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Will Tremper - "Große Klappe" - Meine Filmjahre (aus 1997/98)

Wie damals in Deutschland die Filme "gemacht" wurden und was nicht in den Filmheftchen und auf den Filmplakaten geschrieben stand. Auch vom Weg von der Ideenfindung über das Drehbuch bis zum ersten Drehtag wird viel aus der Schule geplaudert. Und sebstverständlich kommen bei Will Tremper auch die Filmsternchen - auch dei männlichen - nicht zu kurz. Die erste Seite beginnt hier .....

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Die Zeit lief uns auf und davon

Es war Sommer, als ich "Flucht nach Berlin" zu drehen begann, Ende August 1960, und Sommer war auch die Jahreszeit im Roman. Doch während wir so vor uns hindrehten, wurde es Herbst, die Blätter fielen, und als wir endlich das richtige »Ostzonen-Dorf« gefunden hatten, sah es kahl aus.
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Blätter an die Bäume kleben

Was nun? Roman und Film spielten in einem Zeitraum von einer Woche, in dem sich die Landschaft unmöglich so radikal verändert haben konnte. Wie beim Film üblich, hatten wir nicht chronologisch, der Handlung folgend, gedreht, sondern, da wir schon mal in Berlin waren, das letzte Drittel des Films zuerst: Die Ankunft der Flüchtlinge an der Havel. Nur der Schluß des Films war also bei herrlichem Sonnenschein »im Kasten«.


Produktionsleiter Karchow war nach Hessen vorausgefahren, um so dicht an der Zonengrenze wie möglich ein heruntergekommenes Dorf zu finden, das als »DDR« gelten konnte.

Er fand es gleich zu Dutzenden, das Zonenrandgebiet schien wirklich ein Notstandsgebiet zu sein.
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Dennoch kein Drehort in Zonengrenzlage

»Aber kein Bürgermeister will uns drehen lassen!« jammerte er am Telefon. »Hab' ich einen überredet, dann hetzt der Pfarrer die Gemeinde auf! Schon zweimal haben Bauern ihre Hunde auf mich losgelassen. Sobald die hören, daß es sich um einen Film gegen die Verhältnisse in der DDR handelt, bekommen sie es mit der Angst zu tun! Die Dörfer, die wir brauchen können, liegen alle so zwei bis fünf Kilometer von der Zonengrenze entfernt, und die sagen dort alle: >Was machen wir, wenn die Russen kommen oder die Nationale Volksarmee plötzlich einmarschiert?<«

Ich fand das »unerhört!«, ich war eben noch sehr jung, gerade mal 32 Jahre alt geworden und im Besitz eines geschlossenen Weltbildes, in dem Defätisten keinen Platz hatten.

Ich scheuchte ein paar Bundestagsabgeordnete auf, die genauso empört reagierten und umgehend »Abhilfe schaffen« wollten, aber natürlich geschah überhaupt nichts.
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Frage keine evangelischen Pfarrer, frag die katholischen

Wäre ich älter und erfahrener im Filmgeschäft gewesen, hätte ich mir die Fahrt nach Westdeutschland mit meiner Crew erspart und wäre nach Lübars gegangen, was Karchow mir unentwegt als Ersatz anbot.

Lübars ist das West-Berliner Paradedorf zwischen Hermsdorf und Frohnau, direkt an der nördlichen Grenze zum Sowjetsektor, das damals ständig als Filmkulisse für alle landwirtschaftlichen Themen herhalten mußte. Aber ich war jung und hitzköpfig und entschlossen, für meinen ersten Film durch alle Wände zu marschieren.

Und siehe da: Kaum waren wir im Parkhotel in Bad Hersfeld gelandet, da fand Karchow im benachbarten Fulda einen Bundestagsabgeordneten der CDU, der sich auskannte: »Sie dürfen nicht mit evangelischen Pfarrern reden, die waren alle schon mal bei den Genossen in der DDR und haben ihren dortigen Kirchenräten versprochen, keine >Kalten Krieger< zu werden. Reden Sie mit einem katholischen Pfaffen, das sind militante Antikommunisten!«

Und er wußte auch gleich einen in dem winzigen Dörfchen Wolf, direkt an der Zonengrenze. Beschämt, denn wir waren alle Protestanten, stellten wir uns bei dem kleinen katholischen Priester vor und wurden tatsächlich mit offenen Armen empfangen.

Das ganze Dorf ließ es sich gefallen, daß Doermers »SED-Kader« jedes Haus und jede Tür mit Ulbricht-Plakaten überklebten, mehr noch: Die Bauern von Wolf spielten alle, ob begeistert oder nicht, die Rollen ihrer »Brüder und Schwestern«, wie es so schön hieß, von jenseits der Zonengrenze.

Eine träge und widerwillige Bundesbahnverwaltung in Bebra

Auch die zuständige Bundesbahnverwaltung in Bebra zierte sich zunächst, einem politischen Film »rollendes Material« zur Verfügung zu stellen und verwies auf ihre »gute Zusammenarbeit« mit der Reichsbahn der DDR.

Da es sich um eine beträchtliche Summe handelte, die wir der Bundesbahn für die Zurverfügungstellung eines kompletten Personenzuges hätten zahlen müssen, verzichtete ich schließlich auf das Geschäft und zog mit meinen Leuten nach Münster weiter, wo wir ohnehin Szenen auf einer Weser-Eisenbahnbrücke »über die Elbe« drehen mußten - dort kletterten wir dann einfach in einen fahrplanmäßigen Personenzug und drehten in Windeseile umsonst all das, was uns in Hersfeld viel Geld gekostet hätte.

Ein fingiertes Dienstgespräch vor der Kamera

Karchow beschwatzte sogar den Vorsteher eines kleinen Haltepunktes, uns in seinen Amtsräumen tätig werden zu lassen, und schließlich spielte der sogar sich selbst und führte mit einem Kollegen namens Eugen vor der Kamera ein fingiertes Dienstgespräch, das jedesmal, wenn "Flucht nach Berlin" gezeigt wird, Lachstürme hervorruft.
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Wenn eine alte Bäuerin ihre einzige Kuh mit einer Axt erschlägt

Unvergeßlich wird mir die Szene in einem Kuhstall des Dorfes bleiben, in der eine alte Bäuerin, bevor sie Haus und Hof zurückläßt, ihre einzige Kuh mit einer Axt erschlägt.

Heinz Karchow ging von Haus zu Haus und erklärte, worum es sich handelte, aber die Bäuerinnen von Wolf reagierten nur mit Abscheu auf das Rollenangebot. Sie konnten sich nicht vorstellen, was mir ein geflüchteter Bauer in Berlin berichtet hatte, der seine Kuh tatsächlich erschlug, um sie nach seiner Flucht nicht in einer LPG-Kolchose landen zu sehen.

Schließlich verkleideten wir unseren Produktionsleiter selbst als »alte Bäuerin« und drückten ihm eine Axt in die Hand - aber natürlich hat er die Kuh nicht wirklich erschlagen, sondern nur so getan. Das ist eben Film: Er schwingt die Axt, und die Kamera tut mit einem kräftigen Wackler das übrige, um den Eindruck zu erwecken, daß die Kuh zusammenbricht. Das Ganze dann noch mit dem Ton eines dumpfen Schlages und einem akustisch verzerrten Auf brüllen unterlegt, und jeder Zuschauer schwört, daß er einen kompletten Mord gesehen hat.

Doch die kurze Szene kam im Kino überhaupt nicht an. Ich lernte: Außergewöhnliche Vorkommnisse, die der Zuschauer so noch nie auf der Leinwand erlebt hat, verlangen eine Erklärung, ein vorangehendes Gespräch, in diesem Falle unter den Bauern (»Meine Elsa kriegen die nicht!«), sonst begreift der Zuschauer gar nicht, warum die »Bäuerin« das Tier tötet.

Wir drehten vieles mit Freunden und Bekannten

Überall, wo wir drehten, tauchten auch in Westdeutschland Freunde und Bekannte von weither auf, um mit eigenen Augen zu sehen, was sie in den Zeitungen gelesen hatten, und wurden sofort in die Produktion eingespannt.

Wittigo Graf Einsiedel aus Frankfurt, der Mann unserer letzten Trauzeugin Burgel und ein Vetter des bekannten »Roten Grafen« Heinrich von Einsiedel, sprang eines Morgens in einem langen schwarzen Ledermantel aus seinem BMW, und da er auch noch einen Spitzbart trug, mußte er sogleich die Rolle eines Stasi-Schergen übernehmen, der hinter Doermers »FDJlern« drohend durch das Dorf schlendert. Am nächsten Morgen baute ich ihn in eine Szene ein, die durch seinen Partner Karl Meixner zu einer der eindrucksvollsten des ganzen Films wurde.

Unglaublich authentisch spielte Karl Meixner

Meixner, der große Berliner Schauspieler und Lehrer, gastierte am Staatstheater in Kassel. Von dort holte ich ihn, von dem ich schon die Wohnung am Hohenzollerndamm gemietet hatte, für einen Drehtag ins Dorf Wolf und überraschte ihn mit fünf Drehbuchseiten Text, die er auf der Stelle auswendig lernen mußte.

Dann stellte ich ihn in echtem Bauerndrillich neben einen Misthaufen, Wittigo von Einsiedel gegenüber, der nichts anderes zu tun hatte, als eine Zigarette zu rauchen und indifferent auszusehen, was ihm um so leichter fiel, als er keine Ahnung hatte, was er da spielte.

Im Film wirkte er durch seine Teilnahmslosigkeit unverschämt arrogant, wodurch Meixners Empörung nur noch verständlicher wurde. Der fing, mit der Mistgabel in der Hand, an, dem Stasi-Schergen die Meinung zu sagen, zuerst nur bröckchenweise und stockend, dann in Erregung geratend, immer lauter und leidenschaftlicher werdend, und zum Schluß so schreiend, daß er sich verschluckte und echt in Atemnot geriet.

Es war sensationell, uns Zuschauern lief eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken. Ich hatte Karl Meixner kein Wort gesagt, wie er seine Rolle »anlegen« sollte; in dem langen Monolog stand alles drin. Ich hatte ihm vor der Aufnahme nicht einmal den Text abgehört, ihn nur gefragt, ob er ihn »intus« hätte. Als wir am Ende spontan in wilden Applaus ausbrachen, schielte der große Schauspieler nur ängstlich nach der Kamera und sprach heiser: »Hoffentlich ist alles drauf! Noch einmal kann ich das nicht .«
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Nur wenige wußten, was eine unverblimbte Arriflex ist

Woran ich leider überhaupt nicht gedacht hatte: Wir drehten den ganzen Film ja mit einer einzigen, »stummen«, unverblimbten Arriflex, deren Motorengeräusch auf dem Tonband durch den ganzen langen Monolog hindurch zu hören war. Ich hatte mich mit Günter Haase für die handliche »Stumme« entschieden, um beweglicher zu sein.

Außerdem hatten wir doch nur einen Kameraassistenten - ein »normaler« Spielfim benötigt drei, wenn nicht vier oder fünf -, der unmöglich auch noch eine klobige Tonkamera schleppen konnte. Da ich vorwiegend mit Laien arbeitete, mußte ich den Film sowieso komplett nachsynchronisieren.

Und das stellte sich nun, im Falle des Profis Meixner, als ein echtes Unglück heraus: Karl war, als ich ihn nach Drehschluß zur Sychronisation nach Berlin holte, absolut nicht mehr in der Lage, sein Misthaufen-Glanzstück im dunklen, leeren Synchronstudio zu wiederholen, seine wunderbaren Atemschwierigkeiten fehlten auf den kurzen Filmteilchen, in die ein Film für die Tonsynchronisation zerschnitten werden muß.

Es war eine Tragödie! Ein Synchron-Routinier vom Schloßparktheater mußte es schließlich machen. Von der Dramatik der Originalaufnahme blieben höchstens 30 Prozent übrig.
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Die Probleme der Praxis - nicht von der Filmhochschule

Das sind die Probleme der Praxis, die von keiner Filmhochschule gelehrt werden können, von denen aber jede Filmproduktion voll ist.

Deshalb halte ich nichts von Filmhochschulen, ganz abgesehen davon, daß sie von ihren Absolventen ein Abiturzeugnis verlangen. Was, um Himmels Willen, hat das Abitur mit der Kunst der Filmherstellung zu tun?

Nach diesem Film schrieb ich irgendwo »Filmedrehen ist das einzige echte Abenteuer geblieben. Die Sahara zu durchqueren, den Amazonas aufwärts zu fahren, ist alles nur eine Frage der Logistik. Aber zwingen Sie mal neurotische Schauspieler, von den gewünschten Kulissen und Hintergründen ganz zu schweigen, in das Korsett Ihrer Phantasie, dann können Sie was erleben .«
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Einem hilfsbereiten Kerl das Motorradfahren beibringen

Gerade glaubst du, alles unter Kontrolle zu haben, da kracht's und scheppert's mächtig hinter dir und der Schauspieler, der behauptet hat, er könne Motorradfahren, liegt auf der Nase.

Zwar ist Reinhold W. Timm, genannt Timmy, überhaupt kein Schauspieler, sondern gerade als Zeichner von den United Nations in New York zurückgekehrt, aber er ist ein netter, hilfsbereiter Kerl, der uns laufend mit den neuesten Witzen versorgt, und die Vopo-Uniform paßt ihm wie angegossen.

Was also tun? Wir bringen ihm vor der wartenden Kamera das Motorradfahren bei. Wir haben gar keine andere Wahl mehr. Wir haben zwei Autowracks von einem Autofriedhof in Hersfeld ausgeliehen und, ohne die Polizei zu fragen, auf das »tote« Autobahnstück nach Eisenach an die Zonengrenze schleppen lassen, haben sie mitten auf die Fahrbahn gekippt, um einen Unfall vorzutäuschen.

Erich Hanczick steht mit einer roten Flagge tausend Meter weiter, der Aufnahmeleiter mit der gleichen Flaggenfarbe in der anderen Fahrtrichtung, und dann passiert, was wir für unmöglich gehalten haben: Dieses Autobahnteilstück zum Grenzübergang Wartha ist nur »tot«, wenn wir »Verkehr« benötigen - jetzt, wo wir keinen gebrauchen können, wimmelt es auf einmal von Autos, die anhalten und deren Fahrer neugierig aussteigen. Verschwindet! Hier wird nur ein Film gedreht! Ihr stört! Seht ihr denn das nicht?
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Und dann kam die echte Polizei

Aber Timmy, der als Vopo die beiden - Sokatscheff und Susanne Korda - auf dem Motorrad verfolgen soll, macht Fortschritte, die Sonne ist auch noch da, und ich kann mich mit Gerhard Bonin und der Kamera auf den Notsitz des kleinen Alfa Romeo klemmen, und los geht's, hinein in die herumliegenden Wrackteile.

Als die Polizei endlich auftaucht, läßt Karchow die Wracks schon wieder verladen und tut so, als habe er die Genehmigung in irgendeiner Tasche, könne sie im Moment aber nicht finden. Wollen Sie nicht helfen, daß die Wracks endlich wegkommen, Herr Inspektor?

Nein, nein, das sind alte, hier hat kein Unfall stattgefunden, ich schwöre! Die stammen vom Autofriedhof in Hersfeld. Wie die hierhergekommen sind? Weiß ich auch nicht, da muß ich den Aufnahmeleiter fragen. Nein, der ist nicht hier, der überwacht die nächste Kameraeinstellung unten im Tal, wie der Name schon sagt: der leitet die Aufnahmen: Auf Wiedersehen!
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Und mir passierte ein grober Schnitzer

Heute kann ich es selbst kaum noch glauben. Bei der nächsten Einstellung, einer Totalen vom Fahrbahnrand auf den aus der Ferne herbeirasenden Vopo mit Motorrad, passierte mir ein Schnitzer, der dem entschwundenen Kameramann mit seinen 18 Jahren UFA-Erfahrung bestimmt nicht passiert wäre: Ich ließ ein Teleobjektiv, eines mit einer langen Brennweite, einsetzen, um den armen Timmy auf seinem schlingernden Vopo-Motorrad so nahe wie möglich ins Bild zu bekommen.

Der Bursche raste wirklich mit einer unglaublichen, todesverachtenden Geschwindigkeit auf uns zu, ich schrie: »Weiterdrehen, wenn er stürzt!« - und er dröhnte stolz an uns vorbei. Es sah toll aus, aber nicht im Teleobjektiv. Als am nächsten Abend die in Berlin entwickelten Muster eintrafen und uns im örtlichen Kino vorgeführt wurden, sahen wir den schnellen Timmy auf dem Motorrad quasi stillstehen!

Die lange Brennweite nagelte das auf die Kamera zukommende Motorrad einfach fest. Ich hatte wieder etwas gelernt, aber wir mußten Weiterreisen, zum nächsten Drehort, hatten keine Möglichkeit mehr, die Aufnahme zu wiederholen.
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Unser Erich Hanczick war ein Genie

Und Erich Hanczick schlich nachts noch um die Hotelbar und versuchte rauszukriegen, was in der Frühe auf dem Programm stand. Als er hörte, es sei die lange Laufszene des Dorfjungen durch die Gärten der Bauernhäuser von Wolf, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen: »Das hab' ich befürchtet!« und rannte in sein Quartier.

Was war los mit ihm? Am Morgen sahen wir, daß der gute Erich wieder einmal vorausgedacht hatte: Er war schon Stunden vor den anderen da, schleppte eine Leiter und einen Korb mit Laub durch die Hintergärten - und klebte Blätter an die kahlen Bäume, die besonders exponiert im Bild standen .
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Ein Film gegen das Bauernlegen in der DDR?

Schon bevor Flucht nach Berlin abgedreht war, hatte ich mich nach einem Komponisten umgesehen, der mir eine Musik »wie von Paul Dessau«, also revolutionär klingende Pauken und Trompeten, schreiben sollte.

Ich rief Herbert Trantow in Nikolassee an, der zuletzt viel für die DEFA gearbeitet hatte, und war höchst willkommen - bis er hörte, um was es sich handelte. Da zögerte er: »Ein Film gegen das Bauernlegen in der DDR? Mensch, da komme ich in Schwierigkeiten .«

Ich fürchte, ich habe erst damals, bei diesem Film, mitbekommen, daß es West-Berliner gab, die sich nach dem Chruschtschow-Ultimatum nicht mehr erlaubten, eindeutig Stellung zu beziehen gegen das kommunistische Regime in Ost-Berlin.
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Jetzt (erst) fing meine Politisierung an - Mut und blinde Wut?

Das war ein ganz schöner Schock für einen »Kalten Krieger«, und darum muß ich bekennen: Mit "Flucht nach Berlin" fing meine Politisierung an.

Alles, was vorher gewesen war, die erste Nachkriegszeit bis hin zur Blockade Berlins und dem Aufstand des 17. Juni 1953, muß ich für »Abenteuer« gehalten haben, ein Erleben an der Oberfläche nur.

Erst mit der Erfahrung des Filmens begann mein tieferes Interesse an der Politik. Daß ich, um dem Stern aus einer Verlegenheit zu helfen, gerade Flucht nach Berlin geschrieben hatte, war ebensosehr »Zufall« wie das Thema »Bauernlegen«:

Du sitzt an der Schreibmaschine, ein leeres Blatt Papier starrt dich an, und du läßt deine Gedanken wandern. Etwas »Heutiges« will Nannen haben, etwas »Heutiges«.

Du greifst nach der Zeitung, und eine Schlagzeile springt dich an: »Die Kolchoisierung der Zone«. Du erinnerst dich an den Flüchtling, der sich vor einer Ampel am Schlesischen Bahnhof, auf dem Rückweg von Schnitzlers Streitgespräch im Deutschlandsender, plötzlich in dein offenes Wagenfenster gebeugt hat: »Sind Sie West-Berliner? Können Sie mich mitnehmen? Auf dem Bahnhof kontrollieren sie schon wieder jeden, der in die S-Bahn nach Westen steigt!«

Was den Flüchtling dann unvergeßlich gemacht hat, ist seine Erzählung über die Funktionäre unter Leitung eines FDJlers, die wie die Heuschrecken über sein Dorf hergefallen sind, um die Bauern weichzuklopfen für die LPG.

Und wie er beschlossen hat abzuhauen, aber vorher seine einzige Kuh umbringen wollte, es dann nicht fertigbrachte und seiner resoluten Schwiegermutter die Axt überließ. Das wäre doch etwas »Heutiges«, denkst du im fernen Hamburg und haust den ersten Satz auf das weiße Papier.

Du bist selbst ein halber Bauernjunge, deine Mutter kam vom Land, du hast viele Sommer bei ihrer Familie auf dem Dorf zugebracht, du weißt, wie Bauern sich bewegen, wie sie reden, also los.
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Friedrich Luft formuliert seine Kritik

So war's. Und ein gutes halbes Jahr später klemmt sich einer wie Friedrich Luft hinter die Schreibmaschine und ertränkt dich in einer ungeheuren Kritik, die mit den Worten beginnt: »Dieser Film kommt aus einer Erregung. Er ist wahrhaft engagiert. Er ist gemacht aus Mut und Willen zur Augenöffnung vor einem permanenten deutschen Skandal. Er schwappt über vor Temperament. Er sieht rot. Ihn bringt auf, daß der Film bei uns bisher das aktuelle, das bitterste, das schmerzlichste Thema der deutschen Gegenwart umging. Will Tremper hat die Faxen dick.«

Dunnerlittchen! Ich bin von den Socken, bin gerührt und ganz stolz auf einmal. Das alles habe ich mir gedacht, als ich Flucht nach Berlin drehte?

Das alles hat Berlins Lieblingskritiker, der junge Mann auf dem geklauten Fahrrad mit dem selbstangebauten Tabak im Taschentuch, den ich 1945 in der Pförtnerloge des Ullstein-Druckhauses kennenlernte, aus meinem Film herausgelesen?

Ich habe mich immer gewundert und amüsiert über die ungeheuren Theorien, die Filmkritiker entwickeln, wenn sie einen Film auseinandernehmen - und jetzt tat es sogar mein trockener, unsentimentaler Fritze Luft!?

Ich war nahe daran, den läppischen Ursprung meines Engagements, meines »Mutes und Willens zur Augenöffnung« beim Gesang mit dem Finsterwälder, nachts in der Bar von Zellermayer, zu vergessen und an mein politisches Sendungsbewußtsein zu glauben. - Das ich bis heute nicht habe.
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Mein geliebter Peter Thomas - der Klavierspieler

Als der berühmte Herbert Trantow mir einen Korb gab, erinnerte ich mich an einen jungen, etwas gedrungenen Klavierspieler von der RIAS-Kaffeetafel im Sommergarten am Funkturm, der mir ungeheuer sympathisch erschienen war.

Hatte er nicht verraten, daß er Pauken und Trompeten, also Marschmusik, studiert hatte? Hatte sein Name nicht gerade in der BZ gestanden, weil er die temperamentvolle Kabarettistin Cordy Ritter geheiratet hatte?

Karchow fand seine Adresse heraus, und ich besuchte ihn in der Griegstraße im Grunewald, meinen geliebten Peter Thomas. Er war sofort Feuer und Flamme, lachte über den ängstlichen Kollegen Trantow und das Chruschtschow-Ultimatum, und begann, auf dem Flügel »Paul Dessau« zu spielen, eine revolutionäre Nummer nach der anderen.

Eine gefiel mir besonders gut: »Die nehmen wir für den Titelvorspann!« Peter lächelte: »Danke! Die ist von mir!«
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In einem Saal einer Grunewald-Gaststätte wurde geprobt

Karchow mietete den Saal einer Grunewald-Gaststätte, und als wir an einem Abend mit den Musikaufnahmen begannen, trafen ungefähr 40 Musiker ein und probten, was wir im Schneideraum mit der Stoppuhr an musikalischer Unterstützung festgelegt hatten. Es war eine Menge, ungefähr 50 oder 60 Nummern, teils nur kleine Zwischenspiele, teils ausgewachsene Songs, wie der von der High Snobiety mit Ingrid Werner alias Nina Westen.

Nach einer Viertelstunde bat ich um eine Pause und gestand Peter, daß mir seine revolutionären Themen, die er mir so zackig auf dem Flügel vorgespielt hatte, auf einmal nicht mehr gefielen.

Er sah unglücklich aus, nickte und sagte: »Das habe ich mir gedacht. Du hast ein gutes Gehör, Willusch!« Immer wenn er mich nicht »Arschloch« nennen wollte, sagte er Willusch. »Also, packen wir ein und gehen nach Hause!«

Ich protestierte: »Warum das Kind gleich mit dem Bad ausschütten?« Aber Peter flüsterte mir zu: »Wenn ich nur die Geiger rausschmeiße, gehen alle Musiker! Das ist ein solidarisches Völkchen. Ich gehe jetzt raus und bedanke mich. Karchow zahlt die Herren aus und bestellt morgen früh das Blech für morgen abend neu - und keine Geigen! Ich schreibe die Partituren heute nacht um .«
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Am nächsten Tag mit nur 30 Musikern

So ein Bursche war der Peter Thomas. Auch wenn er noch keine Filmmusiken geschrieben hatte, mit Musikaufnahmen von Orchestern jeder Größe kannte er sich aus, er überredete seine Plattenfirma Philips sogar zur Übernahme der Kosten für die Musikaufnahmen und erschien am nächsten Abend mit nur noch 30 Musikern.

Und nun klang seine Musik genau richtig, die Musiker knieten sich rein und lachten über die Abwesenheit der Geiger. Nur mein Produktionsleiter war plötzlich unglücklich.

»Seid ihr wahnsinnig?« schrie er am Morgen nach dem dritten Abend. »Ihr wollt heute abend nochmal? Wißt ihr denn nicht, daß Musikaufnahmen höchstens einen Tag und einen halben dauern dürfen? Bei Brauners CCC-Film dauern selbst die Aufnahmen für einen Musikfilm, in dem pausenlos gesungen wird, nur anderthalb Tage!«

Er sei hier nicht bei Brauner, haben wir ihn wissen lassen, und Thomas erwähnte die Möglichkeit, daß seine Philips in die Tasche greifen könnte. Karchow raufte sich das weiße Haar, aber ich spielte den Produzenten und erinnerte ihn daran, daß er noch 50.000 Mark auf dem Konto habe, seine »eiserne Reserve«. Es half nichts, er beschimpfte uns als Laien und ging wütend nach Hause.
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Es hatte sogar 12 Nächte gedauert

Die »Laien« haben zwölf Nächte lang Musikaufnahmen gemacht. Und Peter Thomas bekam für seine erste Filmmusik den Bundesfilmpreis und war ein gemachter Mann.

In den kommenden zwei Jahren schrieb er die Musik für 14 Spielfilme, für die ihn die Kritik »nicht mal mit dem Arsch anguckte«, wie er bei unserem zweiten Film, der "Endlosen Nacht" bemerkte.

Beim zweiten Mal machten wir immerhin noch vier Tage lang Musikaufnahmen, und Peter Thomas bekam erneut einen Bundesfilmpreis.

Erst beim dritten Film, das war Playgirl, glaubten wir, uns wie Experten verhalten zu dürfen, und begnügten uns mit dem branchenüblichen einen Tag plus einem halben Reservetag, und mein Komponist bekam keinen Bundesfilmpreis mehr. Ich begriff, daß Laien durchaus einen Sinn beim Filmeproduzieren machen können.
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Christian Doermer, mein Hauptdarsteller

Mit Christian Doermer, meinem Hauptdarsteller, lief das ganz ähnlich. Eigenwillig, wie der Kerl nun mal ist, wollte er bei jeder Szene wissen, warum er von links auftreten und das und jenes sagen müßte. Eine Zeitlang nahm ich mir dieselbe und erklärte es ihm.

Dann wurde es mir zu bunt, und ich schrie ihn an: »Tu schon, was ich dir sage!« Schließlich bekam auch er Prügel angedroht, die ich ihm nicht einmal selbst hätte verabreichen müssen. Erich Hanczick und die beiden Bühnenarbeiter boten sich regelmäßig an, dem Kerl »Mores zu lehren«.

Ich erkannte posthum, was Tressler bei den Halbstarken durchgemacht haben mußte, und bereute, immer wieder für Christian Partei ergriffen zu haben. Er verstand einfach nicht, daß der Gesamteindruck eines Films die Wirkung erzeugt, die Juroren dazu verleiten mag, Preise zu verleihen.

Das Detail ist nicht so wichtig, wußte ich damals schon, es ist die Summe aller richtigen Details, die Eindruck macht. Dafür, daß Christian Doermer über 700 Einstellungen hindurch Widerstand leistete, bekam auch er den Bundesfilmpreis verliehen. Er grinste nur, als er mit dem Ding in der Hand von der Bühne abging und mich fragte: »Gratulierst du mir nicht?«

»Gratuliere«, sagte ich versöhnlich, denn ich hatte auch schon meine Bundesfilmprämie von 200.000 Mark in der Tasche.

»Wozu gratulierst du mir?« wollte Christian Doermer wissen. »Sag es laut!« Von Reportern umringt, sagte ich laut: »Dazu, daß du nie mehr einen Film mit mir machen wirst .«

Ich war »jung und dumm«, wie Preuschoff gesagt hätte. Versöhnung ist, am Ende einer Filmarbeit, immer angesagt. Wer weiß, wann man einen bestimmten Schauspielertyp wieder braucht. Aber mit Christian Doermer habe ich nie wieder etwas gemacht.
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