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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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Die frühen Fünfziger

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Fritz Kortners "kleiner Johann" .......

Gleich nach seiner Rückkehr aus den USA noch im Sommer 1949, forderte Curt Riess mich auf, ihn auf einer Reise quer durch Deutschland zu begleiten; er sollte einen »Schnellschuß« über den Zustand der Westdeutschen am Vorabend der Gründung der Bundesrepublik produzieren.

Es muß Anfang August 1949 gewesen ein, als ich im Bayerischen Hof in München zu ihm stieß, denn er war vorausgereist zu den Salzburger Festspielen, die wohl zum erstenmal nach dem Krieg wieder stattfanden.

Die Vorderfront des schönen Hotels von Falk Volkhardt lag in Trümmern, nur die Rückseite in der Prannerstraße war behelfsmäßig wieder in Betrieb genommen worden.

Ich bekam ein winziges Zimmerchen und erfuhr erst, als wir weiterreisten, daß es »Chauffeurszimmer« genannt wurde, woran nur zu bedauern war, daß ich den tollen englischen Zweisitzer nicht steuern durfte, den Riess irgendwo requiriert hatte: ein flacher, breiter Morgan mit einem dicken Lederriemen über der Motorhaube.
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Eine beachtliche Anzahl deutscher Emigranten kennengelernt

Durch Riess lernte ich in der knappen Woche, die wir in München verbrachten, eine beachtliche Anzahl deutscher Emigranten kennen, die nach der Währungsreform »neugierig und versuchsweise« in die alte Heimat zurückgekehrt waren, also noch nicht Remigranten genannt werden konnten.

Das waren Fritz Kortner und Robert Siodmak, Erich von Stroheim und Fred Zinneman, Douglas Sirk, Max Ophüls, Michael Curtiz, Peter Lorre, Erich Pommer - ich traue mich gar nicht, noch weitere Namen aus dem Gedächtnis zu kramen.

Es ist heute schwer vorstellbar, daß ich all diese berühmten Herrschaften - und eine ganze Reihe heimischer dazu - innerhalb von wenigen Tagen in diesem Hotel oder mittags im »Opern-Espresso« von Martin Katz und nachts in der »Heinz-Bar« kennengelernt haben will, aber so muß es gewesen sein.

Halb Hollywood hockte damals in der Behelfshalle des Bayerischen Hofes herum, Falk Volkhardt sei mein Zeuge!
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Curt Riess war der Mittelpunkt - ich wurde erstmal übersehen

Natürlich sprach kaum einer mehr als drei Worte mit mir, dem Zwanzigjährigen in der Lederjacke, aber Riess stellte mich jedem vor und vergaß nie hinzuzufügen, daß ich »der einzige wirkliche Werwolf« gewesen sei, ein »richtiger Nazi-Hitlerjunge«, was sogleich das größte Interesse - bei dem einen oder anderen auch Abscheu - erregte, denn die Emigranten machten die wundersame Erfahrung, daß schon im vierten Jahr nach dem Krieg kein einziger »Nazi« mehr in Deutschland zu finden war.
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War das nicht ein Spruch von Goebbels :

»Waren alle im Widerstand!« knarzte Kortner und ernannte, in Ermangelung leibhaftiger Parteigenossen, die Autos der Firma Daimler zu »Nazis der Landstraße«. Ich hätte Kortner helfen können, jede gewünschte Menge »Nazis« - oder eifrige Mitläufer - zu identifizieren, aber in Abwandlung des Lueger-Wortes »Wer Jude ist, bestimme ich!« hatte auch er längst differenziert:

Wer »Nazi« war, bestimmte Kortner. - Sonst hätte er nicht, als er später im Residenztheater inszenierte, tagtäglich mit dem Kritiker Walter Kiaulehn in der Kantine zusammensitzen können.
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Walter Kiaulehn war ein Erz-Nazi - aber nicht für Kortner ???

Kiaulehn hatte sich bereits im Sommer 1945, bei meinem ersten Besuch in München, als meine größte, ganz persönliche Enttäuschung entpuppt.

Der große Journalist hatte Ende 1944, Anfang 1945 in einer der letzten Ausgaben der prächtigen Vierfarb-Illustrierten »Signal« einen echten Durchhalteartikel geschrieben, der meine Zweifel an unserem Endsieg, wenn auch nur vorübergehend, verscheuchte:

»An mir vorbei marschieren immer neue, junge strahlende Volksgrenadierdivisionen...«, hatte es da unter »PK-Walter Kiaulehn« in einem Bericht »aus dem Straßengraben bei Köln-Volksdorf« geheißen.

Ich habe das nie vergessen, hatte auch vorher noch nie von einem Kölner Ortsteil dieses Namens gehört. Und im Sommer 1945 dann wanderte ich durch die Ruinen der Maximilianstraße und sah, daß schon wieder ein Kabarett eröffnet hatte, unter den Mitwirkenden: Walter Kiaulehn!

Ich bekam keine Karte mehr für die Abendvorstellung, schlich mich aber eine halbe Stunde nach Beginn an eine der Saaltüren und öffnete sie einen Spalt - auf der kleinen Bühne marschierte, neben anderen, mein Held in altem Preußenblau, mit einer Pickelhaube auf dem Kopf, im Kreis herum und sang ein Couplet von Erich Kästner oder Kurt Tucholsky über den deutschen Militarismus. Bäh -!
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Mein Gott, die Freundin von Maggie Higgins!

Kortner drehte in München gerade unter der Regie von Josef von Baky den Emigrantenfilm »Der Ruf« und hatte nicht seine Frau Johanna Hofer, sondern eine aparte junge Amerikanerin bei sich, als ich ihm vorgestellt wurde.

Sie kam mir irgendwie bekannt vor, und ihr ging es offenbar ähnlich, denn sie fragte mich »How have you been...?« Was doch eindeutig »Wie ist es Ihnen ergangen?« hieß. Ich stotterte verlegen etwas herum und faßte mir erst ein Herz, als ich sie am nächsten Tag erneut mit Kortner sah, diesmal in einer dunklen Ecke des Hotels »Vier Jahreszeiten«.

Da ging ich forsch auf Kortner und die Amerikanerin zu und rief: »How are you, Mister Kortner? Haben Sie Mister Riess gesehen?« Er guckte mich zweifelnd an und antwortete kopfschüttelnd: »Seh ich aus wie einer, der Riess sieht?« Er schien meinen Chef nicht zu mögen; ich rettete mich in die Erklärung, daß »Mister Riess« mich ihm gestern im Bayerischen Hof vorgestellt habe, und da die Amerikanerin »Surely!« rief und mich wiederum anstrahlte, blieb ihm nichts anderes übrig als sie vorzustellen: »Miß Rosemary Murphy!« sagte er und setzte, ein bißchen wichtigtuerisch, hinzu: »Die Tochter des Botschafters Murphy...!«

Fritz Kortner brüllte »Oh, shut up, Rosie!«

Mein Gott, die Freundin von Maggie Higgins! Sie reichte mir die Hand und fragte gleich, ob Maggie noch in Berlin wäre. Dann lud sie mich ein, einen Sessel heranzuschieben und bei ihnen Platz zu nehmen - und sprach lachend die merkwürdigen Worte:

»Say hello to Mister Kortner's little Johann!« Wenn Kortner sie nicht im gleichen Augenblick ungewöhnlich scharf angeherrscht hätte: »Oh, shut up, Rosie!«, hätte ich mich vielleicht nach einem Hund umgesehen. So aber bekam ich keine Gelegenheit mehr, mich zu ihnen zu setzen. Der große Regisseur erhob sich wütend und stampfte davon, Rosemary Murphy eilte ihm nach.
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Rosemary Murphy klingelte eine halbe Stunde nach Mitternacht

Eine halbe Stunde nach Mitternacht klingelte das Telefon bei Riess im Zimmer, und Rosemary Murphy verlangte dringend seinen jungen Mann zu sprechen.

Riess, der sofort Unrat witterte, verbarg seine Enttäuschung, daß die Tochter des bekannten Ambassadors nicht ihn zu sprechen wünschte, erhob sich vom Bett, auf dem er sich gerade erst ausgestreckt hatte, zog seinen Morgenrock an, lief den ganzen dunklen Hotelflur hinunter, stieg die Treppen hoch und bummerte an meine Chauffeurzimmer-Tür.
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Curt Riess - neugieriger als jede Schwiegermutter

Auf dem Weg zurück in sein Zimmer hätte er mich beinahe geschlagen, um zu erfahren, wie ich »zu der Murphy« käme oder sie zu mir; er war neugieriger als jede Schwiegermutter.

Ich konnte ihm nur verwirrt antworten, ich wüßte überhaupt nichts. Dann stellte er sich direkt neben mich, preßte sein Ohr mit an die Muschel und hörte mit. Das erste, was er hörte, war Rosemarys Frage, ob Riess mithöre.

Nein, log ich, er ist im Badezimmer. Dann entschuldigte sie sich für Kortners unhöfliches Benehmen - »He's just like that, you know!« - und wurde vertraulich, um nicht zu sagen intim.
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Ein Bericht über Kortners Intimitäten

Die Augen von Curt Riess wurden immer größer, als er hörte, der berühmte Kortner habe die Angewohnheit, jede Dame, die ihm gefiele, in eine dunkle Ecke in der Halle des »Vier Jahreszeiten« zu bestellen, zur Begrüßung ihre Hand zu ergreifen und sie auf seine nackte Rübe zu drücken, die er heimlich aus der Hose geholt hatte: »Say hello to my little Johann!«
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Riess führte einen wahren Veitstanz vor Begeisterung auf, ergriff Block und Papier und warf schnell die Worte drauf:

Warum erzählt sie dir das - ? Er genoß solche Enthüllungen über Prominente. Ich aber hütete mich, Rosemary Murphy noch mit Fragen zu bedrängen, denn aus der vertraulichen Art und Weise ihrer Erklärung konnte ich mir plötzlich ein Bild machen - sie hielt mich für einen der flüchtigen Liebhaber ihrer promiskuitiven Freundin Maggie.
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Der alte Riess war eifersüchtig - auf den jungen Tremper

Auch Riess schien so etwas zu ahnen, denn als Rosemary endlich aufgelegt hatte, begann eines dieser schlimmen Verhöre, denen er mich gelegentlich aussetzte, eine stundenlange Quatscherei über die Higgins und die Murphy.

Woher ich die kenne, wollte er wissen, und als ich ihm so yeu a peu von meinen Begegnungen im U.S. Press Club erzählte und von dem Interesse, das Maggie Higgins an mir nahm, war er auch noch beleidigt, daß ich »Geheimnisse« vor ihm hatte: »Ich hätte große Lust, Sie auf der Stelle wieder nach Hause zu schicken!« Eine Drohung, die mich schon lange nicht mehr beeindruckte.

Die ganze skurrile Geschichte um Kortners »kleinen Johann« wäre nicht der Erwähnung wert, wenn sie nicht auch noch einen politischen Aspekt bekommen hätte, und wiederum durch Curt Riess - ausgerechnet Riess!
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Riess der Sexualforscher

Auf der schon nicht mehr ganz so gähnend leeren Autobahn nach Frankfurt/Main fing er lauthals an, den Sexualforscher zu spielen; wir fuhren offen und gemütlich, höchstens 80 km/h.

Das sei einerseits typisch für gewisse jüdische Emigranten, andererseits nur allzu verständlich, so erzählte er genüßlich dem »Nazi-Hitlerjungen« neben sich. Mit dieser sexuellen Provokation rächten sich die Juden an Hitlers »Arierinnen«, aus ihrer Demütigung zögen sie »höchsten Lustgewinn«, abgesehen davon, daß ihre Entblößung eine Form von »Alterssex« sei und eine intellektuelle »Ersatzbefriedigung«, wie Freud bereits erkannt habe, »für nicht mehr können«.

Ich faßte mir an den Kopf und rief: »Aber Rosemary Murphy ist doch keine >Arierin< im Sinne Hitlers! Das ist doch eine Amerikanerin!« Ein Argument, das er großzügig beiseite wischte: »Ach, das spielt doch keine Rolle nicht! Das macht er speziell mit blonden deutschen Schauspielerinnen, glauben Sie mir, Tremper! Daß da auch mal eine Amerikanerin dazwischengerät, ist reiner Zufall!«

Curt Riess maß mit zweierlei Ellen - ab jetzt eine Haßliebe

Meine Beziehung zu Curt Riess, ohnehin durch Haßliebe geprägt, geriet auf dieser Autofahrt nach Frankfurt auf einen absoluten Tiefpunkt. Diese Interpretation Kortners kam von einem Mann, der vor meinen Augen in Berlin am laufenden Band exerzierte, was er Kortner vorwarf: die Demütigung von Schauspielerinnen, die im Dritten Reich tätig gewesen waren!

Gleichzeitig förderte sein Geschwätz mein Verständnis für gewisse intellektuelle Juden: Riess merkte gar nicht, daß er über sich selbst sprach, als er Kortner auseinandernahm.
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Der Brief von einem gewissen Adorno in Frankfurt ....

Jahre später saß ich bei einer Freundin in Schwabing im Bad, und mein Blick fiel auf einen viele Seiten langen, handgeschriebenen Brief, den sie direkt vor mir auf dem Wäschekorb liegengelassen hatte.

Auf der Klobrille habe ich grundsätzlich alles gelesen, was mir vor die Augen kam. Der Brief war von einem gewissen Adorno in Frankfurt und die pubertärste Pornographie, in der allerdings auch ein paarmal das Wort Auschwitz vorkam.

Ich hätte ihn einstecken und Sotheby's zur Versteigerung überlassen sollen. Damals in Schwabing dachte ich nur: Wie blöde muß ein Mensch sein, der so was zu Papier bringt, eine Briefmarke draufklebt und in die Welt hinausschickt! Wie lebensfremd, zumindest.
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Und Riess behielt in Sachen Kortner natürlich recht.

Keine drei Jahre vergingen, da vertraute mir eine Berliner Schauspielerin an, sie sei von Fritz Kortner »zum Kennenlernen« in die Mampe-Stuben am Kurfürstendamm bestellt worden, wo er ganz hinten in einer dunklen Ecke gesessen, ihre Hand genommen und gesagt habe: »Begrüßen Sie auch meinen kleinen Gustav!« Und in den sechziger Jahren war es meine Freundin Christiane, und wieder in den Münchner »Vier Jahreszeiten«. Da nannte er seinen »kleinen Johann« Wilhelm.
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Als ich Kästner vom »Werwolf« erzählte

Noch eine Begegnung in der provisorischen Halle des Bayerischen Hofes ist mir unvergeßlich geblieben; ich verdanke sie Erich Kästner. Den hatte Riess-Freund Hans Habe mitgebracht, damals Chefredakteur der amerikanischen »Neuen Zeitung« in der Schellingstraße.

Auf Kästner war ich ganz wild, denn ich hatte seinen »Fabian«, der im abgeschlossenen Teil des Bücherschrankes meines Vaters stand, schon mit zwölf Jahren gelesen, und nach dem Krieg natürlich auch alles andere, was Rowohlt neu von ihm herausbrachte.

Als Curt Riess ihm den »Werwolf« vorstellte, wurde Erich Kästner, der bei Habe das Feuilleton redigierte, ganz neugierig und ließ sich von mir erzählen, wie ich das Kriegsende überstanden hätte. Er sprach davon, daß er ein Buch über die »Enderlebnisse« seiner Zeitgenossen schreiben wollte.

Für Kästner war ich zeitlebens der kleine lebende Werwolf

Das hat er leider nicht getan, oder vielmehr nur über seine eigenen Erlebnisse berichtet, sonst wäre ich noch in die Literatur eingegangen.

Kästner trieb sich mit Vorliebe nachts in Münchner Striptease-Lokalen herum und ließ »Schampus« für die Mädchen auffahren. Jedesmal, wenn ich in späteren Jahren in eines dieser Etablissements geriet, habe ich ihn getroffen, und er hat mich regelmäßig mit dem Ruf »Hallo, Werwolf!« begrüßt.
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Mein Freund PEM - Paul Erich Markus

Im Bayerischen Hof stellte er mich wiederum einem kleinen, schmächtigen, aber immer noch ganz drahtigen Ex-Berliner aus London vor, den alle nur »Pemchen« nannten.

Das "PEM" setzte sich aus seinem Namen "Paul Erich Markus" zusammen, denn schon vor 1933, als Reporter des »12-Uhr-Blattes«, nannte er sich nur PEM.

Und als solcher war er erst nach Wien, dann nach London emigriert und hatte angefangen, einen monatlich erscheinenden, hektographierten Pressedienst »PEM's PERSONAL BULLETIN« herauszubringen.
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Etwas ganz Besonderes : "PEM's Personal Bulletin"

Der machte sich um den Zusammenhalt der über alle Erdteile verstreuten Emigranten verdient, indem er Kunde gab, daß die erfolgreiche junge Schriftstellerin Joe Lederer (»Das Mädchen George«) jetzt als Kellnerin in Shanghai arbeitete, Billy Wilder Paris verlassen habe, um in Hollywood sein Glück zu versuchen, Salka Viertel ein Drehbuch für Greta Garbo
schreibe und Kurt Gerron in Holland Disneys »Schneewittchen und die sieben Zwerge« synchronisiere.

Bis zum Krieg spuckte PEM's Vervielfältiger schon zweitausend Exemplare monatlich aus, und nicht nur Berliner Emigranten hatten sich angewöhnt, jede Veränderung ihres Status nach London zu melden.

Die am aufmerksamsten gelesene Rubrik in dem vierseitigen blauen Bulletin hieß: PPB regrets to report ... PPB bedauert mitteilen zu müssen ... Und dann kamen die Namen der Verblichenen.

Bis am 1. Mai 1972 die letzte Ausgabe Nr. 1532 erschien, mit dem »PPB regrets to report the death of PEM«, das er vorsorglich selbst verfaßt hatte. Es hängt in meinem Arbeitszimmer an der Wand, denn ich bin natürlich sofort Abonnent geworden, damals, im August 1949 in München.
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Sam Spiegel und ein Hollywood-Schnokus nach dem anderen

Ich weiß nicht mehr, ob ich die komische Geschichte mit PEM und dem großen Hollywoodproduzenten Sam Spiegel (»The African Queen«, »River Kwai«, »Laurence of Arabia«) bei meinem ersten Besuch im Bayerischen Hof erlebt habe oder ein paar Jahre später, auf jeden Fall spielte sie sich in der behelfsmäßigen Hotelhalle an der Rückseite ab:

Da thronte Sam Spiegel, der ehemalige ungarische Kavallerieoffizier, im breitesten Sessel, mit der dicksten Zigarre zwischen den Zähnen, inmitten einer Runde illustrer Filmpersönlichkeiten und erzählte hochamüsant, aber endlos, einen Hollywood-Schnokus nach dem anderen.

Es war wie bei den legendären russischen Puppen: Aus einer Geschichte kam die andere heraus. Und Pemchen, der sie alle längst kannte, mußte dringend mal für kleine Jungs, traute sich aber nicht, einfach aufzustehen und wegzugehen, sondern wand und krümmte sich, bis er es nicht mehr aushielt, aufsprang und quer durch die Halle rannte, auf das diskrete Leuchtschild zu.

Da fuhr Sam Spiegel, der kleine Dicke, mit einem markerschütternden »Stop that!« aus seinem Sessel empor. PEM blieb, wie vom Blitz getroffen, stehen, der große Hollywoodproduzent winkte ihn mit einer herrischen Geste zu sich, schritt zur Rezeption, mietete für die heute bescheidene Summe von 120 DM ein Zimmer, überreichte dem zitternden Notleidenden den Schlüssel und sagte: »Sie werden doch nicht auf eine öffentliche gehen!« Woraufhin sich, fürchte ich, alle Zuhörer vor Lachen in die Hosen gemacht haben.
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PEM ließ mich warten - wegen Kortner

PEM war ein Lieber und ein Treuer. Er hat mich in all den Jahren, bis zu seinem Tod, regelmäßig in Berlin besucht und mir anstandslos sein »PPB« geschickt, auch wenn ich mal nicht bezahlt hatte.

Seine beiden Bücher »Stranger's Everywhere« und »Heimweh nach dem Kurfürstendamm«, das er in den fünfziger Jahren bei Lothar Blanvalet in Berlin herausbrachte, verleihe ich nicht einmal an meine engsten Freunde, wegen der Widmungen »Meinem Freund und Kollegen...«

Mitte der sechziger Jahre war ich mit ihm im Kempinski-Grillroom verabredet, aber er ließ mich warten, und als er endlich auftauchte, war er völlig fassungslos.

»Kortner hat mich aufgehalten!« entschuldigte er sich. Kortner hatte endlich wieder mal bei Barlog zugesagt, ein großes, ein riskantes Unternehmen auf die Bühne des staatlichen Schiller-Theaters zu stellen - riskant nicht wegen Martin Held als »Macbeth«, sondern wegen der verwegenen Idee des 73 jährigen Regisseurs, die seelenvolle Elisabeth Bergner mit der Rolle der blutdürstigen Lady Macbeth zu betrauen.

Sehenden Auges in die Katastrophe

Generalintendant Boleslav Barlog ergriff bei Probenbeginn sogleich die Flucht in einen wohlverdienten Urlaub, aber die Akteure erlebten schon am ersten Tag das Fiasko, für das die Wetten 100:1 standen.

Die damals auch schon 68 Jahre alte Elisabeth Bergner, vor 1933 eine grandiose Viola und Heilige Johanna, war wohlvorbereitet aus London eingetroffen und eröffnete in rührender Einfalt dem brachialen Regisseur, daß sie sich eine »eigene Auffassung« der Rolle erarbeitet habe, wozu sie eine komplett vollgekritzelte Klorolle aus ihrer Handtasche holte.

Martin Held sagte mir später, er habe sich in Magenkrämpfen gewunden, aber die behielt Fritz Kortner sich selbst vor: Er verließ einfach die Probenbühne, ohne ein Wort der Erklärung, fuhr ins Kempinski, zog sich aus und legte sich ins Bett.

Ich lachte mich kaputt, als PEM, den er in der Halle getroffen und mit aufs Zimmer genommen hatte, mir vormachte, wie Kortner sich ins Bett legte: Er zog eigenhändig das Laken ab, breitete seine Hose auf Bügelfalte über der Matratze aus, zog das Laken wieder drüber und legte sich, wie weiland die Rekruten des deutschen Militärs, als lebendes Bügeleisen obendrauf.

Martin Held, der ihm vom Theater gefolgt war, wo er erst noch versucht hatte, der verehrten Kollegin Bergner zu erklären, was nicht zu erklären war, raufte sich die Haare und lief dauernd vor dem Bett auf und ab, sein Idol anflehend, doch »etwas zu unternehmen!«. Kortners Antwort: »Warum? Mir ist die Bergner auf den Magen geschlagen. Ich bin krank. Soll sich ein anderer mit der Jüdin herumärgern...«

Kortner war schon alt und fast bösartig

Ich fragte PEM und später auch Held, ob er wirklich »Jüdin« gesagt habe; beide bestätigten es, wenngleich der Goy Held sich zierte, den Juden Kortner als Antisemiten zu denunzieren.

Ich mußte Martin Held seinen Kortner erst erklären: »Natürlich ist er kein Antisemit, nur ein böser alter Mann, der gern Gift versprüht. Ein Terrorist im Regiestuhl, der seine höchst persönliche Wiedergutmachung von den Deutschen einklagt.

Wissen Sie nicht, was Norbert Kappen in den Münchner Kammerspielen passiert ist? Der sollte den Wurm in >Kabale und Liebe< spielen, und als er sich weigerte, sklavisch genau Kortners Mimik nachzumachen, unterstellte ihm der, daß er sich in seiner deutschen >Offiziersehre< gekränkt fühle.

Worauf der Kappen antwortete, er sei nie Soldat gewesen, habe aber bei der Gestapo im Gefängnis gesessen. Wissen Sie, was Herr Kortner ihm daraufhin antwortete? Kortner antwortete: Nicht lange genug! Nicht lange genug!< - August Everding hat Kappen gefeuert, nicht etwa Kortner...«

Als Kortner dann gegen die Wand lief

Die Elisabeth Bergner hörte natürlich von der »Krankheit« Kortners, wollte aber nicht glauben, was so geredet wurde, und schickte ihm zehn Tage lang Blumen, Konfekt und Telegramme mit Genesungswünschen ins Kempinski, da sie telefonisch nicht verbunden wurde.

Als sie endlich begriff, was Kortner mit ihr spielte, verlor sie keine überflüssige Minute mehr, ließ sich ihre gesamte Gage von 38.000 DM (West) auszahlen und flog zurück nach London. Am nächsten Tag stand Fritz Kortner, genial wie immer und kerngesund, auf der Probenbühne und versuchte es mit Eva-Katharina Schultz, einer Dame des Ensembles, der nichts fernerlag als eine »eigene Auffassung« der Rolle.

Und zwei Tage später schmiß er dann endgültig alles hin, nachdem ihm klargeworden war, daß nur Maria Becker die Lady Macbeth spielen könnte, was ich und jeder andere ihm vorher hätte sagen können, doch die Becker bedankte sich und hatte »für Kortner keine Zeit«.
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Der »Verein der Kortner-Geschädigten« von Curt Riess

Curt Riess hatte in den 19fünfziger Jahren schon in Zürich einen »Verein der Kortner-Geschädigten« gegründet und Kortner selbst zum »Ehrenmitglied« ernannt. Auch ich beschloß nun, einen grundsätzlichen Artikel über Fritz Kortner zu schreiben, hatte ich doch in »Pemchen« einen erstklassigen Spion in der Nähe des großen Regisseurs.

Ich rief Henri Nannen an und machte mich ans Werk, jedoch der Fluch, den Kortner wieder einmal über Berlin und sein Staatstheater geschleudert hatte, erreichte offenbar auch mich:
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Der »Stern« druckte meinen Artikel nicht.

PEM rief mich jede Woche aus London an, wenn er wieder einmal umsonst ein ganzes Pfund für die Illustrierte ausgegeben hatte, und ich gab
es mit der Zeit auf, den zuständigen Ressortleiter des »Stern«, Wilfried Achterfeld, in Hamburg anzurufen, der mir unerschütterlich versicherte, daß der Kortner »ganz bestimmt« noch gedruckt werden würde.

Monate gingen ins Land, die Berliner Theater hatten längst andere Sorgen, und dann fand ich eines Morgens eine Postkarte im Briefkasten:
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Und dann ganz plötzlich - der Artikel stand im Stern

»Lüge! Lüge! Lüge! - Hochachtungsvoll - Ihr Boleslav Barlog« Was zum Teufel ... Ich blätterte den neuen »Stern« durch - nichts!

Aber nachmittags rief Herr Honsei an, der Friseur im »Vier Jahreszeiten« in München, und fragte aufgeregt, was ich mit Herrn Kortner gemacht hätte: »Der hat eine Illustrierte gelesen und auf einmal wütend weggeworfen - einem Kunden an den Kopf! Es war ein Eklat, sage ich Ihnen! Eine fürchterliche Szene, und dann ist der Herr Kortner weggerannt, ohne sich die Haare schneiden zu lassen!«

Ich stoppte meinen aufgeregten Friseur mit der Frage, was ich denn damit zu tun hätte. »Ja was«, höhnte der Herr Honsei, »weil Sie doch das geschrieben haben! Dieser Wicht! So hat der Herr Kortner gerufen, dieser Wicht erdreistet sich...«

Merkwürdig - nur in der Lesezirkelausgabe erschienen

Der »Stern«-Artikel war, gut abgelagert, doch noch erschienen, wenn auch nur in der Lesezirkelausgabe. Barlog und Kortner lasen den »Stern« also beim Friseur! Es kostete mich Mühe, von Wilfried Achterfeld ein Exemplar dieser Lesezirkelausgabe vom November 1965 zu erhalten und meinem neugierigen Pemchen nach London zu schicken.

Sonst schien kein Mensch in Deutschland mein Machwerk mit der Schlagzeile »Zerstört Kortner sich selbst?« gelesen zu haben. War ich froh.
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Zurück nach 1949 - auf der Autobahn Richtung Frankfurt

Wir fuhren also Richtung Frankfurt auf der Autobahn, Curt Riess und ich, und das nächste Verhängnis näherte sich in Gestalt der bedeutenden Bühnen- und Filmkünstlerin Käthe Dorsch, mit der Riess ein Techtelmechtel gehabt hatte, das beinahe zum Standesamt führte.

Die Dorsch schien eine leidenschaftliche Person zu sein. In Berlin hatte sie Wolfgang Harich - den mit den Sowjetsternchen am Weihnachtsbaum, der General Clay aufs Wagendach spuckte - wegen einer unliebenswürdigen Bemerkung in einer Theaterkritik in der »Täglichen Rundschau«, zum Gaudium der ganzen übrigen Presse- und Theaterwelt im Kulturclub »Die Möwe« geohrfeigt.

War das vor oder nach dem August 1949? Ich muß Harich fragen, der weißhaarig, rosig und munter den Zusammenbruch seiner DDR überstanden hat und in Berlin lebt, die Dorsch ist ja schon tot, und was Curt Riess angeht ...
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In der Trümmerstadt Frankfurt angekommen

Ich dirigierte ihn durch die Trümmerstadt Frankfurt zur Ruine der Alten Oper, das heißt, damals gab es ja noch keine neue, und pünktlich um ein Uhr mittags betraten wir so etwas wie einen Opernkeller, der sich als gepflegtes Restaurant entpuppte.

Riess schien aufgekratzter als sonst, beinahe aufgeregt, drückte mir 50 Mark in die Hand und bat mich um Verständnis dafür, daß er mit seiner »großen Liebe« allein essen wollte, ich sollte mir einen Tisch abseits suchen.
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Käthe Dorsch haut auch dem Riess eine runter ....

So sah ich nur von weitem, wie Riess mit ausgestreckten Armen auf Käthe Dorsch zusteuerte, die in einer hinteren Ecke allein an einem Tisch wartete - und wurde leider von einem Oberkellner genau in dem Augenblick abgelenkt, als sie meinem Chef die zweite, weniger populär gewordene Ohrfeige gab.

Es wurde totenstill in diesem Opernkeller, alles schaute auf die prominente Schauspielerin und den Mann, der vor ihr stand, aber Riess behielt die Fassung, und beide setzten sich und fingen an, ihre Bestellung aufzugeben.

Etwa eine Stunde haben sie zusammen gegessen, dann erhob sich die Dorsch, und ich eilte schon hinaus zum Wagen. Riess kam mir allein nach und lachte nur, war geradezu stolz darauf, daß sie ihn geohrfeigt hatte, und erzählte von Mißverständnissen, die es ihm gelungen sei auszuräumen. Von irgendwelchen Teppichen aus ihrer Wohnung in der Drakestraße in Lichterfelde sprach er, die er für sie verkauft oder nicht verkauft hatte, was weiß ich.
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Wie ich Riess ärgern konnte - und dabei viel gelernt hatte

Wir landeten im Hotel National am Hauptbahnhof, vielmehr ich landete dort, Riess stieg im Frankfurter Hof ab, wo es wahrscheinlich keine Chauffeurszimmer gab, doch als ich ihn am nächsten Morgen besuchte, konnte ich nicht an mich halten und rief: »Mein Zimmer im National ist doppelt so groß und viel eleganter eingerichtet! Sie haben ja nicht mal einen Schreibtisch!«

Ich wußte, wie ich ihn ärgern konnte. Er hatte einen Menschen aus dem Baltikum bei sich, der Rentz hieß und ein dramatisch rollendes »R« sprach, der deutsche Vertreter der Agentur Lukas in Zürich, die alle Zweitrechte der Arbeiten von Curt Riess in Europa vertrieb.

Zum erstenmal hörte ich ein Gespräch über Honorare und Prozente mit an, zum erstenmal sah ich überhaupt einen Agenten und war sogleich fasziniert von den zusätzlichen Möglichkeiten, die sich einem Autor eröffneten. Riess wollte mich wahrscheinlich beeindrucken, sonst hätte er mich nicht zuhören lassen; wenn dem so war, erreichte er mehr, als ihm lieb sein konnte.
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Am Ende war ich selbst mein bester Agent

Als Rentz gegangen war, rief Riess, mißtrauisch wie immer, durch die offene Badezimmertür: »Was haben Sie ihm denn da zugesteckt?« Keß antwortete ich: »Meine Adresse! Falls ich auch mal einen Agenten brauche!«

Darüber konnte er überhaupt nicht lachen, fing gleich an, mich zu belehren, daß ich noch fünf bis zehn Jahre brauchte, bevor ich mich als Autor selbständig machen könnte, ich hätte zwar eine »gewisse Begabung«, müßte aber noch »viel, viel lernen!«.

Zu meiner Überraschung fand ich, als wir nach Berlin zurückkehrten, bereits einen Brief des Herrn Rentz vor, in dem er mir, von dem er »Schmeichelhaftes« gehört hätte, seine Dienste anbot.

»Allerdings«, schrieb er, »halte ich es für angebracht, eine etwaige Zusammenarbeit nicht an die große Glocke zu hängea« Womit er Riess meinte. Ich folgte seinem Rat und bin in den kommenden Jahren mit Rentz nicht schlecht gefahren, bis ich herausfand, daß ich selbst mein bester Agent war.
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Dann Konrad Adenauer kennengelernt

Wir haben auf dieser Reise Dutzende von Gesprächen mit den unterschiedlichsten Leuten in Westdeutschland gehabt, aber in Erinnerung geblieben sind mir nur noch zwei: der Besuch bei diesem alten Mann Adenauer in Rhöndorf, bei dem ich achtzig oder mehr Stufen mit Riess emporsteigen durfte (wie konnte man nur so wohnen!), und der Besuch bei dem noch älteren Alfred Hugenberg in Lippe-Detmold.

Bei Adenauers mußte ich auf der Terrasse warten, während Riess für beinahe zwei Stunden im Haus verschwand, und sah den Hausherrn lediglich auf drei Meter Abstand, beim Abschied.

Ich nickte ihm zu, und Adenauer nickte zurück. Wahrscheinlich hielt er mich für den Chauffeur von Riess. Der machte mir Vorwürfe beim Hinabsteigen: »Man verbeugt sich zumindest! Adenauer war schließlich mal Oberbürgermeister von Köln, und jetzt ist er Präsident des Parlamentarischen Rates! Er wird zwar nie Kanzler werden - das wird Schumacher von der SPD! -, aber auch als Chef der Opposition verdient der alte Herr Respekt!«
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Bei Adenauer's 20 Tassen Tee an einem Nachmitag

Mir klopfte das Herz bis zum Hals, mir war schlecht, als wir all die Stufen in dem elend steilen Garten wieder hinunterstiegen. »Mann!« sagte ich zu Riess.

»Die schusselige Haushälterin hat mir mindestens zehn Tassen Tee gebracht, ich muß dringend mal schiffen!« Und ließ Riess vorangehen.

Bis wir endlich unten waren, mußte ich noch ein zweites Mal Wasser abschlagen. Riess lachte: »Haben Sie die etwa alle getrunken?« Ich gab zu, etwa die Hälfte der vielen Tassen Tee hinuntergeschüttet, die andere Hälfte in Adenauers Blumenbeete gegossen zu haben.

»Die Olle hat doch jedesmal einen kleinen Keks mitgebracht, und der war wirklich gut!« Ich bin seitdem Kaffeetrinker, starker Tee jagt mir den Blutdruck hoch.
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Riess und Gniffke und auch noch Georg Dertinger

In diesem verhältnismäßig unzerstörten Universitätsstädtchen Bonn, in welchem ich in einem fort warten mußte, bis Riess all die Leute, die er auf der Liste hatte, interviewen konnte, fanden wir nicht mal eine Bleibe, mußten spät nachts in Godesberg auf die Suche nach einer Pension stundenlang, wie es mir vorkam, herumirren.

Dort überraschte mich Riess am nächsten Morgen mit der Nachricht, daß wir sofort nach Frankfurt zurückfahren müßten. Er hatte plötzlich doch noch einen Termin bei Erich W. Gniffke bekommen, dem ersten abtrünnigen hohen SED-Funktionär.

Ich habe Riess und Gniffke, wie auch Riess und Adenauer und alle, die er traf, getreulich fotografiert, mußte ihm aber die Negative abliefern.

Da fällt mir noch einer ein, den ich nur allein fotografieren durfte: Georg Dertinger von der Ost-CDU, der noch im selben Jahr, als die DDR gegründet wurde, den Posten des Außenministers übernahm.

Er ließ sich vor einem Ruinenstück am Hauptbahnhof in Frankfurt ablichten, bat Riess aber, ihm keine Schwierigkeiten zu machen: »Was glauben Sie, was ich zu hören bekomme, wenn ich mit einem Amerikaner - und ausgerechnet mit Ihnen, Mister Riess! - zusammen veröffentlicht werde!«
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und dann auch Alfred Hugenberg mit 84 kennengelernt

Wir haben dann beide noch einmal im National am Frankfurter Bahnhof übernachtet und sind am nächsten Morgen über die Autobahn Gießen-Kassel nach Lippe-Detmold weitergefahren. »Was wissen Sie über Hugenberg?« fragte mich Curt Riess auf der Fahrt.

Ich sagte ihm, was ich wußte - Deutschnationaler, Scherl-Verlag, die UFA hatte ihm gehört -, und war er nicht auch mit Hitler im ersten Kabinett?

Riess griff sich an den Kopf: »Das ist alles, was ihr jungen Leute noch über Hugenberg wißt? Ohne Hugenberg«, behauptete er, »wäre Hitler nie an die Macht gekommen! Ohne seine Koalition mit der Deutschnationalen Volkspartei hätte ihn "der alte Herr" niemals eine Regierung bilden lassen! Hugenberg ist der wahre Schuldige am Unglück des deutschen Volkes!«

»Wer ist "der alte Herr" ?« wollte ich wissen. Da gab er mir, im Fahren, eine »Nuß«, so nannte er einen Schlag hinter
die Ohren, wozu er die Faust ballte und den gekrümmten Mittelfinger hervorstehen ließ, was weh tat. »Hindenburg, du Trottel!« schrie er.

Na, wenigstens der blieb uns erspart.

Wo haben wir den damals 84jährigen Alfred Hugenberg getroffen? Ich weiß es nicht mehr, jedenfalls nicht auf seinem Gut, sondern in einer dunklen Stadtwohnung, vielleicht in Detmold selbst. Ein Greis, der uns sitzend in einem hohen Lehnsessel empfing - diesmal durfte ich dabei sein! - und dem Curt Riess mit mindestens drei Verbeugungen die Hand reichte, ganz im Gegensatz zu dem, was er mir im Wagen über den »wahren Schuldigen« erzählt hatte Ich brauchte dem kleinen alten Mann die Hand nicht zu reichen, ich war der Fotograf.
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War das die griechische Tragödie ?

Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht viel mitbekam von dem etwa einstündigen Gespräch der Herren Riess und Hugenberg. Von Papen war die Rede, von Schleicher, von der Harzburger Front der Rechten gegen die Linke und vom »alten Herrn« natürlich.

Ich könnte mehr erzählen, aber ich fürchte, das habe ich dann aus dem Artikel, den Riess über sein Zusammentreffen mit Hugenberg diktierte. Nur so viel habe ich aus dem Mund Hugenbergs selbst gehört, daß es damals, im Januar 1933, »gar keine andere Möglichkeit mehr« gegeben habe, »wenn wir Demokraten sein wollten«, als Hitler an die Macht zu lassen.

Der Feind der Bürgerlichen und Nationalen stand links, und Hitler schien das »geringere Übel« zu sein. Das hat Alfred Hugenberg seinem Interviewer mindestens dreimal gesagt, während ich ständig den Atem anhielt, denn es war so dunkel im Zimmer, daß ich meinen 17-Din-Film mit einer Zehntelsekunde frei aus der Hand belichten mußte, was mir auch glänzend gelang; nur das Foto, auf dem sich Curt Riess neben Hugenberg stellte und »Keep Smiling« machte, ist verwackelt.

Mit seinem Text tat Riess sich schwer, hat den Artikel dreimal neu diktiert und schließlich weggeworfea »Eine griechische Tragödie«, sagte er, als wir weiter nach Hamburg fuhren.

»Was ist eine griechische Tragödie?« habe ich ihn gefragt und vorsichtshalber meinen Kopf vor einer weiteren »Nuß« in Sicherheit gebracht. Zu meinem Erstaunen antwortete er, eher elegisch als erregt: »Wenn du schuldlos schuldig wirst...«
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In den Erinnerungen von Klaus Mann eine ähnliche Szene

Jahre später las ich in den Erinnerungen von Klaus Mann eine ähnliche Szene, wie ich sie gerade bei Hugenberg erlebt hatte:

Da berichtete der unglückliche Sohn von Thomas Mann, wie er 1945 mit Curt Riess nach Garmisch fuhr, um den berühmten Komponisten Richard Strauss zu besuchen. Eine widerliche Szene sei das gewesen, weil der alte Hitler-Sympathisant nur darüber geklagt habe, daß man ihm Flüchtlinge in die große feine Villa eingewiesen hätte - am widerlichsten jedoch empfand Klaus Mann das Verhalten von Curt Riess.

Der sei nach dem Besuch noch einmal zurückgelaufen, um sich ein Autogramm von Richard Strauss - oder ein Foto mit Widmung - zu holen.

Wäre ich ein Opfer des Faschismus gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch die Nase gerümpft. So aber war ich auf der Weiterfahrt nach Hamburg beeindruckt von der Sachlichkeit, mit der Curt Riess »dem wahren Schuldigen am Unglück des deutschen Volkes« gegenübergetreten war. Der olle Hugenberg hatte ihn zweifellos irritiert.
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Curt Riess ala Käthe Dorsch - über die Ohrfeige

Aber nun genug von Riess - wollte ich gerade schreiben, da fällt mir ein, was voriges Jahr erst geschehen ist, als ich in der »Welt am Sonntag« ein paar Zeilen zu seinem 90. Geburtstag plazieren konnte.

Ich erwähnte da die Ohrfeige von Käthe Dorsch - und bekam prompt ein Telegramm der seit vielen Jahren nicht mehr unter uns Weilenden: »Habe Curt Riess nie geohrfeigt, eher ungekehrt - Käthe Dorsch«.

Aus dem Absendeort Forch-Scheuern bei Zürich ging hervor, wer der Schelm war, und ich schüttelte einmal mehr den Kopf über meinen alten Lehrmeister.

Offenbar erging es ihm schon so wie Charlie Chaplin, dessen Memoiren Ende der sechziger Jahre ein grandioser Mißerfolg wurden, weil er sich an nichts mehr zu erinnern wünschte, was ihm einmal unangenehm gewesen war. Memoiren, habe ich mir damals gesagt, sollte man nie erst im hohen Alter schreiben.
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