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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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Wie meine zweite Ehe begann so ......

Am Kudamm drehte die Londoner BBC einen TV-Film, und ich schlich herum und versuchte, mit der glutäugigen Hauptdarstellerin ins Gespräch zu kommen, vielleicht etwas für meine westdeutschen Illustrierten zu machen. »Excuse me, Miß«, sagte ich, und Ursula Lyn antwortete in fließendem Deutsch: »Trinken wir einen Kaffee zusammen!«

Sie war eine geborene Berlinerin, im Martin-Luther-Krankenhaus zur Welt gekommen, aber als Kind jüdischer Eltern vor dem Krieg schon nach Palästina ausgewandert und von dort nach dem Krieg zur »Royal Academy of Dramatic Arts« in London gegangen; ihr Bruder war der geniale Karikaturist Gerhard Hoffnung, der sonntags morgens in der Albert Hall diese irren Dampfhammer- und Lokomotivpfeifen-Konzerte veranstaltete.
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Meine Erinnerungen an Ursula

Meine Erinnerungen an Ursula sind merkwürdig elliptisch: Ich seh' uns am Kudamm Kaffee trinken und im nächsten Augenblick im Bett herumtoben, ich seh' mich in einem Kleiderschrank versteckt und höre die Zimmerwirtin an die Tür donnern:

»Sie haben einen Mann bei sich, Fräulein Lyn!« Und ich seh' uns - da war die Londoner Filmgesellschaft schon lange abgereist - auf dem Standesamt in Schmargendorf mit der Frau von Eduard Wandrey und Dolf Benz als Trauzeugen. Das geschah alles noch 1953, vor der »BZ«.

Und wenn ich an diese zweite Ehe denke, will mir immer noch nicht mehr einfallen als: "wir beide im Bett, oder ich schreibe, und Ulla steht, nur mit einem Schürzchen bekleidet, in der Küche und versucht zu kochen". Und ja, natürlich, die Dreizimmerwohnung am Hohenzollerndamm, die ist doch überhaupt nur wegen der Eheschließung gemietet worden war.

Mit dem Geld hechelten wir immer hinter den Erwartungen her, Ulla synchronisierte, spielte Theater und filmte, und ich trieb mich mit der ollen Leica herum; einmal haben wir sogar gemeinsam Kriminalromane für Paul Steegemann übersetzt - ach, du Himmel! Die Freundschaft mit dem alten Dadaisten und seinem mehr als gewöhnlichen neuen Verlag habe ich ja auch vollkommen vergessen!
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Die stärkste Erinnerung waren die schwarzen Rauchwolken

Aber die stärkste Erinnerung, das ist immer noch dieser Sonntag, an dem wir, nach einem Grunewald-Sparziergang, am Fehrbelliner Platz aus der U-Bahn steigen und vor unserem Appartementhaus einen Menschenauflauf sehen. Die Feuerwehr ist da, fette schwarze Rauchwolken quellen aus allen Öffnungen, unsere Mitbewohner stehen, dürftig angezogen, aber laut schimpfend auf der Straße, und beim Näherkommen fällt Ursula dann ein: »Herrje, ich habe ja Rouladen aufgesetzt und vergessen, den Herd abzuschalten!«

Tagelang war das ganze Haus damit beschäftigt, den fettigen Schleim verbrannter Rouladen von den Wänden zu waschen. Ach, meine exzentrische, schusselige Ulla!

Die Auflage der "BZ" stieg über die 300.000er-Grenze

Als ich dann bei der »BZ« gelandet war, fand sie kaum noch Gelegenheit, ihre Lieblings- beschäftigung an meinem Magen auszuprobieren, mittags war ich sowieso entschuldigt, und abends fand sich auch jeden Tag ein später Termin, der mich zum Essen außerhalb »zwang«.

Nach der Otto-John-Affäre sah meine journalistische Zukunft rosig aus; wir hatten entscheidend dazu beigetragen, die Auflage über die 300.000er-Grenze zu stemmen. Aber anstatt mich in diesem Erfolg zu sonnen und nun endlich eine Zeitungskarriere anzustreben, ließ ich mich vom nächsten Zufall erwischen, und zwar noch im Sommer 1954; meine Ehe mit Ulla war noch kein Jahr alt.
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Und wieder ganz harmlos schlägt das Schicksal zu

Ich traue es mich kaum zu sagen, aber es geschah wieder auf der Herrentoilette, und neben mir stand wieder einmal Karl-Heinz Hagen!

Als wir das übliche Witzchen gerissen hatten (»Tritt näher, denn er ist kürzer als du denkst!«) und den Knick in den Kniekehlen vollzogen, faßte mich Karl-Heinz am Ärmel, griff in die Tasche, holte einen Zettel hervor und sagte leichthin:

»Da sitzt eine rumänische Geigerin in einem Hotel am Wannsee, ich habe mir den Namen extra aufgeschrieben, Noucha Doina heißt sie - die würde mir für morgen noch ins Blatt passen, von der Mischung her. Wenn du dich beeilst ...«

So harmlos schlägt das Schicksal zu! Ich hätte einwenden können, daß ich mit einer Geigerin nichts anzufangen wüßte, daß ich gerade mit Lothar von einer strapaziösen Reportage zurückgekommen wäre, daß Wolfgang Menge mit einer neuen Folge auf mich wartete - aber Widerspruch gab es bei Karl-Heinz Hagen nicht, ein Reporter mußte alles können.
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Sind Sie herzkrank, gnädige Frau?

Ich rief »Lothar, komm!«, und wir sausten nach Wannsee hinaus, in ein entzückendes kleines Hotel, das sich »Haus Noris« nannte. Im Swimmingpool hinter dem Haus schwamm mit aufreizend langsamen Bewegungen eine Frau mit grünen Augen, langes, blauschwarzes Haar wie einen Teppich hinter sich herziehend, in einem ganzteiligen schwarzen Badeanzug.

Bei unserem Anblick stieg sie gravitätisch aus dem Pool, kam so vorsichtig als ob sie über Eier wandele, auf uns zu, und ich sagte zur Begrüßung etwas, das ich noch nie vorher zu einem
Menschen gesagt hatte und auch nie nachher, der Teufel sollte mich holen:
»Sind Sie herzkrank, gnädige Frau?«

Ich hatte und habe keine Ahnung, wie Herzkranke sich bewegen, ob sie sich überhaupt anders benehmen als Gesunde. Ich quatschte das vorlaut einfach so vor mich hin - und die Wirkung war ungeheuer:

Noucha Doina blieb wie vom Blitz getroffen stehen, riß Mund und Augen auf, breitete die Arme aus und warf sich mit jenem unartikulierten Aufschrei, von dem man in Romanen liest, an meine trockene Brust, umklammerte mich wie eine Ertrinkende und stammelte in gebrochenem Deutsch:

»Oh... oh... du, du, du!!! Du bist mein Mansch!... Du hast es gesehen! Oh, du, du, du!!!« Und so weiter. Ich wurde pitschnaß und starrte über ihre Schulter den Lothar an, der vor Verblüffung zu fotografieren vergaß.
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Madam! Ihnen fehlt nicht das Geringste!

Was war das? Was war mit dieser rumänischen Geigerin los?

Nichts, als daß sie seit Jahren von einem berühmten Herzspezialisten zum anderen zog, überzeugt, schwer herzkrank zu sein, jedesmal gründlich untersucht wurde und immer nur zu hören bekam:

»Sie sind ein Hypochonder, Madam! Ihnen fehlt nicht das Geringste!« Und nun kommt sie nach Berlin, fidelt ihr Konzert herunter, schwimmt vor dem Rückflug noch ein bißchen, und da tritt ein bebrillter Jüngling auf, schaut sie einmal an und stellt die Diagnose, die sie hören will! Also, ich war ihr »Mensch«, in den sie sich, aus Todesangst, auf der Stelle und mit Wucht verliebte.

Ich sage Wucht, denn was in der nächsten Stunde, einem Orkan gleich, an Gefühlen auf mich niederging, ist unbeschreiblich.
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Eine unbeschreibliche Erfahrung von Leidenschaft

Seit diesem Tag im Sommer 1954 weiß ich, daß Leidenschaft durch nichts anderes entfacht wird als durch Leidenschaft.

Diese Noucha war die zärtlichste, die liebevollste und dankbarste Frau, die ich bis dahin kennengelernt hatte, zehn Jahre älter, natürlich, und vor allem: Rumänin!

»Wir Frauen von Rumänien«, hauchte sie mir mit heißem Atem ins Ohr, »wir lieben ganz total oder gar nicht! Wir kennen nichts anderes...«

Denselben Spruch hat mir Zarah Leander mal verpaßt, mit rollendem R und Champagner: »Wirrr Frrrauen von Värrrmland, wirrr kennen nurrr die Liebe und den Tod!« Leider war sie da schon Großmutter und ich nicht das Objekt ihrer Begierde.

Aber Noucha Doina! Sie ließ mich nicht mehr aus dem Griff, schickte brutal ihren Manager weg - mit dem sie eigentlich liiert war, und verfügte über mich wie über einen Lottogewinn:

»Du mußt mit mir nach Hamburg fliegen! Ich habe Angst vor dem Fliegen! Und wenn ich sterben muß, dann nur mit dir!« Oha.
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Am nächsten Morgen stands in der "BZ"

Irgendwie gelang es mir dann offenbar doch noch, eine Hand freizubekommen, einen Block mit dem gewünschten Artikel für Hagen vollzukritzeln, den Lothar mit in die Redaktion nahm, denn am nächsten Morgen stand er in der »BZ«, aber das war auch das letzte, was diese Zeitung von mir bekam.

Ich rief sogar noch Ursula, meine Frau, am »Koch' heute abend nicht! Ich muß nach Hamburg, dringende Sache, bin morgen zurück!«
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»Du mußt fahren!« Wohin?

Und auch das war das letzte, was die liebe Ulla in den nächsten zwei Jahren von mir hörte. Denn als wir in Hamburg landeten, zog mich meine Geigerin auf den Parkplatz gegenüber und deutete auf einen offenen weißen Dodge: »Du mußt fahren!« Wohin? Und wieso ich? Ich konnte ja gar nicht Auto fahren, hatte doch gar keinen Führerschein, war zwar heimlich ein paarmal mit den Wagen von Freunden herumkarjuckelt, jüngst erst mit Lothar Winklers VW auf dem Gleisanschluß des Ullstein-Hauses, aber mit diesem sechs Meter langen Amischlitten?

Wie stellte Madame sich das vor? Doch schon drückte sie mir die Wagenschlüssel in die Hand: »Ich kann nicht fahren, mon eher, ich haben viel zu große Angst vor Verkehr! Aber ich muß morgen abend in Göppingen sein, wo große Hoffmeister-Tournee beginnt!

« Wie war sie denn mit dem Dodge hierher gekommen? Na, mit dem Manager! Den hatte sie jedoch in Berlin sitzengelassen, der verstand die Welt nicht mehr.
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Zwei Jahre lang - ohne Führerschein - durch ganz Europa

Was soll ich sagen: Ich setzte mich hinters Steuer, sah mir die Knöpfe und Hebel an, erwischte zufällig die richtigen und fuhr los. Fuhr zwei Jahre lang mit wechselnden Luxuskarossen durch ganz Europa, ohne Führerschein - und ohne eine Schramme zu verursachen!

Ich lache heute noch, wenn ich höre, wie sich Menschen endlose Stunden lang von Fahrlehrern das Einfachste von der Welt beibringen lassen. Schwer hingegen lastete mein Gewissen auf mir.

Ich hatte mich bis dato nie mit so etwas aufgehalten, blieb, wie ich glaubte, niemandem etwas schuldig, hatte Hedda Adlon sogar den Ermann, einen richtigen Ghostwriter, verschafft, bevor ich aus ihrem Haus verschwunden war - und nun mußte ich dauernd an Ulla denken, die so naiv war, an mich zu glauben.

Denn Noucha ließ keinen Zweifel daran, daß ich mit ihr kommen müßte, und nicht nur nach Göppingen, wo die »große Tournee« begann, nein, auch nach Paris, wo sie lebte bzw. ohne mich nicht mehr würde leben könnea »Oh, du mein Määänsch!«

Sie, mit ihrer Angst vor dem Fliegen, hatte in der PANAM nach Hamburg meinen Arm um ihre üppige Brust gelegt, ihren Kopf an den meinen geschmiegt und war selig eingeschlummert! Und jetzt saß sie neben mir, ohne auf meine nicht vorhandenen Fahrkünste zu achten, hatte ihren schönen Kopf in meinem Schoß vergraben und ... um Himmels willen, wie komme ich bloß an diesem Laster vorbei!

Über Tage in absoluter Erklärungsnot - und Sex ging nicht

Die Autobahn nach Süden begann erst in Northeim, nach Hannover ging es über eine stark befahrene Bundesstraße, bei Celle gab ich auf: »Gehen wir in ein richtiges Bett, ich halte es nicht mehr aus!«

Und im Bett wurde es dann eine Pleite, das typische, von zuviel Fremdheit noch belastete erste Mal, vom schlechten Gewissen geplagt, obwohl es in Celle noch einfach war, mit dem Gedanken einzuschlafen, daß ich nicht vergessen dürfte, gleich am Morgen Ursula anzurufen und ihr zu sagen, daß ich noch einen Tag länger fortbleiben müßte, wichtige Sache und so.

Am nächsten Abend, in Göppingen bei Stuttgart, fiel mir das Einschlafen schon schwerer, da mußte ich mir erst hoch und heilig das Versprechen abnehmen, mir am dritten Tag etwas »ganz Tolles« einfallen zu lassen, was Ehefrau wie Chefredakteur mein Verschwinden erklärlich machen würde.

Doch mir fiel absolut nichts ein, weder am vierten noch am fünften Tag, bis mein Verstand mir sagte: Jetzt ist der "point of no return" überschritten, jetzt brauchst du nicht mehr in Berlin anzurufen, jetzt hat Karl-Heinz Hagen mich mit fünf Zeilen verabschiedet:

»Vor einer Woche haben wir unseren Reporter W.T. zu einem Interview mit der rumänischen Geigerin N. D. geschickt. Er ist bis heute nicht zurückgekommen...«
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Und was Ulla erst denken würde!

Es war wirklich so wie der Witz von dem Mann, der seiner Frau abends sagt, er gehe noch mal runter Zigaretten holen, und in Pantoffeln auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

Leider kannte ich den Witz damals noch nicht, sondern hielt mich für ein Unikat, für den einzigen Mann auf der Welt, der so irrational handelte.

Wenn ich mit meiner Frau wenigstens einen handfesten Krach gehabt hätte! Wenn ich mich mit Hagen nicht verstanden hätte!

Aber nein, kein Wölkchen trübte den Ehehimmel, kein Dunst lag über meiner Karriere. Ich hörte sie dauernd alle Möglichkeiten durchdiskutieren: Das gibt's doch nicht! Er kann doch nicht mit 'ner Geigerin durchgebrannt sein, die er überhaupt nicht kennt!

Es muß ihm was passiert sein, sonst hätte er doch mal angerufen! Wie recht sie hatten, meine Hinterbliebenen ...

Noucha - die klassische Violinistin - war ein Genie

Noucha war als Kind schon von der alten belgischen Königin Elisabeth (»der Kommunistin«) aus einer Bukarester Meisterklasse geholt und nach Brüssel gebracht worden, wo sie ein Stipendium nach dem anderen bekam, körperlich aber nicht durchhielt.

Darum wurde aus der klassischen Violinistin eine populäre Geigerin, die auf der ganzen Welt gastierte, im Film und Fernsehen (»War ich in Venezuela gerade, für Television von Philip Morris«, hatte sie mir schon in Berlin erzählt, wo sie in einem der Schlagerfilme von Arthur Brauner aufgetreten war), in Konzertsälen und Schallplattenstudios.

Sie verdiente Tausende täglich und stopfte die Geldbündel nach balkanesischer Art in die sonderbarsten Verstecke, seit meinem Erscheinen auch mir in die Tasche, was ich mit Entsetzen - ein deutscher Mann nimmt kein Geld von einer Frau! - von mir wies.

»Du bist jetzt mein Manager!«

Doch da sie ihren Manager Charles Ferrer in Berlin gelassen hatte, mußte ich mich um mehr als ihre seelischen Probleme kümmern, verdiente außerdem ja nichts: »Du bist jetzt mein Manager!«

Als ich nach der Hoffmeister-Tournee, die durch vierzig oder fünfzig deutsche Groß- und Kleinstädte führte, den Wunsch äußerte, mal nach München zu fahren, um ein bißchen Geld zu verdienen, war sie empört: »Gebe ich dir nicht genug? Wir Frauen von Rumänien ...«

Und im übrigen müßten wir abends in Mailand sein und hatten in Zürich übermorgen früh diese Schallplattenaufnahme bei der DECCA und abends für ein Gala-Diner in Paris zugesagt - o Gott!

Übermorgen ist ja auch noch dieser NDR-Abend in Heide in Holstein, wie soll sie ohne mich da hinkommen, wo liegt das überhaupt? »Und vergiß nicht, in London Bescheid zu sagen für Samstag Nacht in Port Lyauthe, da sitzen zehntausend US-Soldaten vor diesem Stützpunkt im Wüstensand und wollen meine Geige hören, die Air Force fliegt uns nach Marokkko, du kannst mich keinesfalls jetzt im Stich lassen!«

Sogar am Klavier mußte ich einspringen und für den Säbeltanz von Chatschaturjan - umbababa, umbababa - die Begleitung übernehmen.
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Die Zeit mit der »Wildkatze auf der Geige«

Die Zeit mit der »Wildkatze auf der Geige«, wie die Teldec auf ihre Prospekte druckte, läßt sich wirklich nicht mit ein paar Worten schildern. Sie hat meinen Horizont kräftig erweitert, meine Beziehung zur Geige, die es vorher nicht gab, aufgebaut und bis zur Intimität gefördert.

Nie wieder habe ich jemand so meisterlich »Die Lerche« mit all diesen unglaublichen Pizzicatos spielen hören, die von den meisten Geigern einfach übergangen werden, es war Nouchas größte Nummer.

Sie hat mich mit den interessantesten Menschen bekannt gemacht, in der Welt herumgewirbelt, Auto fahren gelehrt. Was war ein Tag in Diensten der »BZ« gegen einen Tag mit Noucha Doina, von den Nächten gar nicht zu reden!

Wie alle Künstler, die jeden Abend ihr Bestes, ihr Letztes geben müssen, litt sie unter Lampenfieber und brauchte vor und nach ihrem Auftritt Entspannung.

»Liebe machen«, diesen Ausdruck habe ich von ihr zum erstenmal gehört, und jetzt benutzen sie ihn grauslicherweise auch bei der »BILD-Zeitung«, wenn sie »ficken« umschreiben wollen. Mit Noucha war das wirklich Liebe »machen«!

Wieviel Zärtlichkeit konnte diese Rumänin im Bett entwickeln, wie intensiv konnte Hingabe sein! Wie hat sie mich geführt und mit der Psyche einer Frau vertraut gemacht!
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Sie schaute mir in die Augen

Bis ich genau dort scheiterte, womit ich meinen Überraschungserfolg erzielt hatte: bei ihrer eingebildeten Herzkrankheit. Ich habe dieser wundervollen Frau tausendmal klarzumachen versucht, daß ich keinen blassen Schimmer von Herzkranzgefäßen hätte, daß ich nur zufällig diesen Satz fallen ließ in Wannsee am Pool, der unser Leben so dramatisch verändert hatte.

Sie schaute mir in die Augen, daß ich wegfloß, und flüsterte: »Du glauben an Zufall? Alles ist Bestimmung! Gott hat dir diese Worte in den Mund gelegt, um mich zu retten...« Mach einer mal was dagegen.

Ich mußte Noucha von einer Weltkapazität zur anderen begleiten, von einem Sanatorium zum nächsten und noch ihre Hand halten, wenn wir, nebeneinanderliegend, unsere Tiefschlaf-Spritzen bekamen.

Wir, jawohl! Ich junger Bulle von zuletzt 27 Jahren mußte mich, der Liebe wegen, in Tiefschlaf versetzen lassen. Beim zweiten Mal bin ich geflüchtet - für immer. Und Noucha Doinas krankes Herz schlägt immer noch, sie soll sogar noch auftreten, höre ich.
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Zurück in Berlin - als geschiedener Vater eines Sohnes

War das ein Theater, als ich nach Berlin zurückkam! Zur »BZ« traute ich mich gar nicht mehr hin, zu meiner Frau mußte ich, schon wegen der Klamotten. Doch das Wiedersehen verlief viel friedlicher, als ich befürchtet hatte - ich war in Abwesenheit nicht nur geschieden, sondern offiziell auch Vater geworden eines Sohnes, dessen richtiger Vater, der Bühnenverleger Gerd Pegler, den Knaben am Ende adoptieren mußte.

So schrieb es das Gesetz vor: Kinder, die bis zu elf Monaten nach einer Trennung der Eltern geboren werden, gehören noch zum geschiedenen Vater, werden dann der Obhut des Staates unterstellt und dürfen vom richtigen Vater anerkannt und adoptiert werden.

Soviel Laufereien zu den Behörden! Aber Ulla und Gerd sahen glücklich aus und zeigten für den Heimkehrer nur noch akademisches Interesse: Wir sind heute noch befreundet, sie sind heute noch glücklich miteinander und, vor allem, als Bühnenverleger äußerst erfolgreich. Doch wenn ich Ulla frage, wem sie das beständige Glück zu verdanken hat, greift sie nach Wurfgeschossen.
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Mein Freund Dieter Bochow

Ich zog zu meinem Freund Dieter Bochow, dem jüngeren Sohn der bekannten Übersetzerin Hansi Bochow-Blüthgen, den ich 1946 schon als (stinknormalen) Regieassistenten von Helmut Weiß kennengelernt und über all die Jahre immer wieder getroffen hatte.

Dieter schrieb eine flotte Feder und hatte, was ich ein Papageien-Talent nannte: Er konnte, wie Robert Neumann, jeden Stil auf das perfekteste nachahmen, aber anders als Robert Neumann schrieb er nicht gern, mußte jedesmal an die Maschine geprügelt werden, was wohl damit zusammenhing, daß er auch nicht gern las, ja, Bücher verabscheute - der Sohn einer Frau, die in seiner Kindheit nur durch Kletterpartien über Bücherberge zu erreichen gewesen war.

Ich und eine gewisse Eva, die aus der Emigration in England zurückgekehrt war, zwangen ihn in den folgenden Jahrzehnten immer wieder an die Schreibmaschine.

Wie eine Mücke im Wasserglas

Zu meinem 60. Geburtstag schenkte mir Dieter einen blauen Plastikordner voll von Briefen, die wir zwischen 1955 und 1960 gewechselt haben - und ich erschrank zu Tode:

Beinahe alles, das da drinstand, hatte ich vergessen. Darum hier ein paar Auszüge, die Zeugnis geben können vom Zustand eines jungen Mannes in der Mitte der fünfziger Jahre - auch vom Zustand der Unterhaltungspresse jener Jahre, in der ich, strampelnd wie eine Mücke im Wasserglas, Fuß zu fassen hoffte -, bis mich der nächste Zufall ganz dicht an mein eigentliches Berufsziel brachte: die Filmregie.

Warum ich damals nach Indien wollte, ist mir völlig unverständlich, was es mit der »Hoxsey-Sache« auf sich hatte, hingegen klar: Das war schiere Propaganda für eine dubiose Krebsklinik in Texas, an der Jim Burke beteiligt war. Aber lesen Sie selbst:

München, den 3.2.1955

Dieter, mein...

ich glaube schon, daß die Hoxsey-Sache jetzt läuft. Im Moment liegt sie bei den »medizinischen Sachverständigen« der REVUE und wird geprüft. Redaktion (Küchler) ist interessiert, wenn er auch zu meinem Leidwesen bei Nennung Deines Namens zusammenzuckte. Warum, bekam ich nicht aus ihm heraus. Aber ist leicht zu erklären, denn Du stelltst anscheinend schon einen jener typischen Fälle da, die die Redaktionen mit Themen bombardieren, die, immer gerade wenn Dein Vorschlag eintrifft, abgrundtief unbrauchbar sind. Das ist normal bei Zusammenarbeit über 1.000 Kilometer hinweg.
Nach Indien gehe ich sicher nicht vor Ende des Monats, sie wollen mir bei der REVUE das Geld erst geben, wenn ich vorher noch einmal nach Berlin gefahren bin und den Soraya-Opa nach
München entführt habe. Soraya kommt ja am 23. Februar nach Bonn, wie Du weißt. Aber ich schlage Dich tot, wenn Du über diese Idee was verlauten läßt, auch nicht in der BZ-Redaktioa Ernsthaft, Dicker!

Am 12. werde ich also wieder in Berlin aufkreuzen, in die Ostzone fahren und am 18. wieder nach München zurück. Mit der Gloriageschichte ist etwas schiefgegangen, wie Rentz mir sagte. Darum war ich auch einen Tag länger in Frankfurt. Das bringt jetzt wahrscheinlich eine andere Zeitung und bestimmt nicht vor zehn bis vierzehn Tagen. Im Februar aber noch. Auf jeden Fall werde ich dafür sorgen, daß, wenn die REVUE anbeißt in der Hoxsey-Affaire, sie Dir sofort 500 Pipen Vorschuß telegrafisch schicken. Wie das mit der Kommission aussieht, können wir uns nach Abdruck noch immer überlegen. Brich mir wegen Gloria nicht zusammen. Kann auch sein, daß ich das ganz schnell hier bei der Abendzeitung verkrafte. Umsonst ist die Arbeit jedenfalls nicht. Sage Jim, er soll die Tumbstone-Scheiße schon schreiben. Und übersetze sie! Grüße an Evchen und Danielachen
Euer Will

RS. Bilde Dir nicht ein, daß die Gloriasache gestorben ist. Bei Überlesen des Briefes finde ich, daß Du den Eindruck haben könntest. Dein Material war sehr gut, aber bemühe Dich ruhig noch weiter. Ich habe noch keine Serie geschrieben, die nicht gedruckt wurde. Abendpost war bloß zeitlich nicht in der Lage.
Ach ja, die deutschen Eltern von Sorayas Mutter! Alles vergessen. Wobei das Datum 3. Februar 1955 mich zuerst verwirrte, denn da war ich ja noch fast ein Jahr mit Noucha zusammen. Ich scheine also, neben meiner Tätigkeit als ständiger Begleiter der »Wildkatze auf der Geige«, das eine oder andere gearbeitet zu haben. War mir auch entfallen. Dieter Bochow - oder Bogolinski, wie er sich als Übersetzer von Mickey-Spillane-Krimis im Verlag Paul Steegemanns nannte - wohnte damals in einer Zehlendorfer oder Lichterfelder Straße ohne Namen, kurz »Straße 91« genannt, Hausnummer 24, und ich kroch bei ihm und seiner Eva sowie dem Töchterchen Daniela unter, wenn ich in Berlin war.

Die drei Bochows waren mir so etwas wie eine Familie geworden, mit Dieter ließ sich prächtig kreuz und quer quatschen, er war witzig, er war gescheit, und er war ängstlich. Für mich ein Medium und ein Opfer, wie ich heute sagen würde, das ich Phantast für eine Nacht in Brand stecken konnte, um ihn am nächsten Morgen wieder kleinlaut beim Frühstück zu sehen.

Allein, ohne so einen intelligenten Zuhörer, eine so lebendige Wand, die Zweifel und Widerspruch in die Debatte brachte, hätte ich mich kaum aufgeschwungen, tausend Ideen auf einmal, wenn schon nicht zu realisieren, so doch anzufassen und auszuprobierea Ich trieb mich in den Redaktionen umher, in denen gut gezahlt wurde, nach der Schrotschuß-Methode: Irgendwann mal werde ich einen treffen, der meine Talente zu würdigen weiß, und dann habe ich es meinem lahmen Freund Dieter gezeigt! Die Methode mag der umständlichsten eine gewesen sein, doch wen ich schließlich traf, das war Henri Nannen.

Brief an Dieter, am 27. Oktober 1955

Noch einmal aus einem stürmischen Brief an Dieter, am 27. Oktober 1955 in Frankfurt geschrieben:

Nun laß Dir erzählen, mein Sohn, was ich am Telefon schon vorwegnahm. Also, nachdem STERN-Geldner zuletzt schwieg wie das Grab, machte Rentz am letzten Montag in Hamburg einen Besuch bei ihm. Meine Düsenjäger waren von seinem Schreibtisch mit unbekanntem Ziel gestartet - wahrscheinlich explodiert. Daher: wer beschreibt unsere entsetzliche Überraschung: Am Mittwoch steht die Geschichte im STERN. Nicht meine: Geschichte, aber meine Idee, meine Rosinen. Meine (falschen) Absturzzahlen etc. pp. Wir begannen mit Telegramm und Telefon der Redaktion auf den Leib zu rücken - immer abwechselnd je halbe Stunde - ein Telegramm Rentz - ein Telefon Tremper - ein Telegramm Rentz - ein Telefon Tremper - bis wir uns mittags um 14 Uhr an Boß Nannen herangekämpft hatten, den ich atemlos und rücksichtlos und rot vor Wut mit »Strauchdieb!« - »Wegelagerer!« - »Gangster!« und anderen Prädikaten wortwörtlich übern Draht bedachte.

Erst schrie er was von »Manieren« und »Unerhört« und »Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?« und dann imponierte ihm mein heiliger Zorn und er lachte. Und versprach, 250 (!) Mark zu zahlen. Darauf ich: daß ich ihn leider dann bis zum Bundesgerichtshof jagen müßte und mit Freuden nur noch
für Anwaltkosten arbeiten würde - und im übrigen ihm bei der nächsten Gelegenheit (wörtlich) »so in Fresse hauen« würde, daß er es bedauern würde, jemals etwas von Düsenjägern und Tremper gehört zu haben. Da lachte er noch mehr und meinte, ich sei »ein ulkiger Knabe« und ob ich wüßte, daß er 195 cm groß sei. Ich: »Mein Totschläger, Herr Chefgangster Nannen, ist nur 20 cm groß - aber mit Blei gefüllt!«

Wenn ich Dir das jetzt so hinschreibe, glaubst Du es nicht. Aber es ist die reine Wahrheit. Er lachte zum Schluß immer mehr und sagte, daß es alles ein Versehen wäre und von der Redaktion ohne sein Wissen zusammengekocht, aber wenn ich ihm verspräche, daß ich ihn nächstens in Hamburg besuche, dann wolle er vielleicht 500 Mark zahlen...

Soweit diese Geschichte, mein erster Kontakt zum »Stern« und Henri Nannen. Der Anlaß war eher ordinär, ganz alltäglich, denn geklaut wird in jeder Redaktion, aber nicht jeder Autor geht derart auf die Barrikaden. Was sich bei mir entlud, mag auch der Frust so vieler Monate vergeblicher Mühe gewesen sein - und daß ausgerechnet der von mir bewunderte »Stern« sich zu einer so schäbigen Handlung hatte hinreißen lassen, das schlug dem Faß den Boden aus!
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Aber vorerst »rief der Film« ......

Aber vorerst »rief der Film«, wie es in den Schauspieler-Biographien früher hieß, als es noch einen deutschen Film gab.
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Wenzel Lüdecke und die Interwest-Film

Wie der Zufall so spielt, traf ich bei Wolfgang Menge in der Babelsberger Straße Gerd Nickstadt, der seinen Namen später den Nick Men Shops lieh. Mitte der fünfziger Jahre arbeitet er als Dramaturg bei Wenzel Lüdeckes Interwest-Film.

Damals war die Qualitätsmarke »Berliner Synchron - Wenzel Lüdecke« noch nicht so bekannt wie heute, da keine Stunde vergeht, ohne daß sie am Ende eines Spielfilms über den Bildschirm flimmert.

Wolfgang sagte: »Tremper ist der richtige Mann für euch!« Und Gerd Nickstadt fragte: »Bist du schwul?« Ich sagte: »Gott soll schützen!« Er sagte: »Macht nichts!«

Und fuhr gleich mit mir nach Lankwitz raus, wo Lüdecke in den Räumen der Mosaik-Film in der Mühlenstraße mit seiner Synchronfirma und seiner Spielfilmproduktion saß.

Wenzel war ein schmales Handtuch von Mann, der sich Fremden gegenüber sehr verschlossen geben konnte, aber auf jedes direkte Wort ansprang. Wenn er lachte, entwickelte er einen unglaublichen Charme, und ich glaube, wenn ich so zurückdenke, daß ich ihn von Anfang an mehr zum Lachen als zum Ärgern brachte.

Jetzt nochmal : »Bist du schwul?«

Vielleicht weil ich, in Unkenntnis der Verhältnisse, den »schwulen Nick« dauernd frozzelte -»Was kannst'n du, was ich nicht kann? Worauf bist'n du so stolz, Mann?« - und auf Wenzels Einwand, schwul sei er auch, herausplatzte: »Sie doch nicht!« Worauf er zum erstenmal lachte und dann aus dem Lachen gar nicht mehr herauskam.

Er war wirklich der Untypischste aller Schwulen, hielt sich stets bedeckt und liebte die Gesellschaft schöner junger Frauen - auch älterer, natürlich. Als ich Wenzel schon lange, lange kannte und langsam in den Kreis der »ältesten Freunde« vorrückte, fragte mich Romy Schneider einmal geradeheraus: »Ist er's nun oder ist er's nicht?«

Sie war zu Synchronarbeiten in Berlin und hatte ihren Mann Harry Meyen als Regisseur nicht durchsetzen können, vielleicht auch schon nicht mehr wollen; es muß Anfang der siebziger Jahre gewesen sein.
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Romy Schneider wollte es auch wissen

Wir hingen den ganzen Nachmittag in Wenzels schönem Haus im Grunewald herum, Romy schweinigelte mal wieder, was das Zeug hielt - und Wenzel hielt mit. Und als er mal rausging, da fragte sie mich.

»Ach, Quatsch«, antworte ich, »der kann beides!« Worauf sie in ihrem Zimmer verschwand - sie wohnte bei Wenzel, in diesem Seitenflügel, den er für Horst Buchholz gedacht hatte - und barfuß wiederkehrte, mit nichts als einem seidenen Morgenrock an.

»Wolltest du nicht gehen?« fragte sie mich, aber der Hausherr widersprach, plötzlich nervös: »Wir essen doch noch zusammen zu Abend!« Ich ging und sagte zu Wenzel, der mich zur Gartentür brachte: »Jetzt bist du fällig!« Er zeigte mir einen Vogel: »Die ist doch nur besoffen!«

Als ich ihn ein paar Tage später wiedertraf, verdrehte er die Augen und nickte seufzend. Romy hatte ihn geschafft. Nicht, daß sie »nichts anbrennen« ließ, wie die Berliner sagen, nein, sie wollte, wie so viele Damen in Gesellschaft eines schönen Mannes, sich nur beweisen: Bei mir ist er nicht schwul!

Sie hatte die Dreißig überschritten, das war's. »So«, würde Wenzel an dieser Stelle sagen, »und nun wollen wir auch nie wieder davon reden!« Im Gegensatz zum extrovertierten Nickstadt konnte Wenzel den Mund halten, war ein Muster an Seriosität.
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Wenzel und Heio

Selbst die schurkischsten Filmmenschen rühmten sich, mit Wenzel nur per Handschlag Verträge gemacht zu haben. Dabei hatte er eine buntere Vergangenheit als so mancher Hochstapler.

Sein Vater war ein Potsdamer Rittmeister, der wegen einer Affäre mit einer verheirateten Frau den bunten Rock ausziehen mußte und Kunstmaler wurde.

Wenzel, der jüngste von drei Kindern, ging eines Tages einfach nicht mehr in die Schule (»ach, du auch?«) und verdingte sich in Stendal beim Theater, wurde anschließend Aufnahmeleiter bei der Filmproduktion von Ernst von Wolzogen am Kurfürstendamm und wäre wahrscheinlich auch noch vor der Kamera gelandet, wenn er 1938 nicht die Einberufung zum Arbeitsdienst erhalten hätte - der offenbar nur geschaffen worden war, um jugendlichen Bohemiens »die Hammelbeine langzuziehen«.

Wenzels bester Freund damals wurde Heinrich (Heio) Graf von Einsiedel, ein Urenkel Bismarcks und ebenfalls einer aus der Potsdamer Gardeclique, Sohn auch eines Rittmeisters, Stiefsohn eines Generals, und der wußte sogar, wie man den ordinären Arbeitsdienst umging: sich freiwillig zur Wehrmacht melden, dabei konnte man sich noch die Waffengattung aussuchen.
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Beide auf der Suche nach dem gemeinsamen Erlebnis

Der junge Autonarr Wenzel meldete sich zu den Panzern, Heio wurde Jagdflieger. Und Wenzel fiel gleich unangenehm auf, als er seinen Sportwagen neben dem Wagen seines Generals vor dem Kasernentor in Lichterfelde parkte. Obwohl er, wie Einsiedel, einflußreiche Freunde oder Verwandte im Heerespersonalamt hatte, gelang es ihm nie, mit Heio zusammen an einem Ort stationiert zu werden.

Als Wenzel seinen Panzer durch Polen steuerte, flog Heio über dem Westwall Patrouille. Als Wenzel gegen Frankreich fuhr, lag Heio vor Berlin. Als Heio sich bemühte, auch nach Frankreich verlegt zu werden, wurde Wenzel an die Ostfront beordert, der Rußlandfeldzug begann.

Seine verständlichen Versuche, sich noch zu drücken und im Westen, bei Heio, ein Pöstchen zu ergattern, kreuzten sich mit Heios unverständlichen Bemühungen, von Paris nach Rußland versetzt zu werden. Für diese jungen Burschen war der Krieg ein einziges Abenteuer, dem nur etwas fehlte - »das Wichtigste!«, wie Wenzel betonte -, und das war das gemeinsame Erlebnis.

Wenzel konnte feuchte Augen bekommen, wenn er in der Frontzeitung las, daß Heio in seiner ME 109 erfolgreich Geleit beim Durchbruch der Schweren Kreuzer »Gneisenau« und »Scharnhorst« durch den Ärmelkanal geflogen war.
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Das Erlebnis mit den Russen im Kornfeld

Während Heio nur zu gern dabeigewesen wäre, als Wenzel, der Unheldische, das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen bekam:

Gleich in den ersten Sturmwochen des Rußlandfeldzuges war der zierliche Wenzel, in seinem Aufklärungspanzer stehend, stundenlang hinter fliehenden Sowjets hergeprescht, während ein menschliches Bedürfnis ihn quälte, daß ihm die Augen aus dem Kopf zu quellen begannen. Aber er traute sich nicht, anzuhalten und zu pinkeln, denn sein Kommandeur rollte in Sichtweite neben ihm.

Endlich kam er aus einem »endlosen Wald« heraus und sah ein riesiges Kornfeld vor sich. »Ich befahl Halt und kletterte mit letzter Kraft aus meinem Turm, stellte mich auf den Bug des Panzers, machte die Hose auf und - aaahhh! Was für ein göttliches Gefühl!«

Und da erhoben sich mehrere tausend Russen auf einmal aus dem Kornfeld, und mein Wenzel dachte nur noch: Was für ein schöner Tod! Sein Kommandeur schrieb in den Antrag für die Ordensverleihung: »Lüdecke erwies sich als außerordentlich kaltblütiger Soldat und hörte nicht auf, seine Notdurft zu verrichten. Daraufhin hoben die Russen die Hände und ergaben sich!«

Daß Wenzel sich in die Hosen gemacht hatte, erfuhr der Kommandeur nie.
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In sowjetische und amerikanische Gefangenschaft

Erst 1942 gelang es den Freunden im Heerespersonalamt, Wenzel mit einem Sonderauftrag aus Rußland heraus und nach Westen zu dirigieren. Leider waren zur selben Zeit auch Heios Freunde im Luftwaffenamt erfolgreich und schickten ihn nach Rußland, wo er, gerade mal 21 Jahre alt, nach 35 Luftsiegen im August 1942 über Stalingrad abgeschossen wurde und in sowjetische Gefangenschaft geriet.

Indessen Wenzel in Rom einen Filmtrupp zusammenstellte und zu Rommel nach Afrika geschickt wurde, wo er in Tunis, im Mai 1943, mit den Resten des Afrika-Korps in amerikanische Gefangenschaft wanderte.

Er wurde nach Amerika transportiert und lötete bis Kriegsende in Kansas Ananasbüchsea »Du kannst dir meinen Schock vorstellen, als ich eines Tages ein Foto von Heio auf der Frontseite der >New York Times< entdeckte!«

Der Leutnant Heinrich Graf Einsiedel war von jenem Oberst Sergej S. Tulpanow, der nach dem Krieg in Ost-Berlin eine böse Rolle spielte, als Urenkel Bismarcks im Gefangenenlager identifiziert und psychologisch bearbeitet worden.

Auf dem Foto, das Wenzel sah, saß das Milchgesicht Heio als Gründungsmitglied des »Nationalkomitees Freies Deutschland« mit ernster Miene in Krasnogorskij bei Moskau neben den hartgesottenen Stalinisten Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und Wilhelm Pieck am Präsidiumstisch und tönte: »Für Volk und Vaterland! Gegen Hitler und seinen Krieg! Für sofortigen Frieden! Für die Rettung des deutschen Volkes! Für ein freies, unabhängiges Deutschland!«

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