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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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71 Sprengstoffanschläge - nur auf unseren Zug

Meine Freunde haben die ganze Geschichte dieser Reise nach Minsk, mit allen Details, nach meiner Rückkehr zu hören bekommen und skeptisch den Kopf geschüttelt.

Wie hätten sie auch die 71 Sprengstoffanschläge - nur auf unseren Zug! - glauben sollen, die ich zwischen Iwazewitschi und Minsk gezählt habe.

Viele Jahre nach dem Krieg, als ich längst aufgehört hatte, mit meiner unglückseligen Reise nach Rußland zu prahlen, las ich in einer Untersuchung über den Zusammenbruch des Mittelabschnitts der Ostfront, daß der Reichsbahnverkehr auf dem Hauptnachschubstrang Brest-Litowsk-Minsk allein vom 19. auf den 20. Juni 1944 von 10.500 Sprengungen in Mitleidenschaft gezogen worden war.
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Die systematische Zerstörung der deutschen Nachschubwege

Die Sowjets bereiteten durch die systematische Zerstörung der deutschen Nachschubwege ihre alles entscheidende Offensive vor. Aber Generalfeldmarschall Busch, der Chef der Heeresgruppe Mitte, ließ sich von den sichtbaren Anzeichen so wenig beeindrucken, daß er in Urlaub fuhr. Im Gegensatz zu seinen 300.000 Soldaten, die von der außergewöhnlichen Partisanenaktivität alarmiert waren.

Ein armseliger kleiner Reichsbahner auf Streckenpatrouille, so hörte ich beim Weiterfahren, hatte beobachtet, wie zwei Partisanen die Mine zwischen den Schwellen eingruben, und war dem Zug zwischen drei und halb vier am Morgen, im ersten schwachen Lichtschein, entgegengelaufen.

Diesen unscheinbaren, nur mit einer Pistole bewaffneten »Bahnern«, die Übermenschliches leisteten, ist nie ein Heldenlied gesungen worden.

Es wurde fünf Uhr, bevor der Zug sich wieder in Bewegung setzen konnte. In diesen anderthalb Stunden war die Hauptstrecke nach Minsk für Hunderte von Transportzügen, die nach uns kamen, blockiert.

Bei der Reichsbahn hieß der Stau »Rückstau«

Was heute als »Stau« auf den Autobahnen bezeichnet wird, hörte ich damals zum ersten Mal, aber bei der Reichsbahn hieß das »Rückstau«. Es dauerte keine Viertelstunde, bis wir schon wieder anhielten - den Zug vor uns hatte eine Mine erwischt, und wir waren noch nicht einmal in Baranowitschi, auf der Hälfte der Strecke nach Minsk

Ein Eisenbahner erzählte mir, die »Direktion Ost« in Minsk sei »durch die Verhältnisse« auf das einzige probate Mittel gekommen, die Partisanen auszuschalten, denn die beiderseits der Bahnstrecke gerodete, dreihundert Meter breite Schneise halte sie ebensowenig vom Minenlegen ab wie die Jagdkommandos der Polizei- und Waffen-SS: »Wir lassen jetzt auf der ganzen, fünfhundert Kilometer langen Strecke die Züge so dicht hintereinander fahren, daß sie in Sichtweite bleiben!«

Der 23. Juni 1944

Doch an diesem 23. Juni 1944 war es wohl schon zu spät. Der Wehrmachtbericht meldete an diesem Freitag, nach ausführlichen Berichten von der Invasionsfront in der Normandie und dem »feindlichen Großangriff in Italien«, erstmals, aber eher beiläufig:

»Im mittleren Frontabschnitt haben die Bolschewisten mit den erwarteten Angriffen begonnen ... Beiderseits Witebsk sind erbitterte Kämpfe im Gange.«

Während ich, wenig berührt, feststellte, daß Witebsk noch einmal zweidreihundert Kilometer östlich von Minsk liegt, geschah etwas, das selbst die ältesten »Frontschweine« unter den Landsern für »unglaublich« hielten:

Nach einem Tag, der nur aus Anhalten-Weiterfahren-Anhalten bestanden hatte, befanden wir uns gegen Mitternacht noch immer nicht weiter als kurz hinter Baranowitschi, und der lange Fronturlauberzug kam scheppernd schon wieder zum Stehen.

Ich merkte im Halbschlaf, wie die Männer im Abteil fluchend ihre Gewehre ergriffen und wieder auf den Schotter hinaussprangen, und streckte mich dankbar auf der nun leeren Sitzbank aus. Weder ich noch die entlang des Zuges in Stellung gehenden Posten bemerkten, daß Partisanen in der Dunkelheit die abgeholzte Fläche überquerten und, während an der Spitze des Zuges wieder einmal das Gleis geflickt wurde, hinter der letzten Radachse des letzten Wagens schon wieder eine Mine eingruben.

Als dann der Befehl »Alles an Bord!« ertönte und unsere beiden Lokomotiven mit kurzen Pfiffen die Weiterfahrt ankündigten, lief das bekannte Scheppern durch den Zug, und er setzte sich, was wir schon als ganz normal empfanden, erstmal rückwärts in Bewegung. Offenbar kamen die Lokomotiven, wenn sie anhielten, mit ihren Schwungrädern stets auf einen toten Punkt und mußten, zum Wiederanfahren, fauchend und zischend etwas zurücksetzen, um dann mit durchdrehenden Rädern, quasi im Anlauf, den stählernen Koloß von dreißig oder vierzig Wagen wieder anzuziehen.
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Und da machte es nun »Wumm!«,

und der letzte Wagen sprang aus den Schienen. Es gab Verletzte, und es hieß erneut: »Alles raus! Feindberührung!« Und wieder schwärmten die Landser in pechschwarzer Nacht fluchend aus, und während die nächste Schießerei begann, stemmten sich so an die fünfzig Fronturlauber gegen den beschädigten Waggon und kippten ihn von den Gleisen. Jetzt wußte ich, warum drei Jahre nach Beginn des Rußlandfeldzuges immer noch Eisenbahnwaggons im Graben lagen.

Da die Insassen des umgekippten Waggons auf die übrigen Wagen verteilt werden mußten, wurde es ziemlich eng. Doch am Samstagmorgen leerte sich der Zug, als in einem Bahnhof namens Stolpzy »Kettenhunde« erschienen, die Marschbefehle prüften und jeden zweiten Soldaten zum Aussteigen aufforderten, eine »Kampfgruppe« werde gebildet.

Worauf unter den Zurückbleibenden sogleich wild spekuliert wurde, ob die Russen schon vor Minsk stünden oder beiderseits durchgebrochen wären.
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endlich in Minsk eingetroffen

Ich hielt sie alle für abscheuliche Defätisten. Von nun an hatten die Befehlshaber ihre Nachschublinie aber anscheinend besser im Griff, denn am Nachmittag trafen wir endlich in Minsk ein, einer Stadt von knapp dreihunderttausend Einwohnern, wie ich vor der Reise im Lexikon nachgelesen hatte.
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Sowjetbomber im Tiefflug

Wir kamen mitten in einem Luftangriff der Russen auf dem Güterbahnhof an, und ich wunderte mich nicht schlecht, daß unsere Soldaten wild auseinanderstoben und sich irgendwo verkrochen. Zu Hause hatte ich ja immer nur Lachhaftes über die sowjetische Luftwaffe gehört, die es angeblich schon gar nicht mehr gab.

»Da knattern so kleine >Nähmaschinchen< herum!« hatte ich im Ohr. Also wanderte ich sorglos, mit meinen beiden Aktentaschen unter dem Arm, zwischen den abgestellten Güterwagen Richtung Bahnhofsgebäude. In der einen Tasche eine zweite Contax mit mehreren Objektiven und etwa fünfzig Kleinbildfilmen, in der anderen zwei Hemden, zwei Unterhosen, ein Paar Ersatzstrümpfe und Waschzeug; so reiste man im Krieg. Um das riesige Bahngelände herum ballerten Flakgeschütze, und auf einmal zischten zwei große Bomber im Tiefflug über meinen Kopf hinweg. Ich sprang unter den nächsten Güterwagen und versteckte mich hinter einem Rad. Als ich wieder herauskam, las ich auf der Rolltür: Achtung! Artilleriemunition! Da rannte ich, wie die anderen.
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Fronttheater in Minsk

Die Bahnhofskommandantur war das blanke Chaos, schlimmer als in Brest-Litowsk. Sie schickten mich zur Frontleitstelle im Lenin-Hochhaus. Der Bahnhofsvorplatz war Schutt und Asche, wie ein deutscher nach einem Luftangriff - genau ein Jahr zuvor war ich einer der Hitlerjungen gewesen, die in den Trümmern des Cafe Schumann auf dem durch Bomben zerstörten Frankfurter Bahnhofsvorplatz nach Verschütteten gegraben hatten.

Die wenigen erhalten gebliebenen Häuser bestätigten mein Vorurteil über die glorreiche Sowjetunion: abgeblätterte Zuckerbäckerei, verkommen, ein einziges Elend, dazu schmutzige Straßenbahnwagen, vollgestopft mit heruntergekommenen Zivilisten.

Auf allen Dienststellen in Minsk, mit denen ich zu tun hatte, erregte ich mit meinem Brief vom Propagandaministerium Aufsehen und war höchst unwillkommen, bekam aber im Soldatenheim II ein Zimmer zugewiesen, erhielt erneut Marschverpflegung und fiel in einen endlosen Schlaf.

Schließlich war ich seit Mittwochmorgen auf den Beinen gewesen, hatte in den Zügen nur »Spitzen weggeschlafen«, wie wir das nannten.
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Der HJ-Hauptbannführer Fritz Emde

Sonntagmittag wurde ich unsanft geweckt und sah einen HJ-Hauptbannführer vor mir stehen, einen bulligen Kerl mit dem Eisernen Kreuz auf der braunen Jacke, der Fritz Emde hieß, auf dem Ärmel einen Streifen mit der Aufschrift »Reichsjugendführung« trug und sich gleich aufregte: »Gestern sind die letzten weg!

Warum bist du nicht früher gekommen? Jetzt ist das Lager leer! Aber in Borissow sind noch welche! Also, los, zieh dich an, ich kümmere mich um eine Fahrgelegenheit!« Und humpelnd, mit knarrender Prothese, verschwand er wieder.
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Mein Auftrag: einen »weinenden Russenjungen zu finden

Der Auftrag meines Chefs in Berlin hatte gelautet, nach Minsk zu fahren, einen »weinenden, verzweifelt im Straßengrahen sitzenden Russenjungen zu finden - und zu fotografieren, wie er von einem Sonderkommando von Hitlerjugend und Luftwaffe aufgegriffen, in ein Lager gebracht, dort in die Badewanne gesteckt und entlaust wird; ihn mit anderen Russenjungens beim Frühstück aufzunehmen, umsorgt von gutaussehenden deutschen Krankenschwestern, bis ungefähr 700 dieser Jungen zusammen sind und in einem Sonderzug von Minsk nach Eger im Sudetenland gebracht werden, wo sich die Reichsverteilungsstelle für Luftwaffenhelfer befindet, die sie auf die einzelnen Luftgaukommandos aufteilt, damit sie an strategisch wichtigen Stellen, wie Brücken und Industrieanlagen, die 2cm-Flakgeschütze bedienen helfen« - so etwa.

Und nun war der letzte Sonderzug nach Eger weg, in Minsk gab es kein Lager für Russenjungens mehr, aber »in Borissow sind noch welche!«
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Ich hatte den dritten Jahrestag unseres Einmarsches vergessen

Vielleicht war ich wirklich zu jung, um mitzubekommen, was vorging in Minsk. Wäre ich sonst nach Rußland gefahren, mitten in den zu erwartenden Angriff hinein?

Es dauerte zwanzig Jahre, bis mir bewußt wurde, daß die Russen mit ihrem Sinn für Symbolik den 22. Juni 1944 abgewartet hatten, den dritten Jahrestag unseres Einmarsches, um grandios zurückzuschlagen.

Mein Chef scheint es besser gewußt zu haben, als er den Auftrag vom Ostministerium erhielt und lieber seinen Volontär schickte.

An diesem Sonntag, dem 25. Juni 1944, war die sowjetische Großoffensive gegen die deutsche Heeresgruppe Mitte schon drei Tage alt, und ich drängte mich in eine Gruppe Soldaten, die vor dem Anschlagbrett des Soldatenheims II den Wehrmachtbericht des Vortages lasen.

Sie wiederholten immer wieder den bezüglich der Sowjets zum erstenmal gebrauchten Ausdruck »Großangriff«. Auch daß es »starken feindlichen Infanterie- und Panzerkräften« gelang, »östlich Mogilew, beiderseits der Smolensker Rollbahn und beiderseits Witebsk in unsere vordersten Stellungen einzubrechen«, lasen sie sich gegenseitig laut vor. Und schließlich: »Die Abwehrschlacht geht hier mit steigender Heftigkeit weiter...«

»Wir essen erst mal was!«

Hauptbannführer Fritz Emde kam hereingehinkt und rief: »An der Front ist der Teufel los! Ich kriege keine Verbindung mit Borissow! Die Bolschewiken scheinen diesmal Ernst zu machen!«

Nach meiner Karte lag Borissow höchstens hundert Kilometer östlich von Minsk, der Raum Witebsk, in dem so viel gekämpft wurde, aber mindestens 250 Kilometer. »Können wir nicht einfach losfahren?« drängte ich Emde. »Ich kann unmöglich ohne die Geschichte zurückkommen!«

Doch der Kerl mit der Prothese humpelte schneller wieder davon, als ich mit meinen gesunden Beinen laufen konnte. Fünf Minuten später kam er mit einem einarmigen Luftnachrichten-Leutnant in einem grauen Opel Admiral zurück und schrie: »Wir essen erst mal was!« Ich war sauer. Ich wollte nicht essen, sondern das Lager in Borissow sehen. Die beiden Herren vom gemischten Sonderkommando Hitlerjugend / Luftwaffe aber fuhren mich aus Minsk hinaus, zu einem eigenen Casino, und ich bekam die erste warme Mahlzeit seit vier Tagen, irgendeinen Eintopf.

Die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten von Minsk

Der Einbeinige und der Einarmige nahmen mich nach dem Essen auch noch mit zu einer Besichtigung der Sehenswürdigkeiten von Minsk. Die interessierten mich nun überhaupt nicht.

Ich war der entfesselte Reporter, der auf keinen Fall ohne seine Geschichte aus Rußland heimkehren wollte. Fritz Emde sagte später, sie hätten mir vorsichtig klargemacht, daß die größte Offensive der Russen begonnen habe, daß die Zielrichtung Minsk sei, daß es keinen Zweck habe, noch nach Borissow zu fahren, bevor nicht Klarheit über den Verlauf des Angriffs herrsche - ich hätte überhaupt nicht zugehört, sondern dauernd die Contax am Auge gehabt und »wie verrückt« fotografiert.
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Die schreckliche Oper - ein futuristischer Betonklotz

An die schreckliche Oper kann ich mich erinnern, die von den Sowjets auf freiem Feld gebaut worden war: ein gewaltiger, runder futuristischer Betonklotz im Regen, ohne Zufahrtsstraßen, umgeben von einem schlammigen Acker. Ein groteskes Bild, das ich jahrelang besaß, bevor es, wie so vieles, im Laufe der Zeit irgendwo liegen blieb.

Und ich erinnere mich, abends im Soldatenheim I ein deutsches Fronttheater erlebt zu haben, »Isabella von Spanien« wurde gegeben, mit wunderschönen Frauen, tollen Perücken, einem roten Samtvorhang und einem Saal voller Offiziere, als habe das letzte Stündlein der Etappe Minsk noch nicht geschlagen.

Im Wehrmachtbericht dieses gespenstischen Sonntags hieß es: »Im Osten stehen unsere Divisionen im gesamten mittleren Frontabschnitt im schweren Abwehrkampf gegen die von starken Infanterie-, Panzer- und Luftstreitkräften geführte Offensive der Sowjets. Es gelang dem Feind nur östlich Mogilew, an der Smolensker Rollbahn und besonders im Raum von Witebsk seine Einbrüche zu erweitern...«

Ich wollte es wisssen, wie gefährlich es ist

Mogilew liegt südlich von Witebsk, aber verdammt viel näher an Minsk. Was mich nicht daran hinderte, noch in der Nacht eine Aktentasche zu packen, die andere im Büro des Soldatenheims II zu deponieren und mich von einer Wehrmachtstreife zu einer Kreuzung 30 km östlich von Minsk bringen zu lassen. »Dort«, sagte mir ein Feldwebel, »hast du eine Chance, von einem Fahrzeug nach Borissow mitgenommen zu werden.« An dieser Kreuzung habe ich meinen vorschnellen Entschluß bereut...

Eine geschlagene Armee flüchtet westwärts

Ich sah eine geschlagene Armee westwärts flüchten, auf LKWs und Panjewägelchen, ich sah grauenhafte Verwundetentransporte aus Mogilew und Orscha und desperate Offiziere, die den endlosen
Menschenstrom zu kanalisieren versuchten.

Ich stand neben einer Feldgendameriestreife, den gefürchteten »Kettenhunden«, auf einer Erhebung neben der Kreuzung, wo eine fahrbare Feldzahnarzt-Station einfach liegengelassen worden war, und verstand die Welt nicht mehr: die siegreiche deutsche Wehrmacht auf der Flucht vor den Russen, wie Napoleons Armee, und wieder fiel der Name Beresina.

Im Morgengrauen richtete ein sowjetischer Tiefflieger ein entsetzliches Blutbad unter den von allen Seiten auf der Kreuzung zusammentreffenden Kolonnen an, während ich, nur wenige Meter entfernt, unter einem strahlend weißen Zahnarztstuhl hockte und »Warum schießt denn keiner!?« schrie.

Am Straßenrand stapelten sich Tote, nach Minsk wurden nur noch Verwundete hineingelassen, während das Gros der Truppe nördlich, über Uscha, dirigiert wurde. Es wurde immer heller, der Himmel war wolkenlos, ein herrlicher Sommertag zu erwarten.

Meine lodernde Energie, die mich Halbwüchsigen an diese Straßenkreuzung getrieben hatte - nur fort von den »Etappenhengsten« in Minsk! -, war beim Anblick der flüchtenden Wehrmacht ziemlich erloschen.
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Mach daß Du hier wegkommst

Mein Entschluß, noch nach Borissow zu fahren, geriet ins Wanken, als ich merkte, daß kein einziger Wagen mehr nach Osten rollte. Die »Kettenhunde«, die mich an die Kreuzung gebracht hatten, waren irgendwann verschwunden, und ein neuer Feldwebel ließ sich mit grimmiger Miene meine Papiere zeigen, schüttelte beim Anblick des Briefkopfes »Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda« das Haupt und sagte, ich sollte mich schleunigst bei der Bahnhofskommandantur in Minsk melden, falls ich »noch heil hier herauskommen« wollte.

Ich verdrückte mich, aber nicht zurück nach Minsk, sondern nach rechts, zur Straße nach Süden. Auf die Straße nach Norden bogen die meisten Fahrzeuge ein, nach Süden die wenigsten.
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Otto Heinzelmann aus Heidelberg hat vier Schaufenster

Nach hundert Metern bemerkte ich, daß immer wieder Fahrzeuge aus den Kolonnen ausscherten und, dicht hintereinander, rechts ranfuhren. Auf meine Frage, wohin die Reise ginge, wurde ich vom Fahrer eines LKW belehrt: »Konvoi!«

Weiter vorn sah ich einen SS-Unterscharführer im Gespräch mit einigen Fahrern, der mich sofort interessierte: Er trug eine Brille und auf der Brust eine offene Leica. Ein PK-Mann, dachte ich. Als er meine Contax sah, blickte auch er interessiert, und als er mein Schreiben vom Promi gelesen hatte, stellte er sich als Otto Heinzelmann aus Heidelberg-Handschuhsheim vor, im Zivilberuf Drogist
»mit vier Schaufenstern«.

Das mit den vier Schaufenstern ist mir unvergeßlich geblieben.
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In einem Konvoi nach Sluzk

Im übrigen war er bei keiner Propagandakompanie der Waffen-SS, sondern so etwas wie ein »Kurier«, die Leica trug er »privat«, und er schlug vor, daß wir Kleinbildner zusammenblieben.

»Gleich geht ein Konvoi nach Sluzk ab«, sagte er, »das liegt so zweihundert Kilometer südlich, hinter den Pripjet-Sümpfen, da kommt der Russe mit seinen Panzern nicht durch!« Was mir einleuchtete. Zehn Minuten später setzten sich ungefähr dreißig schwerbeladene LKWs und kleinere Geländewagen in Bewegung.

Wir fanden Platz im Fahrerhaus eines Munitionstransporters, der von einem blutjungen Gefreiten mit einem lachenden Bauerngesicht gesteuert wurde. Er war achtzehn Jahre alt - was ja auch ich vorgab zu sein - und kam aus der Gegend von Kassel. Er sprach kaum etwas, schüttelte nur staunend den Kopf, als ich groß mit dem »Propagandaministerium« angab.
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Eine richtige Palisadenfestung aus rohen Baumstämmen

Irgendwann muß ich mitten im Gespräch eingeschlafen sein, denn ich wachte auf, und Otto Heinzelmann saß am Steuer, und der junge Gefreite hing auf der anderen Seite am offenen Fenster und röchelte im Schlaf. Da schlief auch ich wieder ein, zwischen den beiden Soldaten sitzend, die Aktentasche auf dem Schoß. Ich bekam nicht mit, daß wir irgendwann wieder anhielten und Otto aussteigen und seinen Marschbefehl zeigen mußte, daß wir ohne ihn weiterfuhren und bei einem »Sperrfort« wieder anhielten, so einer richtigen Palisadenfestung aus rohen Baumstämmen, wie in einem Western.

Solche Stützpunkte waren von den Polizeieinheiten, die hinter der Front auf »Bandenbekämpfung« gingen, in 30km-Abständen auf den Rollbahnen eingerichtet worden; sie kontrollierten die im Konvoi fahrenden Wagen, ob unterwegs nicht einer verlorengegangen war, oder rückten zu Hilfeleistungen aus.
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Etwas Blitzendes und eine glühendheiße Druckwelle

Beim Weiterfahren wachte ich auf und grämte mich sehr, daß mein Leica-Freund verschwunden war. »Da honse geschnappt!« berichtete der junge Fahrer in breitem Hessisch und sah wieder aus, als ob er lachen würde.

Ich beugte mich aus dem Wagenfenster und versuchte nach hinten zu sehen, als mich etwas Blitzendes und eine glühendheiße Druckwelle wie ein Schlag auf den Kopf traf.

Eine mächtige Detonation ertönte, unser LKW machte einen Satz nach vorn, und als ich mich umwandte, kippte der hessische Bauernbursche auf mich drauf, während unser LKW ganz langsam in den Graben rutschte. Es folgten weitere Detonationen, Schüsse fielen, auf meinem linken Hosenbein spürte ich Nässe.

»Stell dich tot!«

Der junge Fahrer lag auf meinem Schenkel und hatte nur noch einen halben Kopf, das ganze Kinn fehlte. Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem schief im Graben hängenden LKW herausgekommen bin. Andere erzählten hinterher, daß ich, unbeeindruckt von der beginnenden Schießerei, am Grabenrand gestanden und mit dem Taschentuch meine blutbeschmierte Hose gesäubert hätte.

Irgendwer hat mich dann zu Boden gezwungen und gerufen: »Stell dich tot!« Dann ertönten russische Laute vor mir, gehetzte Rufe, und ich scheine zu mir gekommen zu sein und die Contax ergriffen zu haben, denn später, in Berlin, waren auf dem Film fünf, sechs Russen zu sehen - Partisanen mit Gewehren in der Hand -, die aus dem vor uns fahrenden Wagen Feldpostsäcke fortschleppten.
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Ich hatte wirklich Fotos gemacht

Ich hatte ein 35mm-Weitwinkel drauf und habe, ohne den Kopf zu heben, die Contax in die Richtung gehalten, aus der die russischen Rufe ertönten; es sah alles ganz schief aus, und um die Gestalten als Partisanen zu erkennen, mußte ich sie zu Hause unmäßig herausvergrößern. Ich muß wirklich verrückt gewesen sein damals.

Als der Spuk vorbei war, stand Otto Heinzelmann plötzlich wieder vor mir. Er brauchte lange, um mich zu beruhigen.

Der ganze Konvoi schien zu brennen. Der hinter uns fahrende LKW war einfach in die Luft geflogen, hatte wahrscheinlich Munition geladen, und Otto meinte, unseren Fahrer habe das Dumdumgeschoß eines russischen Scharfschützen getroffen, und hätte ich mich nicht gerade aus dem anderen Fenster gebeugt, dann hätte es ebenso mich erwischen können.

Die Partisanen hatten dem Konvoi in einem dreihundert Meter entfernten Wald aufgelauert und sogar Granatwerfer eingesetzt, die haargenau trafen.
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Zwanzig Minuten hat das alles nur gedauert

Feldpolizei aus dem Stützpunkt, den wir gerade passiert hatten, erschien, und die Skelette ausgebrannter LKWs wurden wieder in den Straßengraben gekippt, Tote und Verwundete aufgeladen, und weiter ging die Fahrt.

In den zwanzig Minuten, die alles nur gedauert hat, ist dieses Foto von Otto und mir an dem Geländewagen des Luftnachrichten-Leutnants entstanden, mit dem Otto unserem Konvoi hinterhergebraust war; der Leutnant hat's fotografiert. Ich finde, wir sehen aus wie zwei Sommerfrischler und nicht wie Überlebende eines mörderischen Partisanenüberfalls.

Nicht mal der riesige Blutfleck auf meinem linken Hosenbein ist zu sehen, ich bemerke nur, daß ich das linke Bein anwinkle, weil mich die Nässe stört. Auch ist es ein Wunder, daß das Foto erhalten geblieben ist, denn es stammt weder von mir, der ich alle Filme in Berlin abgeben mußte, noch von Otto, sondern von dem Luftnachrichten-Leutnant, der es Otto drei Monate später zugeschickt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.
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Der Weg nach Süden - keine gute Idee

Leider erwies sich das Ausweichen nach Sluzk doch nicht als die gute Idee, die es in Minsk noch gewesen war. Die Russen hatten von den überraschenden Vorstößen der Deutschen gelernt und wendeten die Taktik nun selbst an:

Marschall Rokossowskijs 1. Bjelorussische Front drückte bei Gomel, an der südlichen Flanke des Mittelabschnitts, nicht nur über Dnjepr und Drut, sein 1. Garde-Panzerkorps rollte mit den berühmten T34 auch mitten durch die Pripjet-Sümpfe - das habe ich später nachgelesen. Was ich an diesem Montag, dem 26. Juni, mit eigenen Augen sah, als wir am Spätnachmittag an der ersten Kontrollstelle vor Sluzk eintrafen, war eine riesige schwarze Rauchwolke, die über die Stadt zog.

Die deutsche Armee verlegt nach hinten

Der deutsche Feldflugplatz, hieß es, verbrenne seine Treibstoffvorräte und verlege nach hinten. Die Russen würden »stündlich« in Sluzk erwartet, und die berüchtigten »Kettenhunde« waren schon wieder dabei, alles, was eine Waffe tragen konnte, zu »Kampfgruppen« zusammenzutreiben - war das nicht genau die Situation, die ich mir auf der Fahrt nach Rußland erträumt hatte?

Aber in den 48 Stunden, die seit meiner Ankunft in Minsk vergangen waren, hatte sich mein rosarotes Bild von der militärischen Lage an der Ostfront reichlich grau gefärbt.

Ich hatte an der Straßenkreuzung bei Minsk und auf der Rollbahn viele Tote gesehen, und zwei junge Soldaten waren direkt vor meinen Augen gestorben - den zweiten hatte ich schon nicht mehr fotografiert.

Darum folgte ich Otto Heinzelmann wie ein Lamm, als er mich von der großen Straße weg, an den ersten Häusern von Sluzk entlang, nach Westen schleppte. Die »Kettenhunde« ließen uns anstandslos passieren; Ottos Papiere schienen mindestens so gut zu sein wie meine.
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Sluzk war eine riesige Landgemeinde.

Wir wanderten über sandige Wege, an kilometerlangen hochstehenden Kornfeldern vorbei, sahen aber keine Menschenseele.

Die niedrigen Bauernhäuser wirkten verkommen, schienen in den Boden zu sinken, hatten aber alle kleine Vorgärten, in denen riesige Sonnenblumen winkten. »Laß uns irgendwo ein bißchen schlafen«, maulte ich todmüde, »die Häuser sind doch alle leer...« Aber Otto winkte ab.

Es wurde langsam dunkel, neun Uhr abends schon, und wir latschten immer noch durch die Außenbezirke von Sluzk. Da sah ich die weit offene Tür eines langgestreckten Bauernhauses und dahinter ein mächtiges, aufgeschlagenes Bett. »Otto - bitte!«

Otto hatte ein Einsehen, zerrte mich aber eine dunkle Stiege hoch und sagte: »An dem Anblick eines einladenden Bettes sind schon viele Landser gestorben. Partisanen haben das alles vermint - wir schlafen oben ein bißchen!« Unterm Dach legte sich Otto auf die Erde, rollte seine Jacke zusammen, stopfte sie unter seinen Kopf, nahm die Brille ab und war in Sekunden eingeschlafen.

Ich Trottel legte mich hingegen auf ein kleines Sofa, das in der dunklen Stube stand, und bereute es sofort, denn wie Messer stachen überall Sprungfedern hervor. Ich war müde wie noch nie im Leben, aber die Spiralen hielten mich wach, und als ich mich gerade an sie zu gewöhnen begann, brausten Flugzeuge dicht
über unsere Köpfe hinweg, und eine Menge Bomben fielen nicht weit entfernt.

»Otto!« rief ich, aber der war nicht wachzukriegen, obwohl das ganze Haus wackelte. Ick muß dann doch eingeschlafen sein, fernem Artilleriefeuer nachhorchend.
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»Die Russen sind da!«

Eine schmutzige Hand, die sich brutal auf meinen Mund preßte, weckte mich, wie mir schien, Minuten später. Ich war wie gelähmt vor Entsetzen und erkannte nur vage den Kopf von Otto über mir.

»Pschschschttt!« machte er. »Die Russen sind da!« Ich bin heute noch überzeugt davon, daß ich vor Angst einen Herzstillstand hatte. Ich würgte, schnappte nach Luft, verdrehte die Augen, denn ich verstand Otto so, daß sie im Haus wären, die Russen.

Aber dann half er mir auf die Beine und schob mich, immer noch pssstttend, zu dem kleinen Dachgiebelfenster, vor dem so was wie ein Sack hing, schob ihn vorsichtig zur Seite und deutete hinaus.

Draußen schien ein kräftiger Mond, und zuerst sah ich gar nichts. Dann bemerkte ich sie ... lauter dunkle Schatten, die geräuschlos diesseits und jenseits des sandigen Weges durch die Vorgärten sprangen, dicht an den Häusern entlang.

In dem Augenblick, als ich sie erkannte, krachte es auch schon fürchterlich, und sie schossen eine dumpf bellende Maschinenpistolen-Salve in den offenen Hauseingang, einfach so, und liefen schon weiter.
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Hinter der russischen Front

Mich hätte nicht gewundert, wenn ich ohnmächtig geworden wäre. Die ganze Propaganda, die ich über die Bolschewiken gehört hatte, stürzte wie ein Berg Kohle auf mich herab: daß sie keine Gefangenen machten, jedem die Augen ausstachen, das Bajonett in den Leib bohrten und kräftig herumdrehten - es war das Ende, das absolute Ende.

Ich würde in wenigen Augenblicken tot sein, noch nicht mal sechzehn Jahre alt!

Aber da war Otto Heinzelmann, mein Schutzengel. Obwohl ich ihn in dieser Nacht - es war doch schon zwei Uhr vorbei - zum ersten Mal nicht phlegmatisch sah, sondern sichtbar nervös, beruhigte er mich immer wieder, und irgendwann fing mein Herz wieder an zu schlagen, und das Blei in meinen Füßen verflüchtigte sich.

Es wurde drei Uhr und hell und heller, dann hörten wir die röhrenden, ratternden Geräusche von Panzermotoren, und anstatt zu einem letzten Gebet auf die Knie zu fallen, sprang Otto plötzlich auf und rief: »Das sind keine Russen! Das sind unsere!«

Und stürzte die Treppe hinunter. Tatsächlich: Die Russen waren weg! Was sich in der nächsten größeren Seitenstraße näherte, war eine deutsche Panzer-Reparaturabteilung, Tiger- und Panther-Panzer, zum Teil ohne Turm, zum Teil an Abschleppkränen hängend, vollbesetzt mit schlimm aussehenden Infanteristen, die uns halfen aufzuspringen.
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Meine Erinnerung an diese Nacht ist löchrig

In dieser Nacht lernte ich etwas über einen modernen Krieg, in dem es keine Schützengräben mehr gab, die sich gegenüberlagen, in dem die Fronten dauernd im Fluß waren und der Feind nie dort war, wo er hätte sein müssen.

So wie mir in dieser Nacht muß es den Russen 1941 zumute gewesen sein, als die schnellen Aufklärungseinheiten, etwa des Panzermeyer von der Leibstandarte, Hunderte von Kilometern vor der Masse des deutschen Heeres operierten und Verwirrung stifteten

Ich erinnere mich an kaum noch etwas von dieser Nacht. Der Schock, den die unmittelbare Gefahr hinausgezögert hatte, solange wir in dem Bauernhaus waren, erwischte mich voll in der scheinbaren Sicherheit der fahrenden Lafette, auf der ich mich neben Otto Heinzelmann festgekrallt hatte. Wenn ich mehr im Magen gehabt hätte, hätte ich mir bestimmt in die Hosen gemacht.

Ich weiß nur noch dunkel, daß ab und zu angehalten wurde, weil Flugzeuge über uns waren; die Soldaten sprangen von den Panzern - ohne mich! - und gingen in Deckung, es wurde geschossen, dann rasselten wir weiter.
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Dienstag, der 27. Juni 1944 - Otto Heinzelmann ist weg

So erlebte ich, wie erstarrt, den ganzen 27. Juni, den Dienstag, und kam mit der Truppe am späten Nachmittag am Bahnhof von Barranowitschi an, wo ich im gleichen Augenblick Otto Heinzelmann verlor.

Denn hier herrschte ein Chaos, das alles, was ich bis dahin erlebt hatte, in den Schatten stellte.

Massen an Uniformierten aller Couleur schoben und drängten sich über die beiden Bahnsteige, schrien sich an und versuchten, einen Platz in den Zügen zu ergattern, die ohne Pause ein- und ausfuhren. Es war hier, in Barranowitschi, wo ich den Zahlmeister sah, der schmieriges Altöl über einen gewaltigen Haufen roher, nicht gefärbter, halbhoher Lederschuhe goß und ihn anzündete.

Ich schnappte mir ein Paar und warf auf der Stelle meine Berliner Halbschuhe weg, die seit dem langen Marsch in Sluzk ständig voller Sand waren, weil die Sohlen sich zu lösen begannen. Otto! Wo war Otto? Wie sehr ich ihn in dem Schlamassel mit seiner Fronterfahrung gebraucht hätte!

Mit einer Panzergrenadier-Division zurück nach Minsk

Nachts, nach mehreren Versuchen, auf einen der vielen nach Westen dampfenden Züge zu gelangen, rollte plötzlich ein schneller, offenbar mit Prioritäten ausgestatteter kurzer Güterzug mit Flachwagen ein, auf denen fabrikneue Tiger-Panzer standen und hunderte von jungen Soldaten der Panzergrenadier-Division »Feldherrnhalle« hockten.

»Nach Minsk!« rief mir ein strahlender, höchstens 20 Jahre alter Leutnant mit goldenem HJ-Sportabzeichen und silberner Nahkampfspange zu. Der Anblick dieser stolzen Truppe mit ihren neuen Panzern wirkte ungeheuer belebend auf mich, erfüllte meine angeschlagene Moral so sehr mit neuer, großartiger Hoffnung, daß ich das Verrückteste auf dieser Reise überhaupt tat - und zu ihnen auf den Zug kletterte.

Ja, ich wollte plötzlich noch einmal nach Minsk, wo ich noch eine Aktentasche voll belichteter Filme im Soldatenheim II stehen hatte. Ich wollte heraus vor allem aus diesem Elend einer geschlagenen Truppe. Ich wollte dabei sein, wenn die »Feldherrnhalle« die »bolschewistische Flut« stoppen und zum Gegenangriff übergehen würde!
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11 Jahre später habe ich dann gelesen - es war viel schlimmer

Elf Jahre später las ich in einer Dokumentation der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte zum ersten Mal von dem ganzen Ausmaß dieses Zusammenbruchs der Heeresgruppe Mitte, bei dem die Sowjets 36 deutsche Divisionen mit etwa 380.000 Mann buchstäblich vernichteten, so gut wie keine Gefangenen machten und bis Warschau durchstießen.

Es war viel schlimmer als Stalingrad, aber es fand kaum Beachtung in der Öffentlichkeit. Während ich frohgemut mit den kaum älteren Soldaten dieser Panzergrenadier-Division wieder Richtung Osten fuhr, spielten sich unglaubliche Szenen der Massenvernichtung rund um Minsk ab.
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Aus der Dokumentation:

Kurze Nächte, lange heiße Sommertage... Die russischen Schlachtflieger erschienen wie Mückenschwärme überall, wo sich deutsche Kolonnen formierten, und beschossen die Männer mit MGs und Bordkanonen, warfen kleine Splitterbomben...

Durchgehende Panjepferde mit umgekippten Wägelchen, schreiende Verwundete, Soldaten, die sich ins Unterholz flüchteten, wurden von (Partisanen)Banden reihenweise massakriert... Die Munition schmolz auf wenige Patronen pro Mann, kampfbereite Panzer mußten gesprengt oder stehengelassen werden, weil sie ihre Granaten verschossen hatten... Schwerverwundete, die liegenbleiben mußten, erschossen sich selbst vor den Augen ihrer Kameraden... Dazu Hunger und Durst, längst war die Feldküche irgendwo stehengelassen worden, die Soldaten leckten morgens den Tau von den Gräsern ...In Gefangenschaft wollte keiner gehen.

Auf einer Front von 1100 Kilometern standen diese 330.000 Mann zweieinviertel Millionen Sowjets gegenüber, las ich. Die sowjetische Überlegenheit an Artillerie und Panzern betrug 6:1, die an Flugzeugen 100:1, nämlich 4.500 gegen lächerliche 40, die dem Mittelabschnitt noch zur Verfügung standen, als der Angriff begann.
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GRÖFAZ Hitler, der grösste Feldherr aller Zeiten

Hitler hatte seine besten Panzerdivisionen aus der Ostfront herausziehen und in die Abwehrkämpfe in Italien und Frankreich werfen müssen. Die drei der Heeresgruppe Mitte noch verbliebenen Panzerdivisionen waren mangels Betriebsstoff entmotorisiert und unbeweglicher als die Infanterie geworden, während die Sowjets auf 500.000 von den USA gelieferten Lastwagen mobiler waren als je zuvor.
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