2 Millionen Kapital umgewandelt wurde.

Gegen Ende dieses Jahres 1919 wurde dann auf dem (schon im Sommer erworbenen) Gelände in Geiselgasteig eine „orientalische Stadt" gebaut, die man „Melka" (M.L.K.!) nannte und wo Peter Ostermayrs jüngerer Bruder Ottmar den Film "Der Brunnen des Wahnsinns" drehte.

Atelieranlagen gab es aber damals in Geiselgasteig noch nicht, und das größte süddeutsche Atelier war immer noch das Bavaria-Atelier in Schwabing, das von Erich Wagowski geleitet wurde.

Aus „Melka" wird die „Emelka"

Im April 1920 wurde das erste Atelier auf dem Geiselgasteig-Gelände fertig, und Franz, der älteste der drei Brüder Ostermayr (Franz Osten), drehte dort den ersten seiner vielen Ganghofer-Filme, "Der Ochsenkrieg".

Aber erst ein paar Monate später, also nach der Fusion mit der Bavaria, wurde aus der „Melka" die „Emelka"; und im Oktober erschien zum erstenmal - und von der Verleihorganisation des Konzerns, der Bayrischen Verleihgesellschaft Fett & Wiesel, angekündigt, - die berühmte Schutzmarke Em-El-Ka mit dem Bavariakopf.

Hier mal ein Blick voraus . . .

Daß später die Bavaria Konkurs machte (und Erich Wagowski Selbstmord beging), daß der Emelka-Konzern zunächst weiterbestand, Peter Ostermayr aber 1923 ausschied und sich in Berlin mit Oskar Messter zusammentat (und u. a. auch die Lucy Doraine Film G.m.b.H. gründete), heißt den Ereignissen vorausgreifen.

Hochbetrieb in den Jahren 1921/22

Zunächst jedenfalls, also in den Jahren 1921/22, wurde in Geiselgasteig nicht nur sehr viel gedreht, sondern auch an den Atelieranlagen weitergebaut. Es herrschte Hochbetrieb, und es wurden sogar in Grünwald und im Nymphenburger Volksgarten ganz neue Ateliers gebaut, die sich freilich nicht lange hielten.

Aber schließlich und endlich war es eine „Gründerzeit", und in Berlin wurde noch erheblich mehr gegründet, umgewandelt und fusioniert.

Aktenstaub und Menschenstaub und Hoffnungen

Die vorhin erwähnten Ziffern genügen, um davon einen ungefähren Begriff zu geben. Was hinter den Ziffern stand, ist größtenteils zu Staub zerfallen - zu Aktenstaub und zu Menschenstaub und zu Schemen von Hoffnungen und Entwürfen, die nicht sehr lange gehegt und auch nicht immer durchgeführt wurden, die sich meist sehr sdmell als vergänglich erwiesen und nicht einmal während ihrer kurzen Lebensspanne als bemerkenswert oder gar bedeutungsvoll galten.

Decla und Bioscop fusionieren - später zur UFA

Aber wenigstens eine jener Fusionen hat sich als sehr bemerkenswert erwiesen und als höchst bedeutungsvoll für die künstlerische und materielle Entwicklung der deutschen Filmindustrie: die Fusion Decla-Bioscop, die ihrerseits mit der UFA fusioniert wurde und künstlerisch wohl die wichtigste der vielen Adoptivtöchter war, die in die immer umfangreichere UFA-Familie aufgenommen wurden.

Was heißt eigentlich "Decla" ?

Dieser klangvolle Firmenname ist nicht minder als die "Emelka" den deutschen Filmfreunden jahrelang ein wohlvertrauter Begriff gewesen, ohne daß man sich über die Herkunft viel den Kopf zerbrach. Die "Decla" war ursprünglich (also vor dem Ersten Weltkrieg) die "Deutsche Eclair Film- & Kinematographen G.m.b.H.", also die deutsche Filiale des drittgrößten der französischen Mammutkonzerne, die vor dem Krieg den Weltmarkt beherrschten.

Dort (oder vielmehr im Wiener Eclair-Büro) hatte nach kurzer Lehrzeit bei Gaumont ein junger Hildesheimer Kaufmannssohn namens Erich Pommer seine Laufbahn begonnen.

Als der Krieg ausbrach, kam er an die Front, wurde dann in Ludendorffs BUFA (Bild- und Filmamt) berufen und ging schließlich für die D.L.G., die von den Ruhrindustriellen finanzierte deutsche Lichtspielgesellschaft, nach dem Balkan. Nach dem Krieg ging er zur Eclair zurück, die in Deutschland Decla hieß, und fusionierte diese mit der ältesten aller deutschen Filmgesellschaften, der Bioscop.

Hintergrund der "Bioscop"

Diese stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert und war jahrelang nebst der Union und der Vitascop eines der größten deutschen Filmunternehmen und eines der wenigen, die schon „vertikal" gegliedert waren, also selbst produzierten und verliehen sowie auch eigenen (Film-) Theaterbesitz hatten.

Die Union und die Vitascop haben sich fusioniert und sind schon bei der Gründung als eines der Hauptaktiven in die UFA gekommen. Auch das Angebot der Bioscop - Kostenpunkt zirka drei Millionen - lag auf jenem Sitzungstisch der Deutschen Bank, auf dem über die UFA-Gründung verhandelt wurde.

Die Bioscop hatte Grundstücke in Babelsberg gekauft

Das Angebot wurde geprüft, gewogen und zu leicht befunden, zumindest für den geforderten Preis. So viel, meinte Herr v. Stauß, seien die Bioscop-Aktiva nicht wert.

Wahrscheinlich hatte er recht, denn die Bioscop hatte sich durch erhebliche Grundstückskäufe in der Gegend von Babelsberg etwas übernommen. Wer konnte damals ahnen, daß drei Jahre später, mit dem Umweg über Erich Pommers Decla, die Bioscop doch noch zur UFA kommen und daß auf eben jenem Gelände einmal der Stolz der UFA, die Filmstadt Babelsberg, entstehen würde ?

Die ersten Babelsberger Atelier-Anlagen

Die ersten Babelsberger Atelier-Anlagen der von der UFA verschmähten Bioscop waren freilich schon längst vorhanden, als Herr v. Stauß sein dickes UFA-Baby auf den Vorstandstisch der Deutschen Bank legte.

Sie waren schon sechs Jahre früher vorhanden, also im Jahre 1911, als Guido Seeber, technischer Leiter der Bioscop und einer der hervorragendsten deutschen Kameramänner, auf die Idee kam, die Bioscop-Filme nicht mehr im Dachatelier in der Chausseestraße zu drehen - wo immerhin ein halbes Dutzend Asta-Nielsen-Filme geschaffen wurden -, sondern lieber damit „ins Grüne" zu gehen, eben nach Babelsberg.

Es wurde erst ein Glashaus gebaut, und etwas später noch eines, und der erste große Film, der dort zur Welt kam, war Wegeners "Student von Prag".

"Das Kabinett des Dr. Caligari" kam noch aus Berlin Weißensee

Dann wurde noch das angrenzende, sehr große Gelände von zirka 40.000 Quadratmetern für Freibauten aufgekauft.

Vielleicht hatte sich die Bioscop damit wirklich etwas übernommen; jedenfalls kam die Fusion mit der (ihrerseits erst mit Meinert fusionierten) Decla gerade ein paar Monate zu spät, um einen der wichtigsten und interessantesten Filme des neuen künstlerischen Chefs schon in Babelsberg zu drehen.

Diesen Film ließ Erich Pommer also noch im alten Lixi-Atelier in Weißensee herstellen, und es wird darüber im nächsten Kapitel noch einiges zu sagen sein. Es war ein Film mit dem seltsamen Titel "Das Kabinett des Dr. Caligari".

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